China durchs Schlüsselloch

Peking 2008 Dass Peking die westliche Pressefreiheit nicht kennt, ist keine neue Entdeckung

Es konnte nicht ausbleiben, dass auf die Olympischen Spiele ein allerletzter Schatten fallen würde. China wird nicht parlamentarisch regiert, soll es da vor den Augen der Welt gut dastehen? Die tibetanischen Unruhen, die von Protest begleiteten Fackelläufe waren nicht genug. Auch nicht, dass besondere Sicherheitsvorkehrungen für die Spiele getroffen wurden, was trotz der immer wieder beschworenen Terrorgefahr misstrauisch stimmte, weil es sich ja vielleicht in Wahrheit um Vorkehrungen gegen chinesische Dissidenten handelt. Falls jemand das nicht verstand, US-Außenministerin Rice hat es geduldig erklärt. Aber zwischen ihrer Erklärung und der Eröffnung der Spiele lag eine ganze Woche. Zeit genug, sich nochmals zu empören: China bietet den Journalisten, die aus aller Welt angereist sind, keinen freien Internetzugang.

Das verdient allerdings Kritik. Wenn ein Sprecher anfangs erklärte, es gehe doch um den Sport und da sei die Berichterstattung frei, war das nur peinlich. Die chinesischen Behörden erwarten zwar mit gutem Grund, dass viele westliche Reporter nur gekommen sind, um über die Knechtung der Dissidenten zu schreiben. Aber weil sie das ohnehin nicht verhindern können, hatte es gar kein Sinn, die untaugliche Waffe der Internetzensur einzusetzen. Vor allem aber, tun sie sich denn selbst einen Gefallen? Dass die strikte Kontrolle der Öffentlichkeit durch die kommunistische Partei der Stabilität des Landes dient, wird auch in der zugelassenen chinesischen Presse bezweifelt. Journalisten und Wissenschaftler weisen darauf hin, dass der offene Umgang mit Problemen, auch mit berechtigter oder bösartiger Kritik zuletzt mehr Stabilität einbringt als das Verschweigen und die Gerüchteküche.

Man darf annehmen, dass diese innerchinesische Kritik etwas bewegt, wenn auch langsam. Aber das ist es gerade: Dem Westen geht alles nicht schnell genug. Dabei muss man zwei westliche Schulen unterscheiden. Die eine will gar nicht, dass China Zeit genug zur Selbstentwicklung erhält. Statt sich entfalten zu können, soll es möglichst schnell in die Sackgasse rennen und dann auseinander brechen wie Jugoslawien und zur plötzlichen Übernahme des westlichen Modells gezwungen sein. Die andere Schule denkt nicht so feindselig, ihr fehlt nur das Verständnis. Die Chinesen sind doch Menschen wie du und ich, sie atmen wie wir, sie lieben wie wir - warum haben sie keine Presse wie wir, die vom Staat nicht zensiert wird? Dass es so etwas wie geschichtliche Ungleichzeitigkeit geben könnte, scheint diese Schule nicht zu wissen. Die ganze Welt soll jederzeit, wie in einer gigantischen Gleichung, vor derselben Wahl stehen, handle es sich um marktgängige Waren, Fernsehprogramme, Meinungsangebote oder Parteien.

Der heutige chinesische Staat setzt aber eine bestimmte Tradition fort. Statt jederzeit alle Schleusen zu öffnen, schätzt er so verständig, wie er kann, den Ort ein, an den er gelangt ist, und geht den nächsten Schritt. Es sollte sich von selbst verstehen, dass Kritik auf dieser Ebene und keiner anderen geübt wird, so eben, wie es die erwähnten chinesischen Journalisten und Wissenschaftler tun. Kritik kann sich also an der Frage entzünden, ob die Staatsführung den eigenen chinesischen Weg zögerlicher geht, als es möglich wäre. Aber das ist nicht der Gesichtspunkt des Westens. Da spielen sich beide Schulen in die Hände: Die eine tut, als ob es eine riesige Überraschung wäre, entdecken zu müssen, dass China in der vorolympischen Woche die westliche Pressefreiheit nicht kennt. Man wusste es vorher, aber jetzt wird es zum Thema gemacht, jetzt ist der Schaden für China am größten. Die andere Schule erkennt, dass die Beobachtung zutrifft, und stimmt in die Empörung mit ein. So hat der Kampf gegen China eine Massenbasis. Aber was ist damit gewonnen? Wer die Geschichte eines Landes durch das Schlüsselloch eines Augenblicks betrachtet, sieht vor allem die eigenen Skandalgier.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

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