Um unser Interesse durchzusetzen, brauchen wir Parteien, aber immer wieder enttäuschen sie uns. Das Problem ist bekannt genug: Eine Partei hat ein Parteiprogramm, das nur durchgesetzt werden könnte, wenn es die Zustimmung einer absoluten Mehrheit der Wähler fände; diese Kraft entfaltet es aber nicht. Und doch müssen die Abgeordneten der Partei, wollen sie nicht nutzlos im Parlament herumsitzen, zu regieren versuchen. Das heißt, sie müssen mit anderen Parteien koalieren. In einer Koalition einigt man sich auf die Realisierung einer Schnittmenge aller beteiligten Parteiprogramme. Aber erst einmal muss die Koalition überhaupt eine Mehrheit erhalten haben, die dann auch nicht gleich wieder verspielt werden darf. Die Erhaltung der Mehrheit in diesem doppelten Sinn setzt voraus, dass der Kampf um die Besetzung "der Mitte" geführt wird: Das sind die Grenzwähler, deren Koalitionsbindung am schwächsten ist; man muss aufpassen, dass sie nicht zur potenziell regierungsfähigen Gegenkoalition überlaufen. Dies ist eine Aufgabe der gesamten Regierungskoalition, sie wird aber von derjenigen Partei realisiert, die an die Mitte grenzt. Nennen wir sie die Grenzpartei: Sie hat offensichtlich den Schlüssel zum Erfolg in der Hand und ist damit die eigentlich regierende Partei, der sich die andern Koalitionskräfte nur maulend anschließen können.
Es fing damit an, dass eine Partei ihr Programm durchsetzen wollte. Die Partei jedoch, die sich der Grenzpartei angeschlossen hat, muss sich das abschminken; sie kann nur versuchen, das Grenzpartei-Programm, in dessen Realisierung sie eingespannt ist, ein wenig zu modifizieren. Aber die Grenzpartei selber kann ihr Programm nicht verwirklichen, eben weil sie die Mitte halten muss; sie muss Teile des Programms der möglichen Gegenkoalition in ihr Programm einschmelzen. Diese Mischung erst ist das Regierungsprogramm, an dessen Realisierung die Anschlusspartei mitwirkt. Man nennt es "das kleinere Übel". Anschlussparteien, beispielsweise die Grünen unter Bundeskanzler Schröder oder die Linkspartei im Berliner Senat, realisieren nicht ihr eigenes Programm, sondern ein "Übel", wenn auch das "kleinere".
Leere Namen
Letzten Endes läuft es darauf hinaus, dass sie nur noch darüber mitentscheiden, welche Grenzpartei der Mitte regiert. Es soll wenigstens die sein, die "links" von der Mitte ist. Bei diesem Stand der Dinge neigen selbst solche Anschlussparteien, die einmal um bestimmte Inhalte ihres Programms kämpften - ökologische, kommunistische -, dazu, sich vor allem als "linke" Parteien zu begreifen. Aber nur weil sich genau zwei chancenreiche Koalitionen gegenüberstehen, liegt es so nahe, die konkrete Fülle der politischen Antagonismen auf "rechts" und "links" zusammenschnurren zu lassen. Ist es ein Zufall, dass diese Namen so leer sind? Das sind ja die Namen von zwei puren Hälften, ursprünglich der Körperhälften, die daher - wir dringen hier ins Unbewusste der Parteiform ein - durchaus nicht auseinander gerissen werden dürfen. "Links" ohne "rechts" würde gar nicht existieren.
Dass die Grünen ursprünglich "weder rechts noch links, sondern vorn" sein wollten, ist bekannt; "links" wurden sie erst, als sie sich einer SPD anzudienen begannen, in der Gerhard Schröder immer mächtiger wurde. Es sollte ebenfalls bekannt sein, dass ein Karl Marx sich niemals "links" nannte. Man kann nachlesen, wie noch Lenin vom britischen "System der zwei Parteien der Ausbeuter" sprach. Rosa Luxemburg polemisierte vergeblich gegen das Gerede vom "Einheitsblock aller Linken", das aufkam, als ihre SPD zusammen mit der Kapitalpartei, den Liberalen, eine parlamentarische Mehrheit zu bilden versuchte. Nach dem Ersten Weltkrieg zeigte Antonio Gramsci, dass dem System der "zwei Ausbeuter-Parteien" nur eine Partei standhält, die sich beiden nicht anschließt. In den siebziger Jahren ergänzte Enrico Berlinguer, dass eine solche "dritte" Partei, wenn sie parlamentarisch arbeiten will, die Sortierung des Parlaments in zwei Hälften nicht untermauern darf, sondern unterlaufen muss; da war gerade die chilenische Volksfront im Feuer der Militärs untergegangen, die mit knapper Mehrheit gegen die ganze "rechte" Bevölkerungshälfte regiert hatte.
Schon vorher war auch die bürgerliche Parteientheorie zu dem Schluss gekommen, dass der Erhaltung des bürgerlichen Staats am besten gedient ist, wenn die Vielfalt politischer Streitfragen auf eine einzige Alternative reduziert wird, die dann die Bedeutung eines staatlichen Divide et impera annimmt. Je nach Wahlrecht kann es sich um die Alternative zweier Parteien oder zweier Parteiblöcke handeln. In der Türkei wurde eine solche Verfassung vom Militär künstlich aus dem Theoriehandbuch errichtet; sie kommt erst heute unter islamistischem Druck in Schwierigkeiten.
Figaros Hochzeit
Die Parteiform setzt zwar der Verwirklichung politischer Programme enge Grenzen. Aber man kann diese Grenzen auch aus einer ganz anderen Perspektive betrachten. Es ist nämlich einerseits klar, dass der Kampf für eine andere Gesellschaft, die zum Beispiel die Umwelt nicht mehr zerstört, die Ursachen von Kriegen beseitigt und keine Klassengesellschaft mehr ist, sich unvermeidlich auf Institutionen stützen muss; andererseits wissen wir, dass hierfür nur die Institutionen der Gesellschaft, die überwunden werden soll, zur Verfügung stehen. In ihnen sind logischerweise die Merkmale der ungeliebten Gesellschaft verdichtet, zum Beispiel in der Parteiform die Merkmale, die zur Verstaatlichung ihrer Mitglieder führen. Und andere Institutionen gibt es nicht, denn es gibt ja die andere Gesellschaft noch nicht, die sie allein hervorbringen könnte. Das scheint ein unlösbarer Widerspruch zu sein; die Geschichte zeigt aber den Lösungsweg. Es ist offenbar sehr wohl möglich, eine neue Gesellschaft ausgehend von den Institutionen der alten herbeizuführen. Die Französische Revolution ist ein Beispiel: Sie wurde im Theater, am Rand öffentlicher Hinrichtungen oder in "Parlamenten", die ursprünglich ständische Gerichte waren, vorbereitet, lauter typisch absolutistischen Institutionen; selbst die Idee der Freimaurerlogen, gewiss eine bürgerliche Erfindung, konnte nur im Absolutismus entstehen und nur dort so wirksam sein. Trotzdem entwickelte sich aus all dem die Revolution, in der sofort die neuen Institutionen der neuen Gesellschaft entstanden, darunter nicht zuletzt die Parteiform.
Wer heute eine andere Gesellschaft will, muss sich auf die Parteiform stützen. Er tut das, ohne ihre Grenzen zu verkennen. Er "spielt" mit diesen Grenzen. Sein Augenmerk ist auf Parteimitglieder gerichtet, die prädestiniert scheinen, in einer künftigen Konstellation ganz neue Verbindungen einzugehen, quer zu den vorhandenen; so wie Lenin und Trotzki, deren Parteien sich erbittert bekämpft hatten, in der Revolution plötzlich zusammenarbeiteten. Einer Politik, die aus der Ideologie der Parteiform geboren ist, werden Quergänger, die "mit den Grenzen spielen", stets Widerstand leisten. Laut machen sie sich lustig, wenn eine Partei der andern vorwirft, sie sei "nicht links genug". Was ist denn damit gewonnen, dass die Anschlusspartei "linker" ist als die Grenzpartei, werden sie fragen. Oder wem nützt es, wenn zwei Parteien ums bessere "Linkssein" konkurrieren, die beide nur Anschlussparteien sind! Eine Anschlusspartei, die eine andere Anschlusspartei verteufelt, indem sie so tut, als brächte nur sie die Wahrheit in die Koalition mit der Grenzpartei ein, wird von den Quergängern kritisiert. Denn die Parteiform ist niemals wahr. Sie ist bürgerlich. Da es aber unvermeidlich ist, sich auf sie zu stützen, ist die Kritik der Quergänger nicht gnadenlos, vielmehr sehr verständnisvoll, dabei allerdings auch klar. Die Frage ist, ob nicht selbst innerhalb der Grenzen der Parteiform große Vorstöße versucht werden können - so wie es möglich war, Figaros Hochzeit im absolutistischen Theater zu spielen.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.