Goethe hielt seine Farbenlehre, einen 1.000-seitigen Angriff auf Newtons Optik, für viel wichtiger als seine Dichtung, den Faust eingeschlossen. Die Fachwelt hat sich darüber hinweggesetzt, ja mehr noch, es herrscht das Urteil, der Dichter habe sich im Metier vertan und abwegiges Zeug geschrieben. Und die Phyiker hätten ihn von Anfang an nicht ernst genommen. All diese abschätzigen Behauptungen sind jetzt von Olaf L. Müller widerlegt worden, der als Wissenschaftstheoretiker und -philosoph an der Berliner Humboldt-Universität lehrt. Da er sich der sogenannten Analytischen Philosophie zurechnet, die der etablierten Naturwissenschaft sehr nahe steht, ist sein Vorstoß so überraschend wie gewichtig. Dabei kann man zunächst nur befremdet sein übe
fremdet sein über die Art und Weise, wie er sich auf Goethe bezieht. Auf dessen Theorie der Farben geht er gar nicht ein und macht sich doch für etwas stark, das er „Goethes Theorem“ nennt. Damit ist eine Annahme gemeint, die Goethe absurd findet und nur anführt, um die Farbtheorie des Gegners und dessen Hauptexperiment lächerlich zu machen.Newtons Experiment geht so: Er lässt Licht durch ein winziges Loch in eine Dunkelkammer fallen; hinter dem Loch ist ein Prisma angebracht, von dem das Licht gebrochen und in Farben zerlegt wird; die Farben zeigen sich an der gegenüberliegenden Wand, wo in länglicher Form das Farbspektrum zu sehen ist. Newton zieht die Schlussfolgerung, dass das Licht aus einzelnen farbigen Lichtstrahlen bestehe – im Experiment träten die Farben nur hervor. Darauf antwortet Goethe: Wer so herangehe, könne genauso gut auf die Idee kommen, die Dunkelheit aus einzelnen „Dunkelstrahlen“ bestehend zu denken. Er führt seinerseits ein Experiment durch, in dem Dunkelheit durch ein kleines Loch in eine helle Kammer fällt und wiederum durch ein Prisma geschickt wird. Auch dann erscheint an der gegenüberliegenden Wand ein Farbspektrum, allerdings ein anderes.Vieles an Goethes Farbspektrum kann einfach als Umkehrung des newtonschen Spektrums gelten, doch einen wichtigen Unterschied gibt es: In der Mitte seines Spektrums sieht Goethe die Farbe Purpur, die bei Newton nicht vorkommt. Bei Goethe kommt dafür die Farbe Grün nicht vor. Müller kann nachweisen, dass bis heute alle Versuche, das Ergebnis des goetheschen Experiments „orthodox“, also newtonisch wegzuerklären, gescheitert sind. Gewiss kann man das Purpur als komplizierte Überlagerung der Farben des newtonschen Spektrums interpretieren. Aber man kann genauso gut Newtons Grün als Überlagerung von Goethes farbigen „Dunkelstrahlen“ erklären.Newtons FehlschlussWie Müller auf Goethes Purpur eingeht, gehört nicht zu den Glanzlichtern seines Buchs. Er meint, jeder stelle sich unter der Farbe etwas anderes vor, der eine denke an Kardinalsmäntel, der andere an die „patentierte Markenfarbe eines großen deutschen Telekommunikationsunternehmens“. Von der erheblichen historischen Bedeutung, die Purpur besonders in der Antike hatte, scheint er nichts zu wissen, und auch davon nicht, dass sie zum Beispiel aus Meerschnecken gewonnen wurde. Wenn es so steht, ist diese Farbe doch eindeutig definiert. Aber auf den historischen und gesellschaftlichen Charakter von Farben kann sich Müller, der auf Goethe aus newtonischer Perspektive schaut, nicht einlassen. Sehr anders Goethe, der etwa darauf hinweist, dass der Antike die Farbe Blau nicht bekannt war (man scheint eine Schwarz-Schattierung in ihr gesehen zu haben), und auch Karl Marx hat einmal geschrieben, an der „Bildung der fünf Sinne“ habe „die ganze Weltgeschichte“ teilgenommen.Wenn man Müllers Art, gleichsam seinerseits auf Goethes Theorie durch ein kleines Loch zu schauen, zunächst selbst nur absurd finden kann, kommt man doch schnell dahinter, dass sein Verfahren hochbrisant ist. Denn warum sollte es ihm darum gehen, zum tausendsten Mal Goethe zu interpretieren? Zweifel an der heute geltenden Physik zu wecken, ist aufregend genug. Müller lässt keinen Zweifel daran, dass Goethes Experiment Newtons Farbtheorie untergräbt. Denn es kann nicht gleichzeitig wahr sein, dass die Farben aus Lichtstrahlen und dass sie aus „Dunkelstrahlen“ hervorgehen.Dass die Lichtstrahlentheorie sich nicht mit der Dunkelstrahlentheorie verträgt, lässt sich auch so formulieren, dass ein und dieselbe Datenmenge durch verschiedene und sogar konträre Theorien interpretiert werden kann. Verallgemeinert ist dies das „Unterbestimmtheitstheorem“, das vor allem von Willard V. O. Quine vertreten wurde, dem US-amerikanischen Philosophen und Logiker, mit dem sich Müller auch in anderen Schriften vor allem auseinandersetzt. Im Schlussteil des Goethe-Buchs diskutiert er ausführlich, nach welchen Kriterien man zwischen verschiedenen Theorien, die zur selben Datenmenge passen, entscheidet oder entscheiden könnte. Dies ist eine Art, von der „wissenschaftlichen Revolution“ zu sprechen, und sie begegnet einem schon bei Thomas S. Kuhn, der den Begriff eingeführt hat. Da auf eine gegebene Datensammlung stets mehr als eine theoretische Konstruktion passe, schreibt Kuhn, sei es leicht, eine Revolution zu veranstalten; doch beschränke man solche „Extravaganz“, die er mit dem „Wechsel der Ausrüstung“ in einer Fabrik vergleicht, besser „auf die unbedingt notwendigen Fälle“.Derselbe Kuhn weist freilich darauf hin, dass in den wissenschaftlichen Revolutionen, die es wirklich gab, etwa in der Überwindung der aristotelischen Physik durch Galilei, etwas ganz anderes geschieht: Der Revolutionär verändert die Fragen der Vorgänger, die er stürzt. Das tut er nicht, weil es „unbedingt notwendig“ wäre, hält es doch seine Umgebung – in Galileis Fall die Inquisition – im Gegenteil für notwendig, auf der falschen Vorgänger-Physik zu beharren. Sondern weil sein Denkprozess, die Entwicklung seiner Fragen und Antworten, ihm keine andere Wahl lässt.Nun könnte man durchaus auch die Fragestellung von Isaac Newtons Opticks für änderungswürdig halten. Es war ein Problem bei der Fertigung von Fernrohren aufgetreten, das Newton zu beheben versuchte. Je bessere man nämlich produzierte, desto mehr nahm eine Unschärfe an den Rändern zu, die seltsamerweise auch noch in mehreren Farben schillerte. Müller zeigt, wie Newton daraufhin seine Farbtheorie entwickelt und aus ihr den (wie man heute weiß, falschen) Schluss zieht, das Problem lasse sich nicht beheben. Soll man nicht sagen, dass die aus Newtons Experiment hervorgegangene Theorie falsche Verallgemeinerung eines bloß technischen Interesses am Licht war?Das fragt Müller nicht, er stellt aber heraus, dass Newtons Experiment nur die Brechbarkeit des Lichts beweist, keineswegs aber die Brechbarkeit des Lichts in Farben. Dass das Gebrochene farbig erscheint, ist vielleicht nur eine Folge der experimentellen Anordnung. Es ist denkbar, dass Licht so wenig aus Farben besteht wie eine Speise aus Geschmäckern oder die Saiten der Violine aus Violinsonaten.Da Müller daran erinnert, dass Newtons Autorität ja ohnehin durch Einstein erschüttert ist, bedauert man es schließlich doch, dass er sich für Goethes eigene Farbtheorie so gar nicht interessiert. Denn eine Parallele zwischen Goethe und Einstein springt ins Auge: Wie dieser vertritt auch Goethe die Auffassung, dass es in der Physik darauf ankommt, zwischen dem Universum überhaupt und der menschlichen Lebenswelt zu unterscheiden. Newton tut das nicht und macht deshalb den Fehler, eine Mechanik, die in der Menschenwelt verlässlich ist, aufs Universum zu übertragen. Einsteins Physik gilt zwar nicht nur im Universum, sondern auch in der Menschenwelt, hat aber in dieser keine praktischen Konsequenzen, so dass von Einstein her gesehen Newtons Mechanik als Mechanik der Menschenwelt erscheint. Und Goethe? Er schreibt von vornherein eine physikalische Optik für Menschen, fürs menschliche Auge nämlich. Von Farben zu reden, die nicht gesehen werden, findet er sinnlos. Newton aber verortet Farben im ganzen Universum, überall wo es Licht gibt, und überträgt seine Annahmen auf die Menschenwelt, als ob es da keine Sonderbedingungen gäbe.Könnte es nicht tatsächlich sinnvoller sein, vom Auge auszugehen? Das würde auf eine wissenschaftliche Revolution hinauslaufen. Eine Theorie müsste formuliert werden, in der angegeben ist, was im Auge eine Farbwahrnehmung möglich macht, die dann immer historisch und übrigens auch gesellschaftlich bestimmt ist. Eskimos kennen Hunderte Sorten Weiß.Placeholder infobox-1
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