Das Basta-Theater ist am Ende

Neue Ordnung Ein Regieren mit wechselnden Mehrheiten sollte zum Normalfall werden. Es hilft gegen Politikverdrossenheit

Der Bundestag macht Urlaub, Vorhang auf zum ersten „Sommertheater“ seit Antritt der schwarz-gelben Bundesregierung! Aber was soll da noch kommen? Diese Regierung hat schon bisher nur Komödiantisches geboten. Hat man sich früher über die „Basta“-Gewalt der Schröder und Müntefering geärgert, ist man über den derzeitigen Dauerstreit zwischen Union und FDP noch genervter. Die Große Koalition dazwischen war fast am erträglichsten. Nach aktuellen Umfragen scheint wieder eine rot-grüne Regierung möglich, aber würde sie einen Politikwechsel bewirken? Die Banken härter kontrollieren, den Afghanistan-Krieg schneller beenden, Hartz IV mehr als nur kosmetisch verändern? Man weiß es nicht. Die Erfahrung spricht eher dagegen. Politikverdrossenheit wäre ein zu harmloses Wort für das Gefühl, das sich aufdrängt. Nein, es ist ein Demokratieproblem: In unserer Erwartung, dass die Parlamente zwischen der Wahlbevölkerung und den Regierungen vermitteln, sehen wir uns zunehmend enttäuscht.

Wer hätte gedacht, dass Union und Liberale es noch weniger miteinander aushalten als Union und Sozialdemokraten? Aber wird es einer kommenden zweiten rot-grünen Regierung anders ergehen? Die Grünen als dumme „Kellner“ vor sich her zu schieben, kann sich die SPD nicht ein zweites Mal leisten. Dann aber darf man gespannt sein, wie sie es anstellen, Kohlekraftwerke gleichzeitig zu genehmigen und zu verhindern. Was aus der Zusammenarbeit solcher Partner herauskommt, entspricht nie irgendeinem „Wählerwillen“. Das ist das Demokratieproblem.

Es wäre nicht unlösbar, wenn die Parteien und führenden Politiker sich auf etwas einließen, was sie scheuen wie der Teufel das Weihwasser, nämlich ein Regieren mit wechselnden Mehrheiten als Normalfall von Parlamentarismus. Das wird jetzt in Nordrhein-Westfalen versucht, aber von Nahles über Künast bis Gysi arbeiten alle daran, es als eine Art Überflutung wieder einzudämmen. So eine Unordnung darf es in Deutschland nicht geben! Aber das Demokratieproblem liegt gerade in der Ordnung, die wir haben. Sie ruht auf der Konfusion, dass „Regierungen, die sich auf parlamentarische Mehrheiten stützen“, verwechselt werden mit „Regierungen, die sich für die Dauer einer Legislaturperiode auf ein und dieselbe Koalition stützen“. Wenn man Regieren als technisches Management begreift, ist das natürlich keine Verwechslung, denn: So wird es gemacht. Es ist aber eine, wenn man fragt, wann Regieren demokratisch wäre. Auf diese Frage gibt nur die erste Formulierung eine eindeutige Antwort. Statt auf Basis von Notverordnungen muss im Auftrag von Mehrheiten regiert werden, so viel ist klar.

Müdes Koalitionsschauspiel

Ob aber auch die zweite Formulierung Demokratie benennt oder etwas ganz anderes, hängt von den Umständen ab. Es kann natürlich Koalitionen geben, die den Mehrheitswillen einer Wahlbevölkerung artikulieren und umsetzen. In der erst westdeutschen, dann gesamtdeutschen Bundesrepublik hat es sie sehr lange gegeben, nämlich bis 1998. Aber seitdem gibt es sie immer weniger. Seitdem verstärkt sich dieses oben beschriebene Gefühl, dass Koalitionspartner nicht zusammenpassen und deshalb immer etwas herauskommt, was im Grunde niemand, geschweige denn eine Mehrheit, gewollt hat. Woran das liegt, hat man lange nicht begreifen können. Aus heutiger Sicht drängt sich aber eine Vermutung auf: Es liegt an der fortschreitenden Wirtschaftskrise. Mit der Tiefe der durch sie erzeugten Verwerfungen wächst die Idiosynkrasie der einzelnen Partei, die sich auf die bedrohten Interessen ihrer Klientel zurückgeworfen sieht, und schwindet die Kraft zur Synthese. Wenn die Ordnung Synthese aber nun einmal verlangt: „Mehrheit muss als Koalition verfasst sein“, dann wird sie eben trotzdem auf den Spielplan gesetzt. Nur, dass das Schauspiel nicht mehr überzeugt.

Demokratie ist nicht schon per se eine Ordnung, vielmehr ein Prinzip, die zu ihr passende Ordnung muss dann noch eigens entdeckt werden. Aber Koalitionsregierungen sind nicht die einzige, die denkbar ist. Regieren durch wechselnde Mehrheiten ist auch eine Ordnung. Das muss erst einmal als Tatsache anerkannt werden, noch bevor man nach dem Nutzen der Tatsache fragt. In Skandinavien ist solches Regieren gar nichts Besonderes. Es kann gelingen, wenn eine Gesellschaft Grundüberzeugungen erworben hat oder gerade erwirbt, die am meisten von der Minderheitsregierung verkörpert, von den anderen mehr rechten und mehr linken Parteien aber mitgetragen werden. Das ist der springende Punkt: Wechselnde Mehrheiten setzen einen parlamentarischen Basiskonsens oder mindestens etwas wie eine „Konsenskultur“ voraus. Die hat es zum Beispiel am Ende der Weimarer Republik nicht gegeben.

Aber heute gibt es sie doch in Deutschland. Pausenlos und auch mit Recht wird sie beschworen. Selbst die Linkspartei hat an ihr Teil. Man sieht es gerade an den absurden Anstrengungen, die unternommen werden müssen, damit sie ausgegrenzt bleibt. Trotzdem stehen alle einander nahe: Das ist ja der Grund, weshalb die SPD in Nordrhein-Westfalen nicht nur der CDU und der FDP, sondern auch der Linkspartei die fallweise Mehrheitsbildung anbietet. Zur Verteufelung der Linken trägt gleichwohl auch die SPD weiter bei, weil sie es bequemer findet, auf rot-grüne oder Ampel-Mehrheitskoalitionen zu setzen. Wenn diese indes zustande kommen, was ja nicht unwahrscheinlich ist, wird sich nur wieder das beschriebene Demokratieproblem verschärfen.

Eine gute Sache: Konsenskultur

Konsenskultur ist eine gute Sache. Wenn sie in einer schweren Wirtschaftskrise nicht oder nicht mehr vorhanden ist, ist der Parlamentarismus früher oder später am Ende. Dann kommt es zum Ausnahmestaat vielleicht diktatorischen Zuschnitts. Hoffen wir, dass wir davon nicht schon die Vorboten erleben, wenn etwa Brüderle die Kohlesubventionen angreift und Merkel ihm am nächsten Tag widerspricht. Selbst Kräfte, die viel systemkritischer wären als die Linkspartei, müssten in einer solchen Situation ein Interesse an der Aufrechterhaltung von Konsens haben – von so viel Konsens, wie man braucht, um den Parlamentarismus aufrechtzuerhalten: das auf Mehrheiten gestützte Regieren. Dieser Konsens kann sich immer mindestes auf das Verfahren beziehen. Selbst die kritischste Partei kann und muss sich der jeweiligen Mehrheit aus eigener Überzeugung fügen, das schließt den Versuch, sie anzugreifen und aufzulösen, ja nicht aus. Und selbst diese Partei, legt sie es nicht auf Blockade an, wird manchen Regierungsvorschlägen zustimmen können.

Wenn so viel klar ist, bleibt nur noch die Frage der Machbarkeit. Ein Regieren mit wechselnden Mehrheiten ist „technisch“ überhaupt kein Problem. Es führt zum Beispiel nicht, wie befürchtet werden könnte, zu unsinnig hohen Reibungsverlusten. Sicher wird man viele oder die meisten Mehrheiten durch Kompromisse vorbereiten müssen. Aber das ist in einer Koalition nicht anders. Da kann es höchstens einen graduellen Unterschied geben: Schröder schloss leichter mit den Grünen einen Kompromiss – nämlich indem er sie ohrfeigte – als es Hannelore Kraft mit der Linken gelingen wird. Wer sich aber auf diese Schrödersche Basta-Leichtigkeit berufen wollte, hätte vergessen, dass es um ein Demokratieproblem geht.

Kompromiss statt Blockade

Ein Problem wären freilich Kompromissverhandlungen, in denen es den nicht regierenden Parteien darum ginge, die Minderheitsregierung vorzuführen, ihr das Regieren eben unmöglich zu machen. Nun gut, das wird es geben. Das ist der Kampf, den die Minderheitsregierung gewinnen muss. Sie muss die Öffentlichkeit davon überzeugen, dass Parteien, die sich so verhalten, undemokratische Parteien sind. Wenn es ihr gelingt, gewinnt sie die nächste Wahl. Aber so schlimm muss es gar nicht kommen. In Nordrhein-Westfalen sind schon in den ersten Regierungstagen Mehrheiten mal mit CDU und FDP, mal mit der Linken zustande gekommen.

Über den kritischen Punkt ist diese Regierung freilich noch nicht hinweg: Der liegt in der Frage, ob mit parlamentarischer Mehrheit ein Haushalt beschlossen werden kann. Das kann nur funktionieren, wenn nach umfassenden Verhandlungen entweder eine der beiden nicht regierenden Minderheiten ihm zustimmt – obwohl er ihren Wünschen nur teilweise entspricht – oder beide nicht regierenden Minderheiten das tun oder wenigstens eine von beiden sich der Stimme enthält. Ja, und warum sollte das nicht funktionieren? Es funktioniert dann nicht, wenn die nicht regierenden Minderheiten lieber die Mehrheitskoalition erzwingen wollen und in ihrer Folge die Politikverdrossenheit in Kauf nehmen. Zu sagen „Es geht nicht!“ ist jedenfalls nur Maskerade.

Sogar die Minderheitsregierung selber sollte sich nicht als totale Koalition begreifen. Ein rot-grünes Regierungsprogramm wäre denkbar, das auch den Dissens benennt, in dem die Partner verschiedene Parlamentswege gehen. Der Nachteil wäre, dass die Grünen den Versuch aufgeben müssten, die SPD qua Koalition zu erpressen. Er geht ohnehin schief. Der Vorteil wären klare, durchsichtige Verhältnisse.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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