Das Ende der Träume und was wir bemeistern

Maerzmusik 2013 Vom Berliner Festival für aktuelle Musik – zweiter Bericht
Bühnenbild von Chico Mellon zu Pills or serenades
Bühnenbild von Chico Mellon zu Pills or serenades

Foto: Ali Ghandtschi

Kassandra von Michael Jarrell

Wenn ich meinen Text vom Samstag über Christa Wolfs Kassandra - die Vorlage für Michael Jarrells "Monodrama für Sprecherin und Instrumentalensemble mit Elektronik" - noch einmal lese, sehe ich, dass ich die Gewichte in einem Punkt unzulässig verschoben habe: Die Erzählung erscheint nicht erst im Nachhinein, nach 1990, als Abgesang auf die DDR. Man sieht nicht erst nachträglich, dass die Erzählung sich, wie ich schrieb, "in eine Vielzahl von Texten und Kompositionen kommunistischer Künstler [...] ein[reiht], die um 1980 herum aufhörten, auf die historische Nachhaltigkeit und Anziehungskraft des realsozialistischen Ansatzes noch weiter zu hoffen". Sondern dies ist ihr selbst schon eingeschrieben, unübersehbar.

Der entscheidende Kunstgriff liegt darin, dass Wolf erzählt: Zwar habe der Trojaner Paris die Griechin Helena tatsächlich geraubt, sei dann aber erst einmal nach Ägypten gefahren, wo man sie ihm abgenommen habe. Nach Troja kam er mit einem "Phantom" zurück, das niemand zu Gesicht bekam, von dem das Volk aber glauben sollte, es sei Helena. Der Trojanische Krieg wurde um ein "Phantom" geführt. Ich lese das so: Ursprünglich zwar ist "Troja", die DDR (oder das ganze realsozialistische Lager), auf dem Weg zum Kommunismus gewesen, doch kamen die Ideale abhanden. Um 1980 herum war die kommunistische Zielsetzung Phantom und Ideologie geworden, die mit dem wirklichen Weg dieser Gesellschaft nichts mehr zu tun hatten. Der Westen hätte es sich daher sparen können, "Troja" anzugreifen, aber dann hätte "Troja" zugeben müssen, auf ein Phantom gegründet zu sein, wovon es natürlich weit entfernt war.

(Man trifft die "ägyptische Helena" im antiken Mythos wirklich an und wirklich als die Variante, dass nach Troja nur ein Phantom gelangte. Was mir schwer fällt zu interpretieren, ist Wolfs Formulierung, "Troja" habe für die Schönheit gekämpft oder zu kämpfen vorgegeben. Tatsächlich verkörpert Helena die Schönheit. Doch was entspricht dem realhistorisch? Vielleicht hat Wolf ganz bewusst das Staatsziel der DDR mit dem Ziel einer kommunistischen Dichterin konfundieren wollen. Vielleicht dachte sie an den Satz des jungen Marx: "Der Mensch formiert" (produziert) "[...] auch nach den Gesetzen der Schönheit.")

So würde ich denn anders als am Samstag urteilen: Die Anspielungen aufs Regierungssystem der DDR sind "die Hauptsache in der Erzählung". Und doch! Mein Gefühl hatte mich nicht getäuscht, als ich Anstoß daran nahm, dass die Erzählung im Programmheft nur mit dem Satz, sie beziehe "in verschlüsselte Form [...] den antiken Mythos auf die autoritär-patriarchal geprägten Verhältnisse in" Wolfs "Land", charakterisiert wird. Denn was macht Pamela Hunters Inszenierung daraus? Ein Monodrama "für Sprecherin und Instrumentalensemble mit Elektronik" nicht nur, sondern auch für mitlaufenden Film. Die Sprecherin ist zwischen Ensemble und Filmleinwand platziert, wobei diese die Aufmerksamkeit auf sich zieht, während das Ensemble mehr im Hintergrund spielt. Der Film verfälscht nun wirklich Christa Wolfs Anliegen.

Wenn im Text nur davon die Rede ist, dass Troja Stadtmauern hatte, gibt das Anlass, in Bildern des Todesstreifens der DDR-Grenze, der Wachtürme und so weiter zu schwelgen. Wenn Bilder vom Innern Ostberlins eingeblendet werden, stehen lauter Vopos herum, einer auf drei Bürger oder so. Das ist die einzige realhistorische Bezugnahme. Sonst werden nur junge schöne Leiber gezeigt, selbst wo es um die Schandtaten des Würgers, Mörders und Vergewaltigers Achill geht, des Haupthelden der griechischen Angreifer. So hat Christa Wolf gewiss nicht gedacht. Im Libretto ist auch von der griechisch-westlichen Kriegsführung die Rede: "Für immer fielen alle Regeln in den Staub. Troilus, der Bruder, fiel. Achill das Vieh war über ihm [...] Etwas ging vor, was über meine, über unsere Begriffe war. Wer sehen konnte, sah am ersten Tag: diesen Krieg verlieren wir." Wäre nicht auch da eine realhistorische Bezugnahme am Platz gewesen? Nein, der Film macht Passagen dieser Art unhörbar.

Der Vortrag der Sprecherin Anna Clementi im schmucklosen Kleid war grandios. Sie stand barfuß, wie es Märchenfiguren tun, die eigentlich tot sind. Auch die musikalische Aufführung (des ensemble unitedberlin unter Andrea Pestalozza) und die Komposition selber waren eindrucksvoll und interessant. Wie uns Philippe Albèra im Programmheft erklärt, überlagern sich drei Zeitformen in der Komposition, eine glatte, eine diskontinuierliche und eine der lang ausgehaltenen Klänge. Wir hören, nimmt man alles zusammen, eine Folge gespreizter Akkorde, die einander transformieren, mal "seriell", mal mehr Henze-mäßig klingen und fast immer sehr düster sind, wie sie überhaupt emotional stark ansprechen können. Das Interessante ist, dass in ihnen, so Albèra, "die Zeit dessen" musikalisch erörtert wird, "was schon war und als Zeremonie wiederkehrt". So entspricht es ja Kassandras Monolog, den sie hält, als alles schon geschehen ist, außer dass man sie noch schlachten wird. Nun ist es ein häufig anzutreffender Zug der Avantgarde-Musik nach 1945, dass sie, obwohl in der Zeit ablaufend, Zeitlosigkeit in Szene setzt. In der Regel ist das aber ein Vorgriff aufs Ewige, ein Sehnen und Träumen oder nicht wirklich Träumenkönnen vom guten Ende der Zeit. Hier bei Jarrell ist es mit dem Träumen vorbei. Aber dass er mit so einem Film einverstanden ist, darüber staune ich.

Chico Mello und Speak Percussion

Kassandra wurde gestern Abend gegeben. Am Samstagabend gab es nacheinander Pills ore Serenades, die "Stimmungsstudie" von Chico Mello (Text Tobias Dutschke), und die Schlagwerke des australischen Trios Speak Percussion. Pills ore Serenades war ganz nett. Einen Mangel sehe ich darin, dass mit dem Titel eigentlich schon alles gesagt war: Musik kann wie eine Droge eingesetzt werden. Das wurde nun sehr überzeugend illustriert. Die Leute auf der Bühne, überwiegend Frauen, sangen einschläfernde Gutfühlfloskeln oder begleiteten sie instrumental. Man befand sich, mit Ingeborg Bachmanns Gedicht zu sprechen, "in der Traumwäscherei", wobei die sprachliche Ähnlichkeit von Traumwäsche und Gehirnwäsche kein Zufall ist. Ein Mann schoss in Abständen, mit einer Handbewegung, alle nieder. Sie standen wieder auf und logen weiter. Einer Frau waren die spitzen Töne zugeordnet, weil sie aufmuckte, das war der einzige musikalische Kontrast, die andern entsorgten sie als Wahnsinnige. Na ja. Am besten gefiel mir die Bühne aus Kisten und einem Gestell, das in einer Szene das elektronische Tor bei der Flugkontrolle vorstellte. Da hindurch mussten alle Musiker marschieren.

Mit dem "Recital" von Speak Percussion kommen wir zu den Schlagwerken, dem zweiten Schwerpunkt der MaerzMusik nach dem hier erstbehandelten des Musikdramas. Fünf Stücke wurden geboten, zwei Uraufführungen und eine deutsche Erstaufführung darunter, entstanden meist zwischen 2011 und 2013 (eine 2005). Das Interesse des Trios für Schlagzeuge ist Interesse für die Vielfalt ganz unterschiedlichen, auch ungewöhnlichen Tönens und entsprechender Instrumente. Ich wüßte gar nicht, wie ich die meisten Töne in ihrer Ausgefallenheit beschreiben sollte, und sage daher nur, dass für fünf Stücke fünf verschiedene Instrumentalsets erforderlich waren, die über die Bühne verteilt standen und vom Trio nacheinander aufgesucht wurden. Die meisten Stücke habe ich mehr achselzuckend angehört. Das letzte aber, Popular Contexts, Volume 6, ein Auftragswerk der MaerzMusik, war stark.

Da ging es nicht um künstliche Töne, sondern um Alltagsgeräusche, konfrontiert mit gewohntem, virtuos eingesetztem Jazz- oder Beatschlagzeug. Mühelos spielerisch gelang es dem scharf akzentuierenden, manchmal verfremdeten, immer mitreißenden Beat, den röhrenden Klang eines Flugzeugs in großer Nähe zu umgrenzen, zu vereinnahmen, zu ordnen. Wenn man pathetisch interpretieren will: Die Technik ist unser. Anschließend wurden Beifallsgeräusche einer Menschenmenge ebenso behandelt. Als sollte gesagt werden: Wir bemeistern die Technik und womöglich kommt es noch so weit, dass wir uns im Griff haben.

Was "bedeutet" es eigentlich, dass Schlagzeug, Schlagwerke in der Neuen Musik so wichtig sind? Dazu morgen oder übermorgen mehr.

Beiträge zu früheren MaerzMusik- und auch den Berliner "Musikfest"-Festivals können Sie von hier aus aufschlagen.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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