Das Instrument spielt den Bogen

MaerzMusik 2016 Wir teilen den Konzertsaal mit „monströser“ Musik – bedroht sie oder befreit sie uns?

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Das Ensemblekollektiv Berlin
Das Ensemblekollektiv Berlin

Foto: Presse

Von der diesjährigen Berliner MaerzMusik (11.-20.3.) habe ich nur eine Veranstaltung besucht, das Konzert am vorgestrigen Donnerstag. Die MaerzMusik ist seit 2015 neu konzipiert, es ist nicht mehr ein Festival „für aktuelle Musik“, sondern „für Zeitfragen“. So liest man, die „zweite Ausgabe [...] imaginiert das Digitale Universum als Geburtsort neuer Zeitformen – digitaler Zeitformen, die unsere Lebenswelt zunehmend prägen und deren Vor- und Nachteile wir täglich zu spüren bekommen“. Dass bei so einem Konzept nicht in jeder Veranstaltung Musik im Mittelpunkt steht oder auch nur überhaupt erklingt, ist klar. Der Donnerstag war aber ein reiner Konzertabend nach dem üblichen Ritual, Instrumentalisten auf dem Podium, davor das Publikum im Dunkeln. Man muss das hervorheben, weil die beiden Komponisten, die im Programm vertreten waren, sich sonst mühten, alles ganz anders zu machen.

Geleitet von Enno Poppe, spielte das Ensemblekollektiv Berlin vor der Pause den Jardin d’Acclimatation für großes Ensemble von Eduardo Moguillansky, ein Werk in vier Teilen; der erste war 2011 entstanden, die übrigen wurden uraufgeführt. Diese Musik wirft die Frage auf, ob man sie als Konzeptkunst ansehen soll, oder vielmehr ansehen und –hören; das würde bedeuten, die zu ihr führende Idee wäre wichtiger als deren kompositorische Ausführung. Auf jeden Fall „versteht“ man sie ohne die Idee nicht und ist die Idee gesellschaftspolitisch in der Tat so wichtig – ob auch musikalisch, ist eine andere Frage -, dass sie mehr Aufmerksamkeit als die Ausführung verdient. Man höre: Der Komponist findet die Art und Weise, wie seit Jahrhunderten die Streichinstrumente gespielt werden, „naiv“ und „frustrierend“. Es sei nämlich eine „naive Lösung, den Bogenklang an sich zu isolieren“, habe doch die „Bogenbewegung (Richtung, Geschwindigkeit, Position) [...] eine geringe akustische Auswirkung“. Also etwa die Metamorphosen von Richard Strauss, die Trauermusik von Lutoslawski sind „akustisch“ fast nichts und jedenfalls nicht der Rede wert.

Was soll aber auch Trauer, wenn es um Akustik im physikalischen Sinn geht. Um den Frust zu beenden, schlägt Moguillansky „eine indirekte Strategie“ vor: „[S]tatt mit Haaren wird der Bogen mit einem Tonband bespannt, der Spielknopf wird auf dem Instrument befestigt. Das Verhältnis wurde invertiert: Das Instrument spielt den Bogen.“ Was dabei herauskommt, weiß jeder, der früher mit Tonbändern umging, etwa dass wir „Geschwindigkeit [...] als Tonhöhe [hören]“. Ob man das Band im HiFi-Apparat oder per Hand zu schnell laufen lässt, der Effekt ist derselbe. Und nun kommen wir auf den Kern der Sache: Die Musikanten könnten ja eine Bogenspielgeschwindigkeit wählen, die dazu führt, dass das Tonband so gehört wird wie es aufgenommen wurde. Aber könnten sie es wirklich? Nein, denn ihnen fehlt die Exaktheit der Maschine. Und das ist Moguillanskys Punkt: Es sei „klar, dass die Musiker das Band nicht mit der Genauigkeit einer Maschine über den Tonkopf ziehen können. In diesen Schwankungen, Verzerrungen und Transpositionen verbirgt sich der Klang unserer gescheiterten (humanen?) Natur“. Verzerrungen, die nur noch die Funktion haben, dass „das Phantomglied des Bogens, nämlich der Arm“ – der menschliche Arm, der hier schon als bloßes Phantasma erscheint – „bemessbar [wird]“.

So weit das Konzept, und die Ausführung entspricht ihm gut. Aber sie erweist sich doch als eigenständig, was den Jardin sehr interessant macht. Würde das Konzept wörtlich umgesetzt, müsste man Musikern beim Misslingen des Versuchs zuhören, die richtige Tonbandgeschwindigkeit zu treffen. In Wahrheit versuchen sie es aber gar nicht, sondern bewegen die Bogen in der konzertüblichen Geschwindigkeit. Es kommen also fast nur hohe quirlige Girlanden heraus, eben als wenn das Tonband zu schnell durch die Maschine läuft. Das heißt, die Musiker, oder besser gesagt der Komponist, sie denken gar nicht daran, sich der Maschine anzupassen, sondern zwingen vielmehr die Maschine, sich ihnen anzupassen. Bravo! Es ist eben doch so, dass der Bogen das Instrument spielt und nicht umgekehrt. Und auch sonst hält Moguillansky gewohnte Standards aufrecht. Da mehrere durchaus unterschiedliche Girlanden gleichzeitig erklingen – manchmal kommt eine in die Nähe menschlichen Sprechklangs -, stellt sich die Frage der Art und Weise ihrer Polyphonie, die ganz traditionell beantwortet wird. Durch die Antwort kann eine neue Einsicht erlebt werden: Polyphonie macht auch ganz unabhängig von ihren Elementen, den einzelnen Tonhöhenverläufen, Spaß. Man könnte sage, die Ohnmacht John Cages werde erwiesen: Der wollte das pure Geräusch „emanzipieren“ und Moguillanskys Musik, jedenfalls was ich bis hierher davon aufgegriffen habe, besteht bloß aus Geräuschen, aber wie man hört reicht selbst das nicht aus, die Musik – das, was man immer unter Musik verstanden hat – zu zerstören.

Ganz und gar nicht ist der dritte Teil ein bloßes Geräuschstück. Da sitzen sich zwei Cellisten gegenüber und die eine spielt traditionell, nur dass ihre sehr schnellen, ja explosiven Läufe mikrophoniert sind. Der andere hat wieder den Tonbandbogen, doch das Tonband speichert die Musik der Partnerin. Nur dass zum Beispiel ein Lauf, den sie aufwärts gerichtet hat, vom Partner abwärts wiedergegeben wird. Und damit nicht genug, „imitiert nun das erste Instrument [aus reiner Lust] die willkürlichen Echos des Zweiten, es tanzt mit sich selbst in einem janusköpfigen Labyrinth aus Umkehrungen, Transpositionen, Spiegelungen“, was alles höchst traditionelle Verfahren sind. Und es klingt richtig gut! Und jedenfalls hat „unsere Natur“ ganz unbekümmert darum, ob irgendwer sie für „gescheitert“ ansieht, es sich hier herausgenommen, die gewohnte eigene Spielfreude zu zelebrieren. Interessant übrigens, dass dem Duo noch eine Leinwand beigegeben war, auf der die Spielende unregelmäßig aufflackerte. Als sollte ein gestörter Projektor mit einer souveränen Menschin verglichen werden.

Die Seite des Konzepts ist im dritten Stück aus einem ganz anderen Grund beachtlich als oben, wo der Komponist es im Allgemeinen vorstellte: Hier denkt er an die Antike. „Labyrinth“ und „Janus“ zeigen es schon, was aber das Echo angeht, erzählt er den ganzen Mythos: „Echo verwickelt Hera in ein sinnloses Gespräch, um Zeit für die anderen Nymphen zu gewinnen, die sich gerade an den unermüdlichen Liebeskräften des Zeus verlustieren.“ Dafür wird sie anschließend von Hera bestraft. Ein „sinnloses Gespräch“! Würden wir nur maschinenerzeugte Musik hören, wie es auf dem Festival auch vorkam, sie wäre in der Tat sinnlos. Aber was Echo tat, war ja gar nicht sinnlos. Die scheinbare Sinnlosigkeit ihres Gespräch barg einen sehr zentralen Sinn . Das ist kein schlechtes Sinnbild. Dass sie ihren Sinn versteckt, kann man von Moguillanskys Musik aber nicht einmal sagen.

Würde man sein viertes Stück isoliert hören, müsste man zu dem Urteil kommen, der Jardin sei etwas wie „böse Musik“ – so der Titel einer Veranstaltungsreihe 2013 im Berliner Haus der Kulturen der Welt. Moguillansky ließ die Musiker hier mit Tonbändern spielen wie im ersten Stück, in der Absicht aber diesmal, die Klänge durcheinandergrölender Tiere zu imitieren. Man hörte also einem Zoo zu und hätte selbst ohne die Erläuterung im Konzept begriffen, dass der Mensch gemeint ist, der verglichen mit der Exaktheit von Maschinen als blödes Vieh erscheint, das vielleicht am ehesten noch zum Abgeschlachtetwerden taugt. Aber das ist nicht böse, es ist eine sehr sinnvolle Provokation aus dem einfachen Grund, dass Moguillansky sich diesen „Tierfrieden“, wie er höhnisch titelt, nicht ausgedacht hat; das Dispositiv ist real. Und nun müssen wir sein allgemeines Konzept noch einmal lesen: „der Klang unserer gescheiterten (humanen?) Natur“ – was ist denn gescheitert? Der humane Mensch, was eine Tautologie sein sollte, es aber nicht ist, oder der Mensch überhaupt? Die erste Antwort würde besagen, dass der Mensch der vorhandenen Gesellschaftsformation, die man die kapitalistische nennt, gescheitert ist. Moguillansky lässt die Frage offen, weist nur auf sie hin. Es ist auch tatsächlich unsere Aufgabe, nicht seine, sie zu beantworten.

Das zweite Werk des Abends stand dem ersten konzeptmäßig sehr nahe. Timothy McCormack beginnt mit einem Stück aus dem Jahr 2013, Uns-Apparatus für Blechbläserquintett, dem er als Uraufführung und direkte Fortsetzung den Karst für großes Ensemble, ohne Dirigent übrigens, folgen lässt. Auch die Idee ist ähnlich: Das erste Stück, das sich „durch ein Übermaß an stürmischer, aufgestauter“, sich entladender und dann leerer „Energie“ auszeichne, soll wie ein „Tier“ erscheinen, „das uns beobachtet“, auch wie ein „Objekt[.], das tatsächlich die Luft verdrängt“, statt dass wir noch „unsichtbaren Klängen“ zuhörten. Das „Tier“ kann wieder niemand anders als der Mensch sein, und was wir hören, lässt erneut an das Gequake von Vollidioten denken. Und glaubte man der Angabe des Konzepts, müsste Karst die pure Fortsetzung und Verschlimmerung dessen sein, denn jetzt können „die Verhaltensweisen und Eigenschaften dieses Dings oder Wesens [...] vollständig ausgeschöpft und bewusst empfunden werden“. „Und es wird sich als Monster erweisen“, verspricht der Komponist, „als Weltenfresser“.

Das ist aber gar nicht der Fall. Karst ist eine wunderbare Musik, die sehr stark an Photoptosis (1968) von Bernd Alois Zimmermann erinnert. Schwere langsame Felder, manchmal sehr dunkel, immer auch in Höhenflüge auslaufend. Nur die Zitate traditioneller Musik, die Zimmermann einstreut, fehlen. Dafür ist Karst weniger einförmig. Was es nach und nach für Seiten zeigt - wie es in geduldiger Nachtschwärze verharren kann und sich dann wieder mit einer Kraft aufbäumt, die stärker erscheint als alles (nur wohin sie sich wenden könnte, bleibt offen) -, das ist sehr beeindruckend. Ein „Monster“, ein „Weltenfresser“? Die Ausdrücke sind ja doppelbödig. Als Monster muss die Kraft der vorhandenen schlechten Welt erscheinen, die es wohl verdient, gefressen zu werden. Der Mensch, der in Uns-Apparatus als blödes Tier erscheint, zeigt hier eine sehr intelligente Geduld, die auch mal erschöpft sein kann.

Ein Satz im Konzept hat es angedeutet: „Wo ‚Uns-Apparatus‘ das Gefühl vermittelte, den Raum für kurze Zeit mit irgendeinem Geschöpf zu teilen, wird es in diesem Stück [Karst] um die Konfrontation mit diesem Geschöpf gehen.“ Man muss den Satz nur richtig herum lesen: Das Geschöpf ist der klügere Mensch der nächsten Zukunft, der sich mit den schlechten Verhältnissen konfrontiert. Eben noch hatten deren Träger es mit einem Menschen zu tun, mit dem sie den „Raum teilen“ konnten, ohne sich fürchten zu müssen. Aber das bleibt nicht so. Warum ist die Kraft des klügeren Menschen so groß? Es erklärt sich auch aus der Anordnung: „alle Musiker [tragen] einander gegenüber Verantwortung [!]. Sie sind in einem Netzwerk der Aktion miteinander verbunden und ihre Kommunikation untereinander entwickelt sich zu einer spürbaren, pulsierenden Kraft in der Musik. Jeder Musiker hat die Möglichkeit [!], das Tempo und den Verlauf des Stücks leicht zu verändern und diese Aktionen ziehen sich wie Wellen durch die Musik. Das Ensemble gestaltet das Stück buchstäblich in Echtzeit zusammen [gestaltet zusammen!] und komplexe musikalische Formen entstehen wie aus dem Nichts.“ Verantwortung gegeneinander statt Marktradikalismus, Möglichkeit statt tote Maschinenexaktheit, Zusammengestalten statt gegeneinander isoliertes zielloses Agieren – das ist es.

Dieser Konzertabend war beeindruckend.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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