Von der diesjährigen Berliner MaerzMusik (11.-20.3.) habe ich nur eine Veranstaltung besucht, das Konzert am vorgestrigen Donnerstag. Die MaerzMusik ist seit 2015 neu konzipiert, es ist nicht mehr ein Festival „für aktuelle Musik“, sondern „für Zeitfragen“. So liest man, die „zweite Ausgabe [...] imaginiert das Digitale Universum als Geburtsort neuer Zeitformen – digitaler Zeitformen, die unsere Lebenswelt zunehmend prägen und deren Vor- und Nachteile wir täglich zu spüren bekommen“. Dass bei so einem Konzept nicht in jeder Veranstaltung Musik im Mittelpunkt steht oder auch nur überhaupt erklingt, ist klar. Der Donnerstag war aber ein reiner Konzertabend nach dem üblichen Ritual, Instrumentalisten auf dem Podium, davor das Publikum im Dunkeln. Man muss das hervorheben, weil die beiden Komponisten, die im Programm vertreten waren, sich sonst mühten, alles ganz anders zu machen.
Geleitet von Enno Poppe, spielte das Ensemblekollektiv Berlin vor der Pause den Jardin d’Acclimatation für großes Ensemble von Eduardo Moguillansky, ein Werk in vier Teilen; der erste war 2011 entstanden, die übrigen wurden uraufgeführt. Diese Musik wirft die Frage auf, ob man sie als Konzeptkunst ansehen soll, oder vielmehr ansehen und –hören; das würde bedeuten, die zu ihr führende Idee wäre wichtiger als deren kompositorische Ausführung. Auf jeden Fall „versteht“ man sie ohne die Idee nicht und ist die Idee gesellschaftspolitisch in der Tat so wichtig – ob auch musikalisch, ist eine andere Frage -, dass sie mehr Aufmerksamkeit als die Ausführung verdient. Man höre: Der Komponist findet die Art und Weise, wie seit Jahrhunderten die Streichinstrumente gespielt werden, „naiv“ und „frustrierend“. Es sei nämlich eine „naive Lösung, den Bogenklang an sich zu isolieren“, habe doch die „Bogenbewegung (Richtung, Geschwindigkeit, Position) [...] eine geringe akustische Auswirkung“. Also etwa die Metamorphosen von Richard Strauss, die Trauermusik von Lutoslawski sind „akustisch“ fast nichts und jedenfalls nicht der Rede wert.
Was soll aber auch Trauer, wenn es um Akustik im physikalischen Sinn geht. Um den Frust zu beenden, schlägt Moguillansky „eine indirekte Strategie“ vor: „[S]tatt mit Haaren wird der Bogen mit einem Tonband bespannt, der Spielknopf wird auf dem Instrument befestigt. Das Verhältnis wurde invertiert: Das Instrument spielt den Bogen.“ Was dabei herauskommt, weiß jeder, der früher mit Tonbändern umging, etwa dass wir „Geschwindigkeit [...] als Tonhöhe [hören]“. Ob man das Band im HiFi-Apparat oder per Hand zu schnell laufen lässt, der Effekt ist derselbe. Und nun kommen wir auf den Kern der Sache: Die Musikanten könnten ja eine Bogenspielgeschwindigkeit wählen, die dazu führt, dass das Tonband so gehört wird wie es aufgenommen wurde. Aber könnten sie es wirklich? Nein, denn ihnen fehlt die Exaktheit der Maschine. Und das ist Moguillanskys Punkt: Es sei „klar, dass die Musiker das Band nicht mit der Genauigkeit einer Maschine über den Tonkopf ziehen können. In diesen Schwankungen, Verzerrungen und Transpositionen verbirgt sich der Klang unserer gescheiterten (humanen?) Natur“. Verzerrungen, die nur noch die Funktion haben, dass „das Phantomglied des Bogens, nämlich der Arm“ – der menschliche Arm, der hier schon als bloßes Phantasma erscheint – „bemessbar [wird]“.
So weit das Konzept, und die Ausführung entspricht ihm gut. Aber sie erweist sich doch als eigenständig, was den Jardin sehr interessant macht. Würde das Konzept wörtlich umgesetzt, müsste man Musikern beim Misslingen des Versuchs zuhören, die richtige Tonbandgeschwindigkeit zu treffen. In Wahrheit versuchen sie es aber gar nicht, sondern bewegen die Bogen in der konzertüblichen Geschwindigkeit. Es kommen also fast nur hohe quirlige Girlanden heraus, eben als wenn das Tonband zu schnell durch die Maschine läuft. Das heißt, die Musiker, oder besser gesagt der Komponist, sie denken gar nicht daran, sich der Maschine anzupassen, sondern zwingen vielmehr die Maschine, sich ihnen anzupassen. Bravo! Es ist eben doch so, dass der Bogen das Instrument spielt und nicht umgekehrt. Und auch sonst hält Moguillansky gewohnte Standards aufrecht. Da mehrere durchaus unterschiedliche Girlanden gleichzeitig erklingen – manchmal kommt eine in die Nähe menschlichen Sprechklangs -, stellt sich die Frage der Art und Weise ihrer Polyphonie, die ganz traditionell beantwortet wird. Durch die Antwort kann eine neue Einsicht erlebt werden: Polyphonie macht auch ganz unabhängig von ihren Elementen, den einzelnen Tonhöhenverläufen, Spaß. Man könnte sage, die Ohnmacht John Cages werde erwiesen: Der wollte das pure Geräusch „emanzipieren“ und Moguillanskys Musik, jedenfalls was ich bis hierher davon aufgegriffen habe, besteht bloß aus Geräuschen, aber wie man hört reicht selbst das nicht aus, die Musik – das, was man immer unter Musik verstanden hat – zu zerstören.
Ganz und gar nicht ist der dritte Teil ein bloßes Geräuschstück. Da sitzen sich zwei Cellisten gegenüber und die eine spielt traditionell, nur dass ihre sehr schnellen, ja explosiven Läufe mikrophoniert sind. Der andere hat wieder den Tonbandbogen, doch das Tonband speichert die Musik der Partnerin. Nur dass zum Beispiel ein Lauf, den sie aufwärts gerichtet hat, vom Partner abwärts wiedergegeben wird. Und damit nicht genug, „imitiert nun das erste Instrument [aus reiner Lust] die willkürlichen Echos des Zweiten, es tanzt mit sich selbst in einem janusköpfigen Labyrinth aus Umkehrungen, Transpositionen, Spiegelungen“, was alles höchst traditionelle Verfahren sind. Und es klingt richtig gut! Und jedenfalls hat „unsere Natur“ ganz unbekümmert darum, ob irgendwer sie für „gescheitert“ ansieht, es sich hier herausgenommen, die gewohnte eigene Spielfreude zu zelebrieren. Interessant übrigens, dass dem Duo noch eine Leinwand beigegeben war, auf der die Spielende unregelmäßig aufflackerte. Als sollte ein gestörter Projektor mit einer souveränen Menschin verglichen werden.
Die Seite des Konzepts ist im dritten Stück aus einem ganz anderen Grund beachtlich als oben, wo der Komponist es im Allgemeinen vorstellte: Hier denkt er an die Antike. „Labyrinth“ und „Janus“ zeigen es schon, was aber das Echo angeht, erzählt er den ganzen Mythos: „Echo verwickelt Hera in ein sinnloses Gespräch, um Zeit für die anderen Nymphen zu gewinnen, die sich gerade an den unermüdlichen Liebeskräften des Zeus verlustieren.“ Dafür wird sie anschließend von Hera bestraft. Ein „sinnloses Gespräch“! Würden wir nur maschinenerzeugte Musik hören, wie es auf dem Festival auch vorkam, sie wäre in der Tat sinnlos. Aber was Echo tat, war ja gar nicht sinnlos. Die scheinbare Sinnlosigkeit ihres Gespräch barg einen sehr zentralen Sinn . Das ist kein schlechtes Sinnbild. Dass sie ihren Sinn versteckt, kann man von Moguillanskys Musik aber nicht einmal sagen.
Würde man sein viertes Stück isoliert hören, müsste man zu dem Urteil kommen, der Jardin sei etwas wie „böse Musik“ – so der Titel einer Veranstaltungsreihe 2013 im Berliner Haus der Kulturen der Welt. Moguillansky ließ die Musiker hier mit Tonbändern spielen wie im ersten Stück, in der Absicht aber diesmal, die Klänge durcheinandergrölender Tiere zu imitieren. Man hörte also einem Zoo zu und hätte selbst ohne die Erläuterung im Konzept begriffen, dass der Mensch gemeint ist, der verglichen mit der Exaktheit von Maschinen als blödes Vieh erscheint, das vielleicht am ehesten noch zum Abgeschlachtetwerden taugt. Aber das ist nicht böse, es ist eine sehr sinnvolle Provokation aus dem einfachen Grund, dass Moguillansky sich diesen „Tierfrieden“, wie er höhnisch titelt, nicht ausgedacht hat; das Dispositiv ist real. Und nun müssen wir sein allgemeines Konzept noch einmal lesen: „der Klang unserer gescheiterten (humanen?) Natur“ – was ist denn gescheitert? Der humane Mensch, was eine Tautologie sein sollte, es aber nicht ist, oder der Mensch überhaupt? Die erste Antwort würde besagen, dass der Mensch der vorhandenen Gesellschaftsformation, die man die kapitalistische nennt, gescheitert ist. Moguillansky lässt die Frage offen, weist nur auf sie hin. Es ist auch tatsächlich unsere Aufgabe, nicht seine, sie zu beantworten.
Das zweite Werk des Abends stand dem ersten konzeptmäßig sehr nahe. Timothy McCormack beginnt mit einem Stück aus dem Jahr 2013, Uns-Apparatus für Blechbläserquintett, dem er als Uraufführung und direkte Fortsetzung den Karst für großes Ensemble, ohne Dirigent übrigens, folgen lässt. Auch die Idee ist ähnlich: Das erste Stück, das sich „durch ein Übermaß an stürmischer, aufgestauter“, sich entladender und dann leerer „Energie“ auszeichne, soll wie ein „Tier“ erscheinen, „das uns beobachtet“, auch wie ein „Objekt[.], das tatsächlich die Luft verdrängt“, statt dass wir noch „unsichtbaren Klängen“ zuhörten. Das „Tier“ kann wieder niemand anders als der Mensch sein, und was wir hören, lässt erneut an das Gequake von Vollidioten denken. Und glaubte man der Angabe des Konzepts, müsste Karst die pure Fortsetzung und Verschlimmerung dessen sein, denn jetzt können „die Verhaltensweisen und Eigenschaften dieses Dings oder Wesens [...] vollständig ausgeschöpft und bewusst empfunden werden“. „Und es wird sich als Monster erweisen“, verspricht der Komponist, „als Weltenfresser“.
Das ist aber gar nicht der Fall. Karst ist eine wunderbare Musik, die sehr stark an Photoptosis (1968) von Bernd Alois Zimmermann erinnert. Schwere langsame Felder, manchmal sehr dunkel, immer auch in Höhenflüge auslaufend. Nur die Zitate traditioneller Musik, die Zimmermann einstreut, fehlen. Dafür ist Karst weniger einförmig. Was es nach und nach für Seiten zeigt - wie es in geduldiger Nachtschwärze verharren kann und sich dann wieder mit einer Kraft aufbäumt, die stärker erscheint als alles (nur wohin sie sich wenden könnte, bleibt offen) -, das ist sehr beeindruckend. Ein „Monster“, ein „Weltenfresser“? Die Ausdrücke sind ja doppelbödig. Als Monster muss die Kraft der vorhandenen schlechten Welt erscheinen, die es wohl verdient, gefressen zu werden. Der Mensch, der in Uns-Apparatus als blödes Tier erscheint, zeigt hier eine sehr intelligente Geduld, die auch mal erschöpft sein kann.
Ein Satz im Konzept hat es angedeutet: „Wo ‚Uns-Apparatus‘ das Gefühl vermittelte, den Raum für kurze Zeit mit irgendeinem Geschöpf zu teilen, wird es in diesem Stück [Karst] um die Konfrontation mit diesem Geschöpf gehen.“ Man muss den Satz nur richtig herum lesen: Das Geschöpf ist der klügere Mensch der nächsten Zukunft, der sich mit den schlechten Verhältnissen konfrontiert. Eben noch hatten deren Träger es mit einem Menschen zu tun, mit dem sie den „Raum teilen“ konnten, ohne sich fürchten zu müssen. Aber das bleibt nicht so. Warum ist die Kraft des klügeren Menschen so groß? Es erklärt sich auch aus der Anordnung: „alle Musiker [tragen] einander gegenüber Verantwortung [!]. Sie sind in einem Netzwerk der Aktion miteinander verbunden und ihre Kommunikation untereinander entwickelt sich zu einer spürbaren, pulsierenden Kraft in der Musik. Jeder Musiker hat die Möglichkeit [!], das Tempo und den Verlauf des Stücks leicht zu verändern und diese Aktionen ziehen sich wie Wellen durch die Musik. Das Ensemble gestaltet das Stück buchstäblich in Echtzeit zusammen [gestaltet zusammen!] und komplexe musikalische Formen entstehen wie aus dem Nichts.“ Verantwortung gegeneinander statt Marktradikalismus, Möglichkeit statt tote Maschinenexaktheit, Zusammengestalten statt gegeneinander isoliertes zielloses Agieren – das ist es.
Dieser Konzertabend war beeindruckend.
Kommentare 7
Es ist schwierig, tiefgreifende und umfassende Sachverhalte oder Intentionen zum Ausdruck zu bringen. Da ich allem, was über die alltagskommunikativen Plattheiten hinausgeht, wohlwollend zugeneigt bin, werde ich mich hier nicht lustig machen über die seltsamen Lockrufe von Eventmanagern und Selbstauskünfte von Künstlern, mit denen eine Ware an den Mann gebracht werden soll. Die Marktgesetze sind grausam. Ein bißchen disziplinierter, weniger prätentiös, dürfte aber die Propagierung der Kunstwerke schon sein, auf vermarktungsstrategische Schaumschlägerei sollte man verzichten, was wirklich Kunst ist, kann davon nur beschädigt werden.
Was soll das Digitale Universum als Geburtsort neuer Zeitformen sein, was die digitalen Zeitformen, die unsere Lebenswelt zunehmend prägen und deren Vor- und Nachteile wir täglich zu spüren bekommen?
Mehr anfangen kann ich mit der Aussage: Es sei nämlich eine „naive Lösung, den Bogenklang an sich zu isolieren“, habe doch die „Bogenbewegung (Richtung, Geschwindigkeit, Position) [...] eine geringe akustische Auswirkung“. Akustisches und Optisches werden korreliert, auch wird wie im Musiktheater ein Gegenkonzept formuliert zum unsichtbaren, im Orchestergraben verschwundenen Orchester, man soll sehen, wie die Musik zustandekommt. Vergleichbar stehen sich im Ballett das klassische Konzept, daß die Tänzer scheinbar die Schwerkraft überwunden haben, und der Realismus, daß den sich akrobatisch bewegenden Tänzern der Schweiß aus den Poren trieft, gegenüber. Beides macht Sinn.
Lieber Michael, Du kennst sicher die Spieleranweisung in minimalistischer Musik an mehrere Pianisten, ihre Spielfiguren endlos zu repetieren und bei Fehlern einfach weiterzuspielen. Jeder verhaspelt sich einmal. Der Reiz solcher Stücke ist die raffinierte und doch ungeplante Änderung des Webmusters aufgrund von kleinsten Fehlern, die Kunst des Komponisten, die Möglichkeiten von Entwicklung kalkulieren und insofern beherrschen zu können. Es gibt vielerlei Bemühungen, den Zufall in die Komposition oder das Musizieren einzubeziehen, (scheinbare oder tatsächliche) Fehler zuzulassen ist eine davon. Man denke an Hindemiths Anweisung zum Schlußsatz der Suite 1922, an die komponierten oder improvisierten falschen Töne bei Strawinsky oder Thelonius Monk. Oder an Mauricio Kagel, der versierte Solisten auf neue, noch völlig uneingeübte exotische Instrumente ansetzt. Es gefällt mir allerdings weniger, wenn daraus eine hochtrabende Philosophie gemacht wird: „In diesen Schwankungen, Verzerrungen und Transpositionen (gemeint sind die Unzulänglichkeiten des menschlichen, nicht maschinellen Spiels) verbirgt sich der Klang unserer gescheiterten (humanen?) Natur“.
So, das mußte einmal gesagt werden zu der Unsitte der in Programmheften entfesselten verbalen Aufwertung, Aufbauschung einer Kunst, die aus sich selbst heraus sprechen sollte. Das ist kein Verdikt gegen eine reflektierende und Hilfestellung zur Rezeption gebende Kunstkritik, nur ein Einwand im Sinne von Susan Sontags against interpretation. Du hast natürlich recht, das gilt nicht für die Konzeptkunst, bei der der Kunstrezipient erst die ideale Realisierung des Konzepts imaginieren muß, was, wenn es ihm gelingt, dann eben keine Überinterpretation des Konzepts wäre.
Zum Schluß noch ein paar Bemerkungen zur Musik, um die es eigentlich gehen sollte, die zu hören ich leider keine Gelegenheit habe in meiner Provinz; in Dein musikalisches Urteilsvermögen habe ich aber volles Vertrauen. Über das, was ich Geräuschkunst im Unterschied zur musikalischen nenne (der Organisation von im Wesentlichen nichtperiodischen versus im Wesentlichen periodischen Vorgängen im akustischen Raum), haben wir uns schon einmal unterhalten. Da ist die erste Frage, die sich mir stellen würde, hören wir die Geräuschkunst als eine eigenständige, von der musikalischen emanzipierte, in der nicht mehr die gleichen Kriterien der kontrapunktischen oder Ähnlichkeitsbeziehungen in der diachronen Organisation von Periodischem (Melodik, Rhythmik) oder der synchronen (Harmonik) eine Rolle spielen, sondern eigene, und welche sind das, oder wird dieses akustische Geschehen nur im Sinne einer abstrakteren Musik gehört, also mit den gleichen Kriterien beurteilt. Letzteres ist selbstverständlich immer, wenn auch mehr schlecht als recht möglich, ich habe schon öfters auf die tonale Reinterpretation von atonaler Musik hingewiesen, von Schönberg selbst mit pädagogischer Absicht angeregt. Das wäre ein interessantes Blogthema für die an der musikalischen Kunst Interessierten.
Eine zweite Frage noch spezieller zu diesem Konzert betrifft das möglicherweise in die Irrelevanz gedrängte künstlerische Subjekt. Oder, wie Du im Falle des Stücks Karst nahelegst, die spontane Entstehung eines künstlerischen Kollektivsubjekts. Ist die Musik auskomponiert, wie stark ist sie durch ihre Notation determiniert, oder liegen nur Spielanweisungen vor, gibt es nur einen komponierten Rahmen für die freie Improvisation? Wie groß ist, etwa in dem von Dir vorgestellten Duo der zwei Celli der Anteil des Maschinenprogramms in der live-Bearbeitung des musikalischen Geschehens, eine seit Stockhausen übliche Verfahrensweise? Daran schließt sich die Frage an, wird von dieser Musik der Eindruck der Notwendigkeit ihrer Form erzeugt, kann in der offenen Produktionsweise eine überzeugende Gesamtgestalt entstehen? Eine Frage, die von den Meisten wohlnegativ beantwortet würde, wo ich aber hoffe, daß sich das am Ende bei größerer Vertrautheit als Irrtum erweist. Die Mitglieder der modernen Ensembles kommunizieren und interagieren so schlafwandlerisch sicher, daß mich Dein Urteil über das besprochene Konzert nicht überrascht.
Wer diesen Murks liest der weiis was man nicht braucht. Ich hoere zur Karwoche die Johannes Passion dirigiert von Nikolaus Harnoncourt der leider in den Musiker Himmel gehoben wurde in diesem Jahr. Das kann man als 'Musik' bezeichnen. Harnoncourt hat das mal die 'Nabelschnur des Menschen zur Gottheit" genannt. Der Rest ist Geraeusch. Und zumeist unangenehmes wie oben beschrieben. Kratzen auf der Violine. Nein Dankeschoen. Modern? Ich weiss nicht. Weg damit.
Schon im Projekt Moderne war die Musik nichts ohne die unterliegende Theorie. Ob eine/r das goutieren will hängt auch ein bisschen davon ab, wie die eigenen Gehörgewohnheiten geschult sind - die Beschreibung von Moguillanskys Musik klingt jedenfalls so, als ob sich ein paar Stunden Lachenmann als Vorbereitung durchaus lohnen, vielleicht auch ein paar der Funktionen von Koenig. Man kann sich jedenfalls an alles gewöhnen, die Leute hören ja auch Modaljazz und nach 1000 Stunden Überdruss klingt auch Stockhausens Carré irgendwie sinnlich.
Kunst ist die Praxis einer ästhetischen Theorie. Dumm ist nur, wenn die ästhetische Theorie Scheiße ist.
Danke für diesen wieder hochinteressanten Bericht.
Der im Grunde die Tragik der sich aufösenden Musikkultur anschaulich illustriert. Da ist das durchaus begrüssenswerte Bestreben sich mit aktuellen Zeitfragen zu beschäftigen, der aber dann in einem merkwürdigen Widerspruch zur Eventkultur der Veranstaltung und zum ästhetichen Individualismus der Künstler steht.
Man kann sich ja nicht mal darauf einigen, was jetzt eigentlich diskutuert werden soll. Jeder hält kurz seine diskursive Wunderkerze hoch, doch bevor man überhaupt mal seine Gedanken dazu gesammelt hat, ist der Tross schon zum nächsten Selbsterfahrungstrip oder zur nächsten steilen politischen These weitergezogen.
Was sie sehr schön in Bezug auf Karst beschreiben, ist im Grunde eine Gesellschaftsutopie, in der Individuum und kollektive Verantwortung in lebendigem gegenseitigem Bewusstsein bleiben. Doch eben um die Verantwortung ist es schlecht bestellt. Keiner will sich mehr zu etwas bekennen. Jeder diskursive Ansatz wird durch das Infragestellungsdogma der ästhetischen Moderne wieder neutralisiert.
„Illustration der sich auflösenden Musikkultur“, so sehe ich das eben auch. Ich war erleichtert, daß doch wenigstens so etwas wie Musik gegen das Konzept zu hören war. Dieses ist ja wichtig genug, wenn auch wie gesagt eher gesellschaftspolitisch als musikalisch. Man muß aber auch sagen, daß die MaerzMusik seit dem vorigen Jahr sehr einseitig geworden ist und schwerlich die Breite der kompositorischen Entwicklung repräsentiert. Ich habe ja dieses Jahr auch eine Stippvisitive beim Festival „Ultraschall“ gemacht, da kann man noch Musik hören, und auch da ist es die neueste. Ich denke, nächstes Jahr werde ich mehr Zeit auf „Ultraschall“ verwenden.
Erhellend Ihr Begriff „Infragestellungsdogma der ästhetischen Moderne“, obwohl man zugleich das Gefühl hat, man kennte das längst. Ist aber wohl gar nicht so, denn ein Infragestellungsdogma ist nicht dasselbe wie eine vermeinte Notwendigkeit, „das Material“ immer weiter zu entwickeln. Eigentlich ist „Infragestellungsdogma“ ein sprechendes Paradox, weil die Infragestellung mit der aus ihr sich ergebenden Antwort zur vorläufigen Ruhe kommen und erst dann wieder, wenn die Antwort verbraucht zu werden beginnt, die nächste Fragestellung entspringen sollte; wenn es stattdessen zum Dogma wird, infragezustellen, hat man es in Wahrheit gar nicht mit Fragen zu tun, ist Fragen vielmehr zum Deckwort für den (kapitalistischen) Unendlichkeitsdiskurs geworden (es gibt unendlich viele Möglichkeiten und man versucht zwangshaft „alle“ zu realisieren). Die Akteure glauben aber sicher wirklich, nur ihre strikte Wahrheitsliebe treibe sie an.
Ich erinnere mich an die frühere Diskussion. Ich weiß gar nicht mehr, welchen Standpunkt ich da eingenommen hatte. Jedenfalls habe ich diesmal wirklich die Geräuschkunst „im Sinne einer abstrakteren Musik gehört“. Ich war ja selbst erstaunt darüber. Und mein Eindruck war eher, der Komponist konnte gar nicht anders. Man hätte sonst ja auch keine Chance gehabt, es zu verstehen. Irgendeine Brücke zwischen dem Neuen und Alten muß es schon deshalb immer geben, weil das Neue sonst nicht kommuniziert werden könnte. Bei Moguillansky kam aber, wenn ich ihn vertretbar verstanden habe, hinzu, daß die Spannung des Alten und Neuen eigentlich sein Thema ist, nicht darin eben nur, daß die Streicher den Bogen in gewöhnlicher Geschwindigkeit führten, wie ich schrieb.
Die Musik von Karst ist in der Tat nicht voll determiniert, sie läßt den Instrumentalisten einigen Spielraum. Der Komponist beschreibt das näher, ich hab das Programmheft nicht mehr, es steht aber auch im Internet. Das Duo der zwei Celli geht von einem auskomponierten Cellosolo aus, das in gewohnter Weise, nur kompositorisch modern, gespielt wird, die live-Bearbeitung durch das zwei Cello ist als solche in der Tat nicht neu, neu ist aber, daß dies Cello wieder mit dem Tonband bespannt ist. Das erste Cello spielt sehr schnelle Gesten und das zweite tonbandspielende bringt in etwa gleich schnelle Musik zu Gehör. Wenn ich das technisch richtig verstehe, braucht das zweite den Bogen nur langsam zu führen, um die Geschwindigkeit der schnellen Musik des ersten zu treffen, genauso wie „Aufwärtsgerichtetes abwärts wiedergegeben wird“. Man hat hier tatsächlich den Eindruck, einem traditionellen Duo zuzuhören, nur daß der Projektor (siehe oben das Bild) immerzu irrlichternd dazwischenflackert.
Ich hatte es ja im Text zitiert: "Jeder Musiker hat die Möglichkeit, das Tempo und den Verlauf des Stücks leicht zu verändern und diese Aktionen ziehen sich wie Wellen durch die Musik."