Das ­Pattspiel

NRW-Wahl Wer die Macht im Bund hat, verliert sie in den Ländern – ein Teufelskreis, der sich durchbrechen lässt

Die Wahl in Nordrhein-Westfalen hat wieder einmal über die Bundespolitik mitentschieden. Begrüßen wir das, ärgern wir uns darüber? Daran, ob CDU und FDP noch einmal würden gewinnen können, hat es gehangen, ob die Berliner Koalition sich in Zukunft noch auf eine Unions-FDP-Mehrheit im Bundesrat stützen kann. Gerade diese Wahl ist ein Beispiel für gleich zwei charakteristische Mechanismen: Es ist die erste nach dem Antritt einer neuen Bundesregierung, und eine solche wird häufig zur Abstrafung derselben genutzt – so verloren Anfang 1999 die Parteien der kaum gebildeten rot-grünen Bundesregierung die Wahl in Hessen und damit die Bundesratsmehrheit. Zweitens galt eine Wahl in NRW, dem bevölkerungsreichsten, am dichtest besiedelten Land der Republik, immer als trendsetzend, wenn nicht vorentscheidend für die Bundespolitik. So trat nach der letzten NRW-Wahl Bundeskanzler Schröder zurück.

Je nach Parteipräferenz kann man dergleichen goutieren oder enttäuschend finden. Man kann sich auch grundsätzlich ärgern, weil der Parteienstaat den Föderalismus so sehr im Griff habe und, wie manche meinen, fast zur Farce werden lasse. Doch gerade NRW zeigt, dass in der Landespolitik die parteiliche und die föderale Seite beide durchschlagen. Wenn Politiker, egal von welcher Partei kommend, in ein Amt gewählt werden, wirkt sich die Amtslogik auf ihr Verhalten aus, hinter der die Logik der Institution steht, zu der das Amt gehört. Das lässt sich gerade in NRW beobachten.

Zu diesem Bundesland gehört das Ruhrgebiet, dort konzentriert sich seit mehr als einem Jahrhundert die früher so genannte Arbeiterklasse. Dadurch sind der Politik jeder Partei Bedingungen gesetzt: Sie muss dem Unmut der Klasse vorbeugen, indem sie ihr entgegenkommt, materiell durch Verbesserung ihrer Lebensbedingungen oder wenigstens verbal. Der Umbau des Lands der Kohle in eines der Kultur und der Dienstleistungen fiel in die Amtszeit des Sozialdemokraten Johannes Rau, doch ein Christdemokrat hätte dasselbe auch tun müssen und sicher tatsächlich getan. Wichtigeres konnte in diesem Bundesland gar nicht geschehen. Im übrigen führten die Lebensbedingungen der Menschen nicht dazu, dass immer eine bestimmte Partei, der man Arbeiternähe zuschreibt, gewählt worden wäre. Umgekehrt nahmen auch Parteien ohne solche Nähe, im Fall dass sie gewählt wurden, mehr davon an als gemessen an ihrer Gesamtpolitik im Bund zu erwarten war.

Lautere Gesinnung und nützliche Idioten

So erhob schon Karl Arnold, CDU, der das Land zwischen 1947 und 1956 regierte, den Anspruch, NRW habe das „soziale Gewissen“ der Bundesrepublik zu sein – und wandte sich gegen die Wirtschaftspolitik seiner im Bund regierenden Parteifreunde Adenauer und Erhard. Ganz analog stilisierte sich Jürgen Rüttgers zum neuen sozialen Gewissen der Union. Er klagte den „Turbokapitalismus“ an, kritisierte die Umstellung der Renten auf Aktien und distanzierte sich jüngst sogar vom Slogan „privat vor Staat“, dem ausdrücklichen Motto der von ihm geführten Landeskoalition. Man schrieb ihm halb spöttisch zu, er geriere sich als „Arbeiterführer“, wenn er etwa vor wütenden Opel- oder Nokia-Mitarbeitern auftrat. Soll man sagen, das sei alles Lug und Trug gewesen? Oder er habe, ungeachtet seiner persönlich vielleicht lauteren Gesinnung, im Kontext der Bundesunion die Rolle des nützlichen Idioten gespielt? Dieselbe Frage stellt sich für den FDP-Politiker Pinkwart: Ist es nur Opportunismus, was ihn an Westerwelles Autorität rütteln lässt?

Doch man schreibe den Parteien nicht mehr Bedeutung zu, als sie verdienen. Die Prägung durch Landesverhältnisse kann durchaus dazu führen, dass ein Ministerpräsident im Bundesrat anders abstimmt als von seiner Bundespartei gewollt. Und das ist zu verallgemeinern: Die Institutionslogik spielt immer eine Hauptrolle. Wenn ein CDU-Mitglied Bundesverfassungsrichter wird, kann er sich vom Recht veranlasst sehen, gegen ein Gesetz einer CDU-geführten Bundesregierung zu stimmen. Wenn er Bundespräsident wird, mag er sich weigern, manche ihm vorgelegte Gesetze zu unterzeichnen.

Parteienmacht und Institutionenlogik

Die Überformung von Parteilogik durch Institutionslogik ist manchmal sogar höchst ärgerlich, so wenn die Wähler endlich einen Regierungswechsel im Bund erreicht haben und dann zusehen müssen, dass die Neuen es gar nicht viel anders als die Alten machen. Umgekehrt wäre sie manchmal höchst wünschenswert: Wenn es, wie von Rudolf Bahro vorgeschlagen, einen „Ökologischen Rat“ gäbe – also eine dritte Kammer neben Bundestag und Bundesrat, die wie diese das Recht hätte, Gesetze zu verhindern und selbst einzubringen –, könnte man davon ausgehen, dass er auch tatsächlich ökologische Politik beförderte. Ungeachtet dessen, dass natürlich auch er aus Christdemokraten, Sozialdemokraten, Liberalen, Grünen und Linken bestünde.

Parteien sind keine allmächtigen Kollektivsubjekte. Mächtiger, als manche Parteitheorie ihnen zuschreibt, sind sie wohl. Bei ihnen nur so viel Macht zu vermuten, wie Institutionslogik ihnen übrig lässt, wäre einseitig, denn das Umgekehrte gilt auch: Institutionen wären ohne Parteien funktionsunfähig. Sie könnten ihre jeweilige Logik gar nicht ausspielen, würden sie nicht als der Verbund, den man Staat nennt, miteinander zusammenhängen und sich gegenseitig stützen: Dieser Verbund rührt daher, dass in allen dieselben Parteien zugegen sind. Spätestens hier muss man sehen, dass ein „Parteienstaat“ gar nicht nur verdammenswert ist. Und wird dann erst hinzufügen, auch seine Grenzen seien begrüßenswert. Hat man nicht sogar beobachtet, dass die Diktatur einer einzigen Partei die Eigenlogik der den Staat bildenden Institutionen nie ganz beherrschen kann?

Parteien sind auch nicht nur Apparate zur Hervorbringung von Staatsmännern und -frauen, die dann lediglich Staatspolitik treiben und ihrer „Parteibasis“ Zustimmung dafür abpressen. Bis zu einem gewissen Grad sind sie es, und der Grad kann gesteigert werden, wie zuletzt Gerhard Schröder illustrierte. Aber sie sind es nicht total. Schröder musste auch deshalb gehen, weil seine Partei nicht mehr hinter ihm stand. Es wäre doch geradezu gut, wenn Parteien auch einmal etwas mehr Eigengewicht entfalten könnten: solche Parteien, die den Politikwechsel nicht nur versprechen, sondern durchsetzen und sich von Institutionslogik nicht aufhalten lassen. Aber auf Parteien, die mehr tun als, einmal an der Macht, doch bloß die Anpassung zu organisieren, wartet man bisher vergebens.


Ersatzweise kommt es zu dem frustrierenden Spiel, dass Wähler ihre Wut an der einen angepassten Partei durch Fahnenflucht und Überlaufen zu einer anderen auslassen. Ja, dass sie das Regieren selbst nach Möglichkeit vereiteln, indem sie Bundestag und Bundesrat gegeneinander ausspielen. Das ist ihre Art, sich der Institutionslogik zu bedienen. Um das Schlimmste zu verhüten, kombinieren sie die schlechten Seiten der Parteien und Institutionen. Erste Umfragen nach der NRW-Wahl haben zwar ergeben, dass die Mehrheit landespolitisch entschieden haben will. Nur 15 Prozent wollen einen Denkzettel Richtung Berlin gesandt haben. Für 78 Prozent sei die Schulpolitik am wichtigsten gewesen. Doch da sind Zweifel erlaubt. Allzu auffällig ist die Parallele zur Hessenwahl 1999, neuerdings auch zum Verlust der demokratischen Senatsmehrheit in der ersten Wahl in einem US-Staat nach Obamas Amtsantritt. Hinter den immer ganz verschiedenen Absichten, die die Wähler sich einreden, dürfte dort wie in Deutschland das tiefere Motiv, die „checks and balances“ auszutarieren, am wirksamsten sein.

Man kann es den Wählern nicht verdenken, da die Parteien schon so oft das Vertrauen enttäuscht haben. Dennoch ist es ein Teufelskreislauf. Erzwungen durchs erneute Patt der beiden deutschen Kammern, kommt jetzt wieder die faktische Große Koalition auf uns zu. Es ist immer dasselbe. Sollte eine Partei wirklich einmal ernsthaft den Politikwechsel anstreben, sie müsste den Kreislauf zum Thema machen und die Wähler offensiv auffordern, das Pattspiel zu beenden.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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