Das Prinzip Führung

Leitfrage Der Ruf nach Führung hat mit rechts oder links nichts zu tun. Politik braucht kein Charisma, aber den Mut, radikale Schritte zu gehen

Angela Merkel wird Führungsschwäche vorgeworfen. In der Union sind viele enttäuscht, weil sie sich nicht gegen den Koalitionspartner durchsetzt, weder als Marktradikale noch als Wertkonservative. Dabei kann sie in einer Großen Koalition nicht mehr tun, als die Arbeit der Regierung zu moderieren und zugleich ihre eigene Überzeugung durchblicken zu lassen. Das tut sie, insoweit ist sie eine gute Besetzung. Dennoch sind die Vorwürfe in einem tieferen Sinn berechtigt. Merkels wirkliche Schwäche besteht darin, dass sie auch die Wirtschaftskrise nur moderiert, statt einen Ausweg zu weisen. Aber tut das denn jemand anders?

Die Führungskrise ist allgemein. In der Bundesrepublik gibt es ein Verfassungsorgan, das direkt dazu da ist, der Gesellschaft Wege zu weisen – den Bundespräsidenten. Auch der hat nichts vorzutragen. Seine jüngste Berliner Rede war nur die Zusammenfassung gängiger Feuilletons aus jüngster Zeit. Wenn man Politikern wie Horst Köhler zusieht, hat man den Eindruck, Führung sei vor allem eine Frage der Schauspielerei. Das Podium vor altem kirchlichem Gemäuer, väterliche Worte, ein eindrucksvolles Bild, mehr nicht. Merkel ist ein etwas anderer Fall. Sie ist unprätentiös, man vergisst nie, dass sie Physikerin war. Doch was sie sagt, ist mehr Gestus als Inhalt.

Sie verkündet gern Prinzipien und Richtlinien. Das hat sie bei ökologischen Fragen so gehalten, das tut sie jetzt in der Wirtschaftskrise. Gestus als Ersatz für Führung scheint die Folge ökonomischer Machtverhältnisse sein. Was die Ökologie anging, hat man immer wieder gesehen, wie Merkels guter Wille sich nur in Prinzipien niederschlagen konnte, weil es einen harten politischen Kern gab. Da war ihr Zurückweichen vor der Autoindustrie. Heute erfleht dieselbe Industrie ihren Schutz, aber nach dem Motto „Wasch mir den Pelz und mach mich nicht nass“. Die Politiker sollen also nach dem Weg der Trockenwäsche suchen. Gibt es ein Kriterium, an dem man diejenigen erkennt, die sich auf so etwas einlassen? Ja: dass sie Prinzipien aufstellen, wie Merkel. Sie werfen Fragen auf und bleiben die Antwort schuldig, weil die Fragen so gestellt sind, dass sie unmöglich beantwortet werden können.

Wenn man es so formuliert, sieht man, dass es nicht rechts ist, „Führung“ zu verlangen. Es ist allgemein wahr, dass Probleme nur gelöst werden, wenn es einen Vorschlag gibt, den sich die meisten zueigen machen können. Das heißt, dem sie folgen, freiwillige Gefolgschaft leisten. Wer so einen Vorschlag macht, der führt also. Bert Brecht wollte es auf seinen Grabstein gesetzt haben: „Er hat Vorschläge gemacht. Wir haben sie angenommen.“ Freilich sollten linke Vorschläge die Eigenart haben, falsche Fragen wie die nach der wasserlosen Pelzwäsche zurückzuweisen. Sie werden im Idealfall Antworten geben, die überraschend sind, und man wird sagen: „Danach war gar nicht gefragt worden!“ Das heißt, ihr Vorschlag hat auf die Etablierung einer neuen Fragestellung gezielt. Das ist der linke Begriff von Führung oder, wie Linke lieber sagen, von „Hegemonie“.

Was das bedeutet, kann man heute in einem Vergleich der US-amerikanischen und chinesischen Politik illustrieren. Die USA wollen „Führungsmacht“ sein. Präsident Obama erkannte, dass sie es nicht mehr sind, und hat den Anspruch wieder erhoben. Doch wo sind seine Vorschläge? Er hat bisher nur seine Schauspielkunst gezeigt. Sein Standbild in der Tagesschau lässt ihn als Herrscher erscheinen; man hat den Eindruck, sein Blick schweife in weiteste Fernen. Er gleicht geradezu einer Skulptur von Bernini. Vom chinesischen Notenbankchef Xiaochuan kann man das nicht behaupten. Dieser unauffällige Herr hat aber einen wirklich bedeutenden Vorschlag gemacht, der direkt ins Zentrum der Krisenprobleme zielt.

Er schlägt eine neue Leitwährung vor, die nicht von einem einzelnen Land ausgegeben, dafür aber eine „Deckung“ haben soll, nicht in Gold, sondern in einer Gruppe besonders wichtiger Rohstoffe. Der Vorschlag antwortet auf eine Frage, die Jahrzehnte lang verschüttet war (denn schon Keynes hatte sie gestellt): Wie kann man verhindern, dass sich Geld und Derivate auf den Finanzmärkten ins Unendliche vermehren? Antwort: Indem man beschließt, dass Geld „gedeckt“ sein muss; dadurch wird es zur Endlichkeit gezwungen; nur darf es sich nicht um eine Golddeckung handeln. China ist nun wirklich kein „linkes“ Land, aber der Rückgriff auf Keynes, der ein Linker war, zeigt seinen Führungsanspruch. Der Vorschlag ist auch dadurch hegemonial, dass er zwar allen etwas abverlangt, aber auch alle einbezieht. China heizt mit diesem Vorstoß keine Konflikte an, es steigt eben nicht, wie manche früher gehofft haben, vom Dollar auf den Euro um.

Gäbe es doch auch im Westen Politiker, wahrhaft linke Politiker, die entscheidenden Fragen herauszuarbeiten! Sie müssten dann nicht einmal Charisma ausstrahlen. Politiker, die weder an Symptomen herumdoktern noch die totale Veränderung anstreben, sondern „nur“ zeigen, was der radikale nächste Schritt wäre. Mit einem Wort, die keine Schauspieler sind, sondern wirklich führen.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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