Meine Berichterstattung zum Musikfest kommt dieses Jahr etwas schleppend in Gang, weil ich auch anderweitig beschäftigt bin. Auch morgen wieder muss ich pausieren. Danach werden die Abstände zwischen den Beiträge aber kürzer sein. Ich habe in der Zwischenzeit weitere Konzerte mit Musik von Arnold Schönberg besucht: am Samstag das Vierte Streichquartett, in dem er die ausgearbeitete „Methode des Komponierens mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen“ anwendet, am Montag die noch tonale Tondichtung Pelleas und Melisande, das Werk, das auf die hier schon besprochene Verklärte Nacht unmittelbar gefolgt war. Das Konzert, das ich gestern besuchte, bezog sich auf Schönberg-Musik, ohne dass sie selbst vorkam: Pelléas et Mélisande von Claude Debussy und der zweite Aufzug des „Bühnenweihfestspiels“ Parsifal von Richard Wagner. Die starke Verschiedenheit der Fassungen, wenn man es so nennen will, von Debussy und Schönberg ist natürlich von höchstem Interesse. Von Wagner war Debussy ursprünglich hingerissen, mit seiner Oper Pelléas et Mélisande wollte er sich von ihm radikal emanzipieren. Adorno, und wohl nicht nur er, hat aber herausgehört, dass sie sich in Vielem wie ein „Schatten“ des Parsifal anhört. Schönbergs Fassung wiederum steht noch ganz in Wagners Bann. Sie ist in Manchem ein Kommentar zum Vorspiel von dessen Tristan und Isolde.
Auf diese Bezüge komme ich noch ausführlicher zu sprechen, heute aber gehe ich zum vorigen Donnerstag zurück, dem Eröffnungskonzert des Musikfests, und nehme den Faden da wieder auf, wo ich ihn am Freitag liegenließ. Das zweite Werk von Schönberg, das Daniel Barenboim mit seiner Staatskapelle Berlin aufführte, waren die Fünf Orchesterstücke op. 16 aus dem Jahr 1909. Vorweg kann gesagt werden, dass auch dieses Werk eine phantastische Interpretation erfuhr; auch wer gar nicht fähig wäre, es zu beschreiben, muss hingerissen gewesen sein von der Emotionalität, zugleich aber auch Klarheit, mit der Barenboim diese expressive-expressionistische, in „freier Atonalität“ komponierte Musik zu Gehör brachte. Es gibt übrigens eine Einspielung von ihm aus dem Jahr 1994, die seine Tugenden bereits erkennen lässt; aber ich glaube, seine Darbietung am vorigen Donnerstag war noch eindrucksvoller. Was muss geschehen, wenn ein Dirigent versucht, dies Werk von insgesamt nicht einmal zwanzigminütiger Dauer durchsichtig zu machen? Mir fällt ein Bild ein, das vielleicht einen ersten Eindruck der Schwierigkeit vermitteln kann: Man stelle sich ein Mosaikbild vor, dessen Mosaike nicht bloß nebeneinander stehen, sondern sich in einem dreidimensionalen Raum bewegen und dabei auch verändern, ohne dass sie in der Veränderung nicht mehr wiedererkannt werden könnten und ohne dass das Gesamtbild irgendwo aufhörte, dieses Gesamtbild zu sein - also ohne dass die Mosaiksteine aufhören, in jedem Augenblick der musikalischen Entwicklung genau das zu sein, was man sich unter Mosaiksteinen vorstellt. Dieser Charakter des Werks kann im Konzertsaal erlebt werden, denn man hat den Eindruck, eine Wiedergabe auf der CD müsste sich einer Stereoanlage mit mindestens acht Lautsprechern bedienen. (Auf diesem Gedanken kam ich bei häufigen Soloeinwürfen der Blechbläser, die sich über die breite letzte Orchesterreihe verteilten.)
Der Kompositionszeit war bei Schönberg eine Krise vorausgegangen; Anton Webern sprach 1932 in einem Vortrag von einer „Katastrophe“. Schönberg selbst schrieb 1910, ihm habe ein „Ausdrucks- und Formideal“ vorgeschwebt: „Es zu verwirklichen, gebrach es mir bis dahin an Kraft und Sicherheit.“ Dass es wirklich eine Krise war, ist an den Gemälden, oft Selbstportraits mit schreckhaft aufgerissenen Augen, die er in dieser Zeit zu malen beginnt, unschwer zu erkennen. Sie illustrieren sein „Ausdrucks“bedürfnis, weniger seinen Formsinn, in fast unerträglicher Weise. (Willi Reich, Arnold Schönberg oder der konservative Revolutionär, Wien Frankfurt Zürich 1968, S. 69 ff.) Ja, man könnte meinen, auch die Fünf Orchesterstücke entbehrten gänzlich der Form, hatte Schönberg sie doch mit den Worten annonciert: „Ich glaube, diesmal ists wirklich unmöglich, die Partitur zu lesen ... Ich verspreche mir allerdings kolossal viel davon, insbesondere Klang und Stimmung. Nur um das handelt es sich – absolut nicht symphonisch, direkt das Gegenteil davon, keine Architektur, kein Aufbau. Bloß ein ununterbrochener Wechsel von Farben, Rhythmen und Stimmungen.“ Indessen geht es an der Sache etwas vorbei, wenn man sagt, er beschreibe hier „die Neuerungen seines Stils mit offenen Worten“. Denn diese Annonce findet sich in einem Brief an Richard Strauss, den Schönberg damit zur Aufführung der Orchesterstücke bewegen wollte. (Wilhelm Sinkowicz, Mehr als zwölf Töne. Arnold Schönberg, Wien 1998, S. 110)
Er meinte Dinge zu sagen, von denen Strauss erfreut sein würde. Zum Beispiel „[d]aß das neue Werk ‚absolut nicht symphonisch‘ sei, mag mit Rücksicht auf die von Strauss seinerzeit abgelehnte Uraufführung der Kammersymphonie formuliert gewesen sein“ (Manuel Gervink, Arnold Schönberg und seine Zeit, Laaber 2000, S. 193). Strauss lehnte freilich erneut ab. Es ist aber nebenbei interessant zu sehen, dass es nicht etwa, wie man meinen könnte, vonseiten Schönbergs eine verrückte Idee war, sich an Strauss zu wenden und von ihm Unterstützung zu erhoffen. Da täuscht der Blick, den man von heute aus zurückwirft: „Die Zeitgenossen empfanden zwar das kompromisslos Fortschrittliche bei Schönberg und die sukzessive Rückwendung, wie sie Strauss nach seinen ‚modernsten‘ Werken, den Opern Salome und Elektra, vollzog, aber noch war der Rosenkavalier, Sinnbild der Trendumkehr und der endgültigen Trennung von Avantgarde und romantischer Traditionsbewahrung, nicht geschrieben.“ Und wiederum hatte auch Schönberg, wie wir sahen, die Romantik noch wenige Jahre zuvor auf seine Art bewahrt. „Mochte der Graben zwischen diesen Orchesterstücken und der nostalgischen Klangsprache Strauss’scher symphonischer Dichtungen auch tief sein, er schien noch nicht unüberwindlich – zumindest aus Schönbergs Perspektive.“ (Sinkowicz, S. 118)
Nein, die Orchesterstücke sind um Form durchaus bemüht. So wird in ersten Stück „das Ostinato zum satzbestimmenden Merkmal, vor dem die thematische Arbeit zurücktritt“ – wie überhaupt „die Bildung ausgedehnter Ostinatofiguren [...] ein wesentliches Gestaltungsmerkmal des Zyklus‘ darstell[t]“ -, und auch “die klangfarblichen Möglichkeiten des Orchesters [werden] ausgiebig genutzt, wodurch ein strukturierendes Mittel gewonnen wird“ (Gervink, S. 194). Man muss sich das so vorstellen, dass die Ostinatofiguren nicht etwa durchgängig zu hören sind, wie man es aus älterer Musik kennt, sondern nur jeweils als ein Mosaik zu all dem anderen hinzutreten. Formbestimmend werden sie in der Art, wie eine chaotisch erscheinende Landschaft im Übergang vom Abend zur Nacht ein bestimmtes Aussehen gewinnt, wenn man sie in Abständen in einen scharfen Lichtkegel taucht, und ein anderes, wenn das Licht von woanders einfällt.
Man kann hierbei etwas von der Emotionalität der Orchesterstücke erahnen, über die ich sonst keine Worte verlieren will, denn es ist besser, wenn jede(r) sich selbst einen Eindruck verschafft. Denn beim dritten Stück, den „Farben“, reduziert sich das Ostinato auf einen kurzen Moment am Ende, wo er auf das Ticken einer Uhr scheint anspielen zu wollen. Mein Höreindruck ist, dass alle Ostinati auf die unbarmherzig verrinnende Zeit verweisen. Etwas Schreckliches scheint erwartet zu werden – dem ersten Stück gab Schönberg (nachträglich) den Titel „Vorgefühle“ - und es tritt mit dem vierten Stück, das „Peripetie“ überschrieben ist, auch ein. Da wir bei den Titeln sind, der fünfte ist „Das obligate Rezitativ“. Dazu schreibt Schönberg 1912: „Das Unaussprechliche sagt man in der freien Form. In der nähert es sich der Natur, die auch unfaßbar und trotzdem wirksam ist.“ (zitiert bei Gervink, S. 199) Was das mit einem Rezitativ zu tun hat? Nun, dieses ist ein Sprechen und erinnert somit daran, dass es Dinge gibt, die unaussprechlich sind.
„Wenn Schönberg das Rezitativ als stellvertretend für eine freie Form ansah (es ist unnötig zu erwähnen, dass im fünften Orchesterstück keinerlei rezitativische Passagen erscheinen) und ‚obligat‘ im Sinne etwa von ‚verbindlich‘, dann läßt sich dieses Stück im Sinne romantischer Musikästhetik als ‚sprechend‘ interpretieren, sprechend im Sinne einer eigenen, über der Wortsprache stehenden Sprache. Dies wiederum lässt sich mit der Aufgabe der formalen Verfahrensweisen in Verbindung bringen, die das fünfte Stück gegenüber den ersten vier heraushebt. Das Bestreben, einen Gedanken in ‚musikalischer Prosa‘ zum Ausdruck zu bringen, muss zwangsläufig zur Aufgabe von Formschemata führen, die an der Instrumentalmusik orientiert waren.“ (ebd.)
Der letzte Satz wäre zu hinterfragen, da doch auch schon von der Musik Johannes Brahms‘ gesagt werden kann, sie gehe zu etwas wie musikalischer Prosa über – und wenn ich mich nicht ganz falsch erinnere, hat gerade Schönberg das einmal in einem Aufsatz hervorgehoben: Dieses Prosaische und der Umstand, dass Brahms nach dem Schönbergschen Ausdruck in „entwickelnder Variation“ komponiert, sind dasselbe -, ohne dass Brahms deshalb die tradierten Formschemata über Bord werfen muss. Aber lassen wir es dabei; ich möchte nur noch zum Schönbergschen Jahr 1909, in dem die Orchesterstücke komponiert wurden, etwas berichten. Wie explosiv sich dieses Jahr für den Komponisten gestaltete, kann man aus den Kompositionsdaten ersehen. Vorausgeschickt sei, dass der Übergang zum Komponieren in „freier Atonalität“ auch bereits in Teilen der Fünfzehn Gedichte aus „Das Buch der hängenden Gärten“ von Stefan George, op. 15, und der Drei Klavierstücke op. 11 zutagetritt. Diese Werke wurden nahezu gleichzeitig komponiert, und zur selben Zeit war Schönberg auch noch mit den wundervollen Gurreliedern, dieser noch gänzlich tonalen spätromantischen Komposition, befasst.
„Am 19. bzw. 22. Februar hatte Schönberg die Komposition der Nummern eins und zwei der Drei Klavierstücke, op. 11 abgeschlossen. Zu diesem Zeitpunkt waren die George-Lieder noch nicht vollständig beendet, deren Nummer fünfzehn Schönberg erst nach den ersten beiden der Drei Klavierstücke abschloß. Dieses Datum liegt wiederum nur wenige Tage später: es ist der 28. Februar. Das dritte Klavierstück wird [...] erst im August beendet werden; zuvor komponierte Schönberg in gewohnt hohem Tempo die Fünf Orchesterstücke [...]: Vom ersten Stück beendete er das Particell am 23. Mai und die Partitur am 9. Juni, das zweite Stück wurde einige Tage später, am 15. Juni, und das dritte am 1. Juli in Steinakirchen, seinem Ferienaufenthalt, fertiggestellt. Schönberg hielt hier zunächst inne und wandte sich am 14. Juli 1909 in einem Brierf an Richard Strauss“, wovon wir schon gesprochen haben. „Drei Tage nach dem Brief, am 17. Juli 1909, beendete er die Particell-Niederschrift des vierten Stücks (die Partitur nur einen Tag später). – [...] Bevor aber das fünfte und letzte Orchesterstück abgeschlossen wurde, komponierte Schönberg das dritte der Drei Klavierstücke, op. 11, das den Schlußvermerk des 7. August trägt. Und schon am 11. August folgte der Abschluß des fünften Orchesterstücks. – Ein Erholungsurlaub war das nicht: Zwischen dem 27. August und dem 12. September schrieb Schönberg überdies in großer Hast sein Monodram Erwartung.“ (a.a.O., S. 192 f.)
Am 14. September 2015, das ist der kommende Montag, kann man Erwartung in Berlin anhören, und auch darüber werde ich berichten.
Kommentare 13
Ich habe es in der Eile versehentlich versäumt, meine alte Rechtschreibung in die neue zu übersetzen, und muß jetzt das Haus verlassen; morgen hole ichs nach.
Vielen Dank für diese Fortsetzung!
Die zeitliche Überlappung der Kompositionsdaten dieser so verschiedenen Werke war mir nicht bewusst. Arnold Schönbergs Musik will neu sein, ohne das Alte zu verwerfen. Ihre Überschrift aus dem ersten Beitrag ist hier nochmal bestätigt. Schlüssige (zwingende?) Entwicklung, nicht Bruch; ein Prinzip, das auch innerhalb der jeweiligen Werke deren Dramaturgie mitbestimmt. So entsteht eine erstaunliche „Durchhörbarkeit“ fern vom Klischee.
Mir ist schon klar, dass Sie das nicht so ganz ernst meinen, aber gar zu viele Leute glauben daran:
…man hat den Eindruck, eine Wiedergabe auf der CD müsste sich einer Stereoanlage mit mindestens acht Lautsprechern bedienen.
Nee, bloß nicht; das gerät dann noch wohnzimmeriger (abgesehen davon, dass die CD das eh nicht kann). Außer bei eigens mehrkanalig konzipierten Kompositionen ist eine möglichst präzise Stereowiedergabe in geeignetem Raum (!) der wohl immer noch beste Kompromiss für Werke, deren ausgefeilte Klanglichkeit sich auf eine „Frontalunterricht“-Situation bezieht. (Das spricht natürlich nicht gegen den Einsatz mehrkanaliger Aufnahmetechnik, um dann ein möglichst gediegenes Stereobild zu erzeugen; nur bei der Wiedergabe bringt´s m. E. gar nichts, noch mehr ("unechte") Schallquellen aufzubauen.
Wie gut, dass wir – noch – in der Lage sind, lebendige Musikerzeugung zu erleben!
Mit bestem Gruß
petz
Klar, ich hatte das nicht so ernst gemeint. Ein Hören der CD, selbst mit der besten HiFi-Anlage, kann nur eine Vorbereitung aufs Konzert sein. Als solche ist sie allerdings extrem nützlich: wenn sie einem die Differenziertheit der Musik näher bringt, eine Hörbarkeit, die sich dann im Konzerterlebnis noch steigert.
Den folgenden Kommentar wollte ich vor zwei Tagen einstellen, dann fiel mein Internet aus. Nun überschneidet er sich mit Ihrem nächsten Beitrag, dort werde ich ein paar zusätzliche Bemerkungen machen. Hier aber der unveränderte ursprüngliche Kommentar.
Schön, daß die Besprechung des ersten Schönbergkonzerts hier fortgeführt wird.
„Das Unaussprechliche sagt man in der freien Form.“ (Schönberg)
Das sieht auf den ersten Blick wie ein Selbstwiderspruch aus, Form ist das Gegenteil von Freiheit, ist Begrenzung. Wenn man Symphonik als Werk aus einem Guß betrachtet (aus einer Formidee deduziert), ist Schönbergs Selbsterklärung (nicht symphonisch) nicht ganz falsch, aber sie ist gezielt strategisch an Strauss gerichtet, wie Sie treffend bemerken. Man könnte so sagen: Wenn Form die Erkennbarkeit durch Reduktion der Möglichkeiten ist, läuft alle hochkomplexe Musik seit Wagner auf Formlosigkeit hinaus. Spätromantische wie expressionistische Musik sind entgrenzend, die eine durch Üppigkeit, Zerfaserung, die andere durch Knappheit, Sprunghaftigkeit. Beidemal kommt das der „Gefühlssprache“ Musik entgegen (das Sprechen des Unaussprechlichen, Indefiniten). Allerdings wird hierbei ein spezifischer Formbegriff zugrunde gelegt. Richtiger wäre es, den Formbegriff zu erweitern zur offenen, unbestimmten Form sowie zur Mikroform. Das üppige Riesenereignis (der tendenziell unendliche Musikfluß) wird durch die Leitmotivtechnik zusammengehalten, beim späten Wagner wie beim frühen Schönberg. Und die Formgestaltung konzentriert sich auf die Mikroform. Die melodische, harmonische, rhythmische Thematik wird zur melodischen, harmonischen, rhythmischen Motivik. Ich möchte das hier nicht weiter ausführen, weil es den Rahmen sprengen würde; man möge das Gesagte als Arbeitshypothese wenigstens vorläufig akzeptieren. Dann kann ich mich der epochalen Referenzmusik der Orchesterstücke op. 16 zuwenden.
Ich kenne mich kaum in der musikalischen Sekundärliteratur aus, bin mir aber sicher, daß schon bemerkt wurde, daß die fünf Stücke neben der üblichen Tempodifferenzierung (hier: schnell – mittel – langsam – schnell – mittel) in einem viel fundamentaleren Sinne unterschiedlich getaktet sind. Wie man in der neuen Weltsicht auf die Welt mit den natürlichen Augen, mit dem Fernglas und mit der Lupe schauen kann und dann den Meso-, Makro- oder Mikrokosmos erblickt, so kann man den Blick auf die Musik richten. Die traditionelle Musik ist der natürliche, unmittelbare Blick, ein Fließen, der Impressionismus ist der mikroskopische auf den gedehnten Moment, stehender Klang, der Expressionismus ist der teleskopische Blick, in dem die zusammengefaßten Bewegungen aus der Ferne wie Sprünge erscheinen. Die Satzfolge ist also makro – meso – mikro – makro – meso. Man könnte hier von einer Metaform eines Opus sprechen. Damit löst sich auch der scheinbare Widerspruch zwischen dem spätromantischen und dem expressionistischen Schönberg, Schönberg ist das ganze Spektrum.
Für einen durchschnittlich geübten Hörer dürfte daher das zweite Stück am zugänglichsten sein, das ist wunderschönster früher Schönberg (beginnend mit schmeichlerischem Schönbergschem D-Dur! trotz A-d-f-as, das sich in A-es-g-a wandelt), ein etwas komplizierterer Tschaikowsky. Es hat die Mesogroßform, also Form im alten Sinne: der Anfang wird in einer entwickelten Variation am Ende paraphrasiert (die entwickelnde Variation ist die induktive Kompositionsweise im Gegensatz zu der symphonisch-deduktiven) und die verschiedenen Motive zusammengeführt. Schönberg war sich dieser formalen Qualität durchaus bewußt und hat das Stück Vergangenes betitelt. Es reiht sich ein in die lange Liste Schönbergscher Musik mit stark traditionellen Bezügen. Hier gelangen wir zu dem von Schönberg sehr geschätzten Formprinzip des Ostinatos, wie es in Ihrem Zitat von Gervink beschrieben wurde.
Wie sehr das Ostinato für das Alte steht, kann man sich klar machen an dem allen Freunden von Schönbergs Musik bekannten, überaus eindringlichen oh du lieber Augustin, dessen Schlußteil alles ist hin als Ostinato im zweiten Streichquartett weiterläuft (HEEADD). Die kürzeste Form eines Ostinatos ist ein alterierender Ton, der aber als abgebremster Triller gesehen werden kann, oder harmonisch ein pendelnder Doppelakkord, der auch als ein Polyakkord aufgefaßt werden kann. In dieser Form spielt das Ostinato (wenn man das überhaupt noch als Ostinato bezeichnen will) in vieler Musik von Schönberg eine große Rolle, besonders im op. 16 (auch der letzte Teil des Themas des zweiten Satzes ist ein Wackelklang). Der delikate erste Satz der zweiten Kammersinfonie ist vollkommen aus der Alteration von Quart und Quint, Tonartwechsel im Tritonusabstand gebildet, sie ist ein ziemlich unterschätztes Meisterwerk. Solche alterierenden Harmonien stellen eine Art Mikrotonalität dar und erleichtern das Verständnis ungemein. Freilich, damit ist es mit der strengen 12-ton-Technik vorbei. Die Zwölftonreihe ist nicht mehr als Ostinato zu hören, es sei denn, man legt es genau darauf an und wiederholt stur die hervorgehobene identische Reihe. Oder man pendelt in einem 12-tönigen Polyakkord.
1909 komponierte Schönberg in rasendem Tempo vier expressionistische Werke, darunter die Fünf Orchesterstücke op. 16.
Das erinnert mich an den fünften Band der vierteiligen Trilogie "Per Anhalter durch die Galaxis" von Douglas Adams.
Ciao
Wolfram
In welchem Helge Schneider-Film spielte noch mal die Band "Die lustigen Drei Zwei"?
op. = Opus = Werk.
Latein war bei euch damals "Glyxsache", sagtest Du mal ...
:-)
"(...) von der Musik Johannes Brahms‘ gesagt werden kann, sie gehe zu etwas wie musikalischer Prosa über – und wenn ich mich nicht ganz falsch erinnere, hat gerade Schönberg das einmal in einem Aufsatz hervorgehoben (...)"
Jaja, in "Brahms, der Fortschrittliche" ("Brahms the progressive"). Vielleicht der zentrale Aufsatz Schönbergs zu seinen Vorstellungen von Fortschritt, Form und Ausruck in der Musik. Die Fülle der Beispiele aus der Musikliteratur - von Mozart bis Mahler - , die er dort bespricht, hat allerdings auch ein starken suggestiver Zug - wie immer bei Schönberg. Die Analysen seiner selektierten Beispiele drängen eben sehr stark auf seine Gedanken und Sichtweisen hin; er biegt auch gerne etwas zurecht. Allerdings hat er mit dem Wort von der "musikalischen Prosa" - wenn man so sagen will - hinsichtlich Brahms, aber etwa auch der Kammermusik Mozarts - die er als eine Art Urahn seiner und, wie er unterstellt, Brahms' musikalischer Gedankenwelt sieht - wirklich Recht, würde ich sagen. Die Musik Brahms' lässt sich dahingehend sehr gut nachvollziehen - auch ohne die manchmal zu kleinteiligen, schon mikroskopischen Funde musikalischer Einheiten durch Schönberg.
Dass sich der Schönberg noch so an den Strauss gewandt hat ... War das nicht schon die Zeit, als dieser ihn als nur noch "reif für's Irrenhaus" bezeichnet hat? Naja, wird wohl reiner Pragmatismus gewesen sein; versuchen, aufgeführt zu werden ...
"Die traditionelle Musik ist der natürliche, unmittelbare Blick, ein Fließen, der Impressionismus ist der mikroskopische auf den gedehnten Moment, stehender Klang (...)"
Mit "traditioneller Musik" meinen Sie hier jetzt die Wiener Klassik ff., vielleicht auch ab dem Barock; grob gesprochen? Denn Multiperspektiven gab es besonders ja bereits in der Vokalpolyphonie des ausgehenden Mittelalters und der Renaissance. Das ist ja so ein interessanter Aspekt in der Musikgeschichte. Und so einige Komponisten der neuen Musik des frühen 20. Jh. haben ja auch wieder bis dahin zurückgeblickt.
Zum Ostinato: Kann ein Ton alterieren? Doch höchstens in der musikschriftlichen Grammatik. Das hört aber kein Mensch. :-) Und da es mir immer sehr um das Hören geht: Sie sagen ja auch, eine Zwölftonreihe ist als Ostinato nicht mehr zu hören. Wenn man den Begriff des Ostinatos zu arg dehnt, könnte man wohl in fast jedem musikalischen Satz Ostinati erkennen.
@miauxx
Latein war bei euch damals "Glyxsache", sagtest Du mal ...
Das ist nicht besser geworden, seither. Sachen, die ich fryher gewußt habe, muß ich hoite raten. Aber immerhin gibt’s hoit Rating-Agenturen.
Ciao
Wolfram
Korrekt. Ich meine die Musik ab dem Barock, grob gesprochen. Seit sie sich als Kunst vom Kult weitgehend gelöst (man könnte auch sagen: das Kultische seine selbstverständliche Gültigkeit eingebüßt) hat. Um selbst Kult zu werden, der Kult des Schönen.
Ein alterierender Ton ist selbstverständlich ein gedehnter Triller, so wie die angesprochenen Pendelakkorde als alterierend bezeichnet werden können.
"Um selbst Kult zu werden, der Kult des Schönen."
Das kann man auch schon bei viel früherer Musik entdecken bzw. diagnostizieren. Kultische Bindung hat sich schon im Hochmittelalter zugunsten sinnlicher Ausarbeitung, zugunsten Klang stark relativiert. Auch wenn die Gattungen freilich noch eine unmittelbare kultische Verpflichtung versprachen.
Ich habe im Studium mal eine Arbeit über Schönberg, seinen Kunst-Imperativ, wie ich es nannte, geschrieben. Da habe ich mir noch die Frage gestellt, wie hoch die Kategorien Sinnlichkeit, und damit v.a. Klang, bei ihm einzuschätzen seien. Ich sah v.a. die "geistige Gymnastik" (Sch'bergs Worte), die er sich auferlegte. Vielleicht war das naiv oder zu eng gedacht ... ist ja aber auch lange her ... So bin auch dankbar, noch einmal den Horizont weitende Ausführungen dazu von M. Jäger und Ihnen hier zu lesen.
"Ein alterierender Ton ist selbstverständlich ein gedehnter Triller (...)"
Ich weiß schon, was Sie meinen. Ich wollte ein wenig spitzfindig in die systematische Ecke. Ein Ton ist eine distinkte Einheit. Hören wir einen Triller, so hören wir mehr als einen Ton. Die Musiktheorie ist hier leider sehr ungenau; eben darin, dass sie spieltechnische und musikschriftliche Aspekte mit physikalisch-mathematischen vermengt. Ein Triller hat freilich einen Hauptton oder eben den Ton, der umspielt wird. Trotzdem ist ein Triller nicht ein Ton. Die Benennung der Intervalle etwa ist ebenso nicht wirklich korrekt; und gänzlich falsch sogar darin, dass eine Prime ein Intervall sein soll.
Ein Triller hat freilich einen Hauptton oder eben den Ton, der umspielt wird.
Das ist ganz überwiegend richtig. Aber eben nicht ganz. Man kann Triller als iterierte Vorschläge oder Vorhalte denken oder hören, wobei der Unterschied von Haupt- und Nebennote nivelliert wird (technisch könnte man einen Triller mit zwei Händen spielen und dabei unterschiedlich betonen, was einhändig fast unmöglich ist). Aber barock, klassisch oder romantisch hört man auch gleichbetont Haupt- und Nebenton. Dieses dekorative Umspielen gilt nicht mehr in zwei Fällen, im impressionistischen und im poly-/atonalen Triller. Im einen Fall wird der Ton nicht umspielt, sondern getrübt, verschmiert, im anderen gibt es nicht die eine Tonart oder überhaupt keine Tonalität, also definitiv keinen Hauptton.
So zeigt sich schön die systemische Entwicklung der Musik. Für's erste möchte ich als Beispiel das Klavierkonzert in G von Ravel nehmen, das ich schon einmal als Referenzmusik in einem Beitrag benutzt habe. Im ersten Satz beginnt irgendwann die rechte Hand ihre Melodie in Trillern zu spielen, der diatonische Triller aufwärts, diese Verschmierung vermittelt den Eindruck einer kontinuierlichen Frequenzerhöhung, die sich ins Große steigert in den zahlreichen glissandi. Der zweite Satz endet, nachdem die rechte Hand schnell und tonleitermäßig das langsame Thema von Orchester und linker Hand umspielt hat, in dem flirrenden Klang eines Trillers in Quinte und Sexte, die innere Schlagzahl erhöhend und dabei äußerlich zur Ruhe kommend und verklingend. Der Grundton sind nicht die Trillertöne h' und cis'', sondern G. Die Gleichberechtigung von Quint und Sexte in dem langsamen Konzertsatz ergeben sich aus der konstitutiven Grundstruktur der großen Dur-Terz e-gis, der die Quinte h und parallel die Sexte (nach unten versetzt) cis zugeordnet werden. Das Stück beginnt melodiös mit gis' und dem Begleitakkord gis-e', also einer Sexte. Ich habe mir diese fürchterlich trockene Ausführung gestattet, um den Bedeutungswandel des Trillers zu verdeutlichen. Dazu hätte ich auch die Triller und Schüttelakkorde von Scriabins Feuermusiken heranziehen können, auch sie öffnen die Tonalität. Das schöne an dem Beispiel Ravel ist, daß es direkt auf Schönberg zurückweist, auf die hier diskutierten Pendelklänge und Ostinati. Wegen der stärkeren Parallele möchte ich nicht den Blick auf die flirrende, mit Schwebungen und insistierenden Schleifen arbeitende Musik der Verklärten Nacht richten, sondern auf die Einleitung der Gurrelieder. Da wird die gleiche harmonische Grundstruktur benutzt, ein stehender Klang aus der Alteration es''/g'' – c''/c''' und dem Ostinato c''-es'-g'-c'-es'-as'. Allerdings vergleichen wir hier das Ende des einen Stücks mit dem Anfang des anderen. Es ist logisch, daß Ravel nur noch die Tonika bemüht, Schönberg aber mit der Eröffnung die Subdominante anspielt, also die Sexte in eine Terz umdeutet. Ich denke, daß diese zwei Musiken nicht nur für mich für inneren Frieden, runden Einklang stehen.
Kleine Korrektur: Es muß natürlich heißen nicht die Trillertöne h' und cis'', sondern E. Das Konzert steht in G, der zweite Satz in E.