Das Symbolthema

Streit um Rüttgers Der Vorschlag, Hartz IV zu "überarbeiten", droht zum Bumerang zu werden

Auf dem Parteitag der CDU Ende November wird der Vorstoß von Jürgen Rüttgers nur die Bedeutung haben, einer von ungefähr 40 "sonstigen Anträgen" zu sein. Der Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens hatte vorgeschlagen, älteren Arbeitslosen einen längeren Bezug des Arbeitslosengelds I zu gewähren. Die Idee sorgte anderthalb Wochen lang für Wirbel und Schlagzeilen, dann wurde ihr Status noch weiter abgeschwächt: Die Antragskommission beschloss am 10. November die Empfehlung, die Delegierten möchten sie "zur weiteren Ausarbeitung der Einzelheiten" an die Bundestagsfraktion der Unionsparteien überweisen. Geht es also auf dem Parteitag um ganz andere und viel wichtigere Dinge? Ja und nein; ja, weil doch das neue Grundsatzprogramm behandelt werden soll; nein, weil nichts grundsätzlicher ist als die Gerechtigkeitsfrage, an der sich Rüttgers versucht hat. Alle Welt wird hauptsächlich schauen, was der Parteitag zu seinem Vorstoß sagt.

Wenn man zurückblickt, gewinnt man den Eindruck, der Union sei das Thema wohl etwas aus dem Ruder gelaufen; Deutungen, die eine besonders gemeine und irgendwie planmäßige Raffinesse der Unions-Granden vermuten, gehen sicherlich fehl. Die Idee, wie sie jetzt auf dem Parteitagstisch liegt, hat zwar gewiss einen hinterhältigen und bösartig populistischen Einschlag. Natürlich wird man Bundesarbeitsminister Müntefering zustimmen, wenn er einwendet, mehr Leistungen für ältere Arbeitslose liefen auf weniger Leistungen für jüngere hinaus, da sich die Koalition bereits auf Senkung der Gesamtkosten für Arbeitslose geeinigt hatte. Tatsächlich - man glaubt es kaum - wagt sich die Union mit dem schönen Geschenk an die Öffentlichkeit, ohne zu sagen, wer es denn bezahlen würde; nur dass es "aufkommensneutral" sein soll, steht fest. Aber wie kommt es, dass auch in ihren eigenen Reihen laut widersprochen wird?

Am meisten ist ihr eigener Braintrust dagegen, die Frankfurter Allgemeine Zeitung: Arbeitslosengeld, erinnert sie, bekommt man infolge von Einzahlungen nicht in eine Sparkasse, sondern in eine Versicherung. Hätte man es mit einer Sparkasse zu tun, so wäre es logisch, dass man desto mehr herausholt, je länger man etwas hineingetan hat, also auch je älter man wird; aber Leistungen aus dem Eintritt eines Versicherungsfalls, denken wir nur an die Haftpflicht, dürfen nicht nach Einzahlungsjahren gestaffelt sein.

Es kommt hinzu, dass Rüttgers´ Idee gar nicht verwirklicht werden könnte, da es keinen Ort gibt, an dem die Anzahl der Arbeitsjahre eines arbeitslos Gewordenen protokolliert würde. Für die Bundesagentur für Arbeit ist nur wichtig, dass der Betroffene in den letzten Jahren vor der Arbeitslosigkeit eingezahlt hat. Die Rentenverwaltung kann auch nicht helfen, weil es vorkommt, dass jemand für die Rente einzahlt, ohne an der Arbeitslosenversicherung teilzunehmen (zum Beispiel in die Künstlersozialkasse). Was soll also der Vorschlag, "nach 15 Beitragsjahren" sollten Arbeitslose 15 Monate lang ALG I erhalten, "nach 25 Beitragsjahren" 18 Monate lang, "nach 40 Beitragsjahren" volle zwei Jahre? Die Unionsfraktion verschwendet ihre Zeit, wenn sie sich damit befasst. Kann man wenigstens die Wähler damit täuschen? Wird die SPD "links überholt", kann die Union in Meinungsumfragen wieder Boden gewinnen? Die FAZ glaubt eher, dass die Sache ein Bumerang ist; sie ist einfach zu dumm angelegt.

Aber man muss sehen, wie sie entstanden ist. Eben nicht als raffinierter Plan, sondern infolge sozialpolitischer Nervosität und Bestrafungsangst. Die Geschichte beginnt am 23. Oktober, als es im CDU-Vorstand zu heftigen Auseinandersetzungen kommt. Extrem schlechte demoskopische Werte machen Bauchschmerzen. Offenkundige Ursache sind die Pläne zur Gesundheitsreform. Es liegt nahe, die Bundeskanzlerin verantwortlich zu machen, daher dreht der Kulturstaatsminister im Kanzleramt, Neumann, den Spieß vorsorglich um und führt einen Angriff gegen die "Zerstrittenheit" der Ministerpräsidenten, die das Erscheinungsbild der Partei trübe. Besonders hat er den Saarländer Müller im Auge, der die Gesundheitsreform als "Zumutung" bezeichnet hatte, und denkt auch an Rüttgers´ Spruch von den "Lebenslügen". Die beiden sind anwesend und wehren sich heftig. Rüttgers´ Sozialminister Laumann fragt zurück, wo denn, angesichts der Globalisierung, die alten ordnungspolitischen Grundsätze der CDU geblieben seien; Rüttgers selbst stellt fest: Wenn Neumann die Kanzlerin habe verteidigen wollen, dann sei es nicht gelungen. Andere springen ihm bei: Es fehlten "Symbolthemen", anhand deren die Parteibasis sich mit der Regierung identifizieren könne.

Zwei Tage später versucht CDU-Generalsekretär Pofalla, die Öffentlichkeit für das neue Grundsatzprogramm zu interessieren. Es gibt da jedoch nichts Aufregendes zu vermelden. Die kleine familienpolitische Öffnung, neben der Ehe auch "andere Formen von Partnerschaften" wenigstens zu "respektieren", wenn auch nicht mit ihr rechtlich gleichzustellen, kennt man bereits, sie wird offenbar schwer verdaut. Die Berliner Verfassungsklage zwecks Bundeshilfe hat zu der Erwägung geführt, ein Neuverschuldungsverbot könne ins Programm geschrieben werden. Außerdem überlegen die Parteifreunde, ob sie die deutsche Leitkultur direkt oder in Form eines "Synonyms" aufnehmen sollen. Diese beiden Fragen haben sie noch nicht entschieden. Aber wen interessiert das? Oder wer will die Zeitungstexte zu Stoibers Machtverfall in Bayern lesen, die fast jeden Tag erscheinen?

Pofalla, der dem Landesverband Nordrhein-Westfalen angehört, hat zur selben Zeit auch einen ganz anderen Job: Er muss seinen Landeschef Rüttgers davon abhalten, ein für Angela Merkel allzu gefährliches "Symbolthema" zu erfinden.

Dass Rüttgers so umtriebig ist, zeigt auch seinen Willen, das von ihm regierte Land endlich einmal dauerhaft für die CDU zu gewinnen. Vorher waren weder Biedenkopf noch Blüm erfolgreich gewesen. Nun will er dem bevorstehenden Parteitag eine "generelle Überarbeitung" von Hartz IV vorschlagen. Aufkommensneutralität gehört ursprünglich nicht zu seiner Idee, älteren Arbeitslosen länger ALG I auszuzahlen. Aber als der Vorschlag am 31. Oktober die Öffentlichkeit erreicht, steht es so drin. Das hat Pofalla in harten Verhandlungen geschafft und kann sich jetzt hinter den Parteitagsantrag stellen. In den folgenden Tagen wird er auch von den Ministerpräsidenten Stoiber, Koch und Müller unterstützt. Rüttgers hat also Rückenwind und macht weiter: Als er am 7. November Jürgen Habermas den Staatspreis von Nordrhein-Westfalen überreicht, sagt er, es sei schlecht, wenn der ursprüngliche Fortschritt der Moderne nur noch als "Wertsteigerung und damit Gewinnmaximierung" verstanden werde.

Die SPD versucht eine Gegenoffensive. Klaus Brandner, der arbeitsmarktpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, erinnert am 5. November daran, dass Langzeitarbeitslose schon jetzt befristete Zulagen erhielten; er schlägt vor, sie großzügiger zu gestalten, und fragt, warum die Union dergleichen bisher immer abgelehnt hat. Aber der Streit lässt sich nicht mehr als taktische Fechtstunde zwischen den Parteiführungen einhegen. Vielmehr reißt er Gräben quer durch beide Parteien auf. In der SPD wendet sich Andrea Nahles zwar gegen die Kostenneutralität in Rüttgers´ Antrag, der deswegen eine "unseriöse Luftnummer" sei, unterstützt aber die Idee, ALG I länger auszuzahlen. Ebenso DGB-Chef Michael Sommer. In der CDU ist zum Beispiel die Junge Union gar nicht begeistert. Scharf wendet sich der Wirtschaftsrat gegen den Antrag: Er sei ungerecht gegen jüngere Versicherte. Auch Peter Ramsauer, der Vorsitzende der CSU-Landesgruppe im Bundestag, widerspricht.

Andererseits findet Bundeswirtschaftsminister Glos, ebenfalls CSU, Gefallen am Spiel mit "Symbolthemen". Das dänische Modell, Arbeitslosen bis zu vier Jahren maximal 90 Prozent des zuletzt erhaltenen Lohns zu zahlen und dafür den Kündigungsschutz abzubauen, sei interessant, wird er am 5. November zitiert. Natürlich liegt es ihm fern, das Modell übernehmen zu wollen, aber er stellt sich vor, ein Abbau des Kündigungsschutzes zusammen mit einer kleinen kurzzeitigen Erhöhung des Arbeitslosengeldes könne vielleicht als "dänisch" verkauft werden. Ist das nun raffiniert oder ein Spiel mit dem Feuer? Kann es der Union nützen, wenn Glos das dänische Modell bekannt macht?

Rüttgers´ Vorstoß hat schon jetzt dazu geführt, dass die sozialpolitische Verlogenheit der Koalition wieder ein Stück offensichtlicher wurde.


Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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