Das Syrien-Dilemma

Folter-Vorwurf Soll man mit Assad reden? Es auf keinen Fall mehr tun? Wie unser moralischer Kompass neu kalibriert werden kann
Ausgabe 06/2017
Syrisches Internierungslager nahe Damaskus
Syrisches Internierungslager nahe Damaskus

Foto: Google Earth/AFP/Getty Images

Erneut beschäftigt uns in diesen Tagen der Widerspruch von Moral und Realpolitik. Da gibt es den syrischen Fall. Manche halten es für Realpolitik, sich mit Syriens Machthaber Assad zu verbünden, damit der IS besiegt werden kann. Anfang der Woche erhob Amnesty International schwere Anklage gegen ihn: In seinen Kerkern seien zwischen 5.000 und 13.000 Gefangene bei Massenhinrichtungen getötet worden. Dort werde gefoltert und vergewaltigt. Amnesty beruft sich auf 84 Zeugen. Kann, muss man über Assads Folteropfer hinwegsehen?

Ein anderes Beispiel, bei dem es ebenfalls um diesen Widerspruch geht: Thomas Oppermann, der SPD-Fraktionschef, unterstützt die Unions-Forderung, Flüchtlinge aus dem Mittelmeer nach Nordafrika zurückzuschicken. Das stößt auf harsche Kritik. In der Union meint man aber, Europa sei überfordert, wenn es zu viele Flüchtlinge aufnehme. Und sind nicht auch hierzulande Obergrenzen unvermeidlich?

Stimmt es denn aber, dass Europa überfordert sei? Wenn es realistisch wäre, von Überforderung zu sprechen, dann jedenfalls nicht deshalb, weil es dem reichen Europa an Unterkünften für Flüchtlinge mangelte. Fremdenangst ist sicher eine Tatsache, aber doch nur insofern, als jede Flüchtlingsaufnahme unter ihrer Bedingung steht. Die Behauptung, Europa sei überfordert, steht somit auf schwachen Füßen. Denn die Bedingung Fremdenangst ist aus mindestens zwei Gründen nicht unumstößlich. Erstens unterliegt sie dem demokratischen Verfahren. Wenn die Ängstlichen in der Minderheit sind, müssen sie sich unterordnen. Auch als Mehrheit dürfen sie die Verfassung nicht verletzen, in der das Asylrecht festgeschrieben ist. Zweitens muss Fremdenangst nicht Fremdenangst bleiben. Man hat schon gesehen, dass sie verschwindet, wenn die Fremden vor Ort erscheinen. Der Erfahrung hält die Angst meistens nicht stand. Und überhaupt ist Realismus in menschlichen Angelegenheiten keine Sache der Physik. Einem Stein, der mir auf den Kopf zu fallen droht, muss ich zweifellos ausweichen. Aber Menschen sind niemals Steine.

Hier zeigt sich schon, dass es notwendig ist, über die Grundsätze nachzudenken, denen man folgen will. Ist denn auch nur der „Widerspruch von Moral und Realpolitik“ eine Tatsache? Nein! Jedenfalls kann nicht von einem grundsätzlichen Widerspruch die Rede sein. Denn keine Situation wird es geben, in der man sich zwischen beidem „frei entscheiden“ dürfte. Vielmehr wird man, wo immer möglich, die Moral über alles stellen. Das erkennt sogar die US-amerikanische realistische Schule an, zu der ein Henry Kissinger gehört hat. Es gilt da nämlich der Satz, moralische Ziele müssten in der Politik realistisch verfolgt werden. Das heißt doch, ich kann eine Differenz von moralischem und realistischem Handeln nur anerkennen, wenn ich zuvor ihre ursprüngliche Identität unterstellt habe.

Was ist denn Moral? Handle stets so, dass auch der oder die Andere damit leben kann. In diesem Satz liegt das ganze Problem. Denn die Frage ist, ob ich den Schutz meiner selbst oder den Schutz der Anderen für das realistische Gebot halte. Mich und die anderen gegeneinander auszuspielen, oder meinen Staat gegen andere Staaten, wäre aber genau unrealistisch. Es würde ja zum Krieg führen. Nein, es ist richtig, das Moralische über das Realistische zu stellen. Man muss allerdings ergänzen: Dazu, dass die Moral in der praktischen Ausführung der Moral schadet, darf es nicht kommen.

Was Assad angeht, bedeutet das, der Kampf gegen seine Foltergefängnisse hat unbedingte Priorität. Auch wenn die Angaben der 84 Zeugen erst einmal überprüft werden müssen. Es sind ja über Syrien auch schon sehr zweifelhafte Berichte verbreitet worden. Einmal ging durch die Weltpresse, das Regime habe in Hula ein Massaker angerichtet, eigenartigerweise an Anhängern des Regimes. Nur wenige hatten sich mit Fakten und Details gegen diese Darstellung der syrischen Opposition gestellt. Sie ernteten einen Sturm der Entrüstung.

Wie dem aber auch sei, jetzt steht der Bericht von Amnesty im Fokus. Gewiss kann gefragt werden, warum nicht eher über den Satz des US-Präsidenten, Folter sei notwendig, geredet wird. Und ob nicht die USA mehr syrische Tote auf dem Gewissen haben als Assad, weil sie die Bewaffnung der syrischen Opposition gefördert haben. Aber wenn die Öffentlichkeit über Assad sprechen will, ist es demokratisch, sich an eben diesem Gespräch zu beteiligen.

Amnesty macht es richtig. Die Organisation erhebt schwere Anklage gegen Assad, enthält sich aber des Urteils. Es gibt leider viele Medien, die den gar nicht so kleinen Unterschied zwischen Anklage und Urteil vergessen haben. Amnesty fordert eine unabhängige Untersuchung der UNO. Das ist gut so. Man muss nur hinzufügen, dass vielleicht nicht alle unabhängig sind, die im Namen der UNO unterwegs sind. So haben an der Untersuchung von Hula pensionierte CIA-Mitarbeiter und Vertreter von Exxon Mobil Saudi-Arabien mitgewirkt. Im Grunde wäre es besser, wenn neben der UNO auch die deutsche Regierung Beobachter nach Syrien schicken würde. Und mehr noch: Sie selbst sollte sich aus erster Hand informieren. Das geht aber nicht, wenn sie den diplomatischen Verkehr mit Assad verweigert. Diese Verweigerung ist als moralische Haltung nicht nachvollziehbar, weil sie dem Moralischen mehr schadet als nutzt.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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