Das Unkomponierbare

Ultraschall 2017 Geht die Dominanz der Stimme zurück? In diesem Festival wird sie beschworen

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Wird die menschliche Stimme auf einmal zum Fremdkörper?
Wird die menschliche Stimme auf einmal zum Fremdkörper?

Bild: MANDEL NGAN/AFP/Getty Images

Seit gestern bis zum Sonntag läuft Ultraschall, das Berliner Festival für Neue Musik. Es will „Kontexte schaffen“ zwischen der Musik der Gegenwart, die mit Ur- und Erstaufführungen repräsentiert ist, der jüngeren musikalischen Vergangenheit und weiteren „nahezu völlig unbekannte[n] musikgeschichtliche[n] Territorien“ – so steht es etwas geheimnisvoll in der Ankündigung. Das diesjährige Thema des jährlich im Januar stattfindenden Festivals glaubt man hingegen leicht zu verstehen, es ist „Die menschliche Stimme“. Gestern im Eröffnungskonzert wurde sie bereits hörbar gemacht in Mauricio Kagels Sprecherkonzert, wenn man es so nennen will, mit dem Titel Interview avec D. pour Monsieur Croche et Orchestre aus den Jahren 1993/94. Ich will über den gestrigen Abend und vier weitere Veranstaltungen in den nächsten Tagen berichten.

Zuerst muss von dem überaus interessanten Essay Die Musik hinter den Worten. Die Stimme in der zeitgenössischen Musik von Rainer Pöllmann, der das Programmheft einleitet, die Rede sein. Pöllmann von Deutschlandradio Kultur ist zusammen mit Andreas Göbel, kulturradio vom rbb, fürs Gesamtprogramm zuständig. Er erinnert daran, dass die neuzeitliche Musik jahrhundertelang primär eine Musik für menschliche Stimmen war, bevor sich seit der Aufklärung reine Instrumentalorchester mit „absoluter Musik“ in den Vordergrund spielten. Und da wird die menschliche Stimme auf einmal gleichsam zum Fremdkörper. „Denn mehr als jede Geige oder Flöte ist die Stimme selbst schon Bedeutungsträger“, egal welche Botschaft in den Worten liegt, die sie zudem noch singen oder sprechen mag. Und keine Stimme gleicht der anderen. Zwar könne man das auch von einer Geigenstimme sagen, meint Pöllmann, beim Sänger jedoch sei die Stimme „im Körper selbst verankert – und damit existenziell“.

„Der Eigensinn der Stimme, das Inkommensurable und Unbeherrschbare, damit Unkomponierbare, war vielen Komponisten des 19. Jahrhunderts [...] suspekt. Im deutschsprachigen Raum zog sich die Vokalkmusik über weite Strecken in die Privatheit des Liedes zurück, anders als in Italien oder auch Frankreich, wo die Oper als publikumsträchtige und repräsentative Gattung den Gesang öffentlich zelebrierte.“ Man könnte hinzufügen, dass es ja auch Italien und Frankreich waren, nicht Deutschland, wo das Volk seine Stimme erhob und politische Durchbrüche erzwang, Regimewechsel in Frankreich, die nationale Unabhängigkeit in Italien, ohne welchen Kontext zum Beispiel Verdis Opern gar nicht verständlich wären. Die Ankündigung des Festivals spielt darauf an: „Seine Stimme zu erheben oder auch jemandem eine Stimme zu geben, bedeutet, sich als autonomes Subjekt zu äußern.“

Wer Verdi hört, wird Maria Callas kennen. Aber warum hat nie jemand so erhellend über sie geschrieben wie jetzt Pöllmann? „Wie ihre Kolleginnen aus Blues und Jazz“ habe sie „keineswegs über eine im technischen Sinn makellose oder gar ‚engelhaft schöne‘ Stimme verfügt[.], sondern, ganz im Gegenteil, aus ihren technischen Mängeln ein Mittel der psychologischen Tiefenerkundung“ gemacht und damit ein „Identifikationspotenzial“ geschaffen. „Heute, in einem durchkommerzialisierten, auf optische wie musikalische Perfektion versessenen Musikbetrieb hätte Maria Callas wohl keine Chance mehr.“

Man wundert sich nicht, dass Pöllmann viel über die „unglaubliche Vielfalt von Stimmen“ in „sechzig Jahre[n] Pop“ zu sagen hat. So über die „naiv-abgründige Stimme von Björk“, das „Näseln von Prince“, die „nicht vorhandene oder mangelhaft entwickelte Gesangstechnik“ von Bob Dylan oder Neil Young, „beide veritable Knödler und doch unverwechselbar und ausdrucksstark“. In der Stimme von „Sängerinnen wie Billy Holiday, Bessie Smith, später Janis Joplin und in jüngerer Zeit vielleicht auch Amy Winehouse [...] kommen Verletzungen und euphorische Momente zum Tragen“: „Dass viele dieser Künstlerinnen (es handelt sich überwiegend um Frauen) schon in frühen Jahren starben, verleiht der stimmlichen Performanz zusätzliche Street Credibility.“ Die Dominanz der Stimme scheint jedoch zurückzugehen. Techno hat eine Renaissance der reinen Instrumentalmusik eingeleitet und „in den Clubs kommt man heute [...] ganz gut ohne Sänger aus“. Die Zukunft der Stimme liegt vielleicht „in einem Phänomen wie der japanischen Sängerin Miku Hatsune“, einem aus 3-D-Animation entstandenen „virtuellen Popstar“, der „mit einer Backing-Band aus realen Musikern [...] sogar regelmäßig Konzerte [gibt]“. „Es gibt keine neutrale Stimme? Hier ist sie zu hören“.

Ein „Gefühl der Fremdheit gegenüber der Stimme“ schreibt Pöllmann auch der zeitgenössischen E-Musik zu. Schon für die Nachkriegs-Avantgarde sei „die ‚Reinheit der Tonkunst‘ der Gegenentwurf zur ideologischen Inanspruchnahme der Kunst durch totalitäre Regimes, vor allem natürlich die Nazis“ gewesen. „Die Stimme hatte in diesem Spiel der Strukturen keinen Platz.“ Pöllman verbreitet sich dann über „Ausnahmen“ von Henze bis Lachenmann, dessen Oper Das Mädchen mit den Schwefelhölzern von der Baader-Meinhof-Gruppe handelt, und darüber hinaus. Ich weiß nicht, ob seine Wahrnehmung nicht doch etwas übertrieben ist. Immerhin steht gerade in den beiden wichtigsten Werken des Pierre Boulez und vielleicht der Nachkriegs-Avantgarde überhaupt, Le marteau sans maitre und Pli selon pli, der Gesang im Zentrum. Ebenso auch im zentralen musikalischen Niederschlag der 68er Revolte, das ist die Sinfonia des Luciano Berio. Man muss freilich einräumen, dass in diesen Werken, Le marteau vielleicht ausgenommen, der Stimme viel Platz zur Entfaltung individuierten „Eigensinns“ kaum zugestanden wird. Bezeichnend ist eher, wie der Mittelsatz der Sinfonia endet: Der Name des Dirigenten der jeweiligen Aufführung wird genannt, aber nicht von ihm selbst, sondern von einem in der Partitur vorgesehenen Sprecher.

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Der gestrige Konzertabend führte sozusagen stufenweise zum Thema „menschliche Stimme“ hin. Am Anfang stand ein reines Instrumentalwerk, es folgte ein Cellokonzert, in dem das Soloinstrument die menschliche Stimme zumindest repräsentierte, wie das schon immer der Fall gewesen ist, und zuletzt hörte man das schon genannte Sprecherkonzert von Kagel. Man kann es aber auch so sehen, dass sich das erste wie das letzte Stück des Abends mit dem Wichtigsten, was die menschliche Stimme tut, nämlich dass sie fragt und antwortet, auf sehr subtile Art auseinandergesetzt haben. Ob die Stimme direkt spricht oder nur repräsentiert ist, war zumindest gestern von keiner Bedeutung.

Das Klangwerk 11 op. 64 nur für Orchester von Erhard Grosskopf ist eine ungewöhnliche Mischung von geplanten Strukturen und sich daraus ergebenden „Zufällen“: Einzelne „Loops“, so das Programmbuch – englisch für „Schleife“, Grosskopf meint unverändert wiederholte Klangsequenzen -, „folgen [...] unabhängig voneinander [...] den Regeln bestimmter Zahlenproportionen, die ein“ vom Komponisten „entwickeltes Computerprogramm generiert. Sobald es zur Synchronisierung der Prozesse im musikalischen Satz kommt, werden die Proportionen gewechselt, bis der Zufall erneut die Strukturen aufeinandertreffen lässt, was dann wiederum zu sich verändernden Verhältnissen führt.“ Grosskopf hat die Kompositionsweise auch selber vor der Aufführung erläutert – es gehört zu diesem Festival, dass vor der Aufführung jedes Werks der Komponist oder die Komponistin interviewt oder, wenn er oder sie nicht mehr lebt, zitiert wird – und unter anderm erzählt, dass er sich an einen Mathematiker mit der Frage gewandt habe, ob sich sein Verfahren nicht in einem mathematischen Gesetz zusammenfassen lasse. Die Antwort war Nein. Es liegt wohl daran, dass mit dem „Zufall“, zu dem es nach einer jeweiligen „Synchronisierung der Prozesse“ kommt, der dann folgende Wechsel der „Proportionen“ unvorhersehbar variiert. Das wäre wie beim Fragen und Antworten: Meine erste Frage kann ich vorab planen, meine zweite hängt aber von der Antwort ab, die ich nicht unter Kontrolle habe, weil sie von woanders kommt oder vom Anderen in mir selber.

Was ich vor nicht langer Zeit über Boulez schrieb: dass er in seine errechneten „Strukturen“ natürlich immer willentlich eingegriffen hat, indem er den sich ergebenden Höreindruck zum Maßstab machte und die Partitur dann gegebenenfalls veränderte, gilt genauso für Grosskopf; er hat es im Interview ausdrücklich bezeugt. Die Computergenerierung von Musik durch einen Komponisten ist gar nichts Besonderes, unterscheidet sich schon einmal vom Rechnen ohne Computer nur darin, dass der letztere ihm unkreative Mühen erspart, die er sonst auf sich nehmen muss. Erspart er nicht auch mir solche Mühen, wenn ich bloß schreibe? Ich schreibe unter Beachtung grammatikalischer und stilistischer Regeln, der Computer zeigt mir, was ich geschrieben habe, und ich verändere das dann meistens noch. So sagt es auch Grosskopf: Die Musik soll so klingen, wie er sie haben will, dem entsprechend schreibt er nicht nur – und natürlich bei jedem Stück anders – das Computerprogramm, sondern verändert auch das jeweils Generierte.

Sie klingt ein wenig wie Bernd Alois Zimmermanns Photoptosis aus dem Jahr 1968. Das Klangwerk 11 wurde 2013 uraufgeführt. Beidemale dominierenden liegenbleibende Klangteppiche, die viel Spannung und in Zimmermanns Fall, der sein Stück im Untertitel zum Prélude erklärt, auch Erwartung erzeugen. Zimmermann flicht klassische Zitate ein, zuerst eins aus Beethovens Neunter. Grosskopf flüchtige unbekannte Gestalten. Photoptosis habe ich immer besonders gern gehört, am heutigen Tag fällt mir auf, dass das ja auch ein Stück aus der Revoltenzeit ist... Und übrigens haben Zimmermann wie Grosskopf mit musikalischen Mitteln viel über die Zeit an und für sich spekuliert. Grosskopf sagt, in Klangwerk 11 werde sie zum Raum. Da denkt man an Wagners Parsifal, wo dieser Satz auch fällt und gleichsam das Gegenteil dessen bedeutet, was er bei Zimmermann bedeuten würde. Er wird nämlich vor einer Zwischenmusik gesprochen, die in die Selbstverwirrung und nachfolgende Erstarrung der christlichen Geschichte, die doch stark angefangen hat, einführt. Grosskopfs Musik klagt weder noch revoltiert sie. Aber auch sie ist höchst spannend. Und wenn man es sieht wie ein Kritiker nach der Uraufführung, für den sie „radikale Entschleunigung“ war, wäre sogar auch in ihr eine politische Botschaft enthalten. In 33 Minuten kommt jedenfalls nie Langeweile auf.

Kagels musikalisches „Interview“ ist von ihm selbst, wenn man dem folgt, was er dazu gesagt hat, als für Interviews typisches Missverhältnis des Fragenden und Befragten angelegt, die auch nach seiner eigenen Erfahrung immerzu aneinander vorbeireden. Dieser Selbstanzeige ist aber vielleicht so wenig zu trauen wie manchem angeblichen Programm, das Komponisten wie Bruckner oder Mahler ihren Sinfonien unterschoben. Was Kagel tatsächlich gemacht hat: Der Sprecher zitiert aus Schriften von Debussy, von der Orchestermusik heißt es, sie stelle dazu die Interviewfragen. Und zwar hat Kagel diese Musik nach Debussys Art komponiert - wenn auch sehr verfremdet durch den avantgardistischen Duktus, so dass man beim ersten Hören nur wenige Gesten wiedererkennt -, zudem auch willentlich verzerrt, also karikiert. Wie kann dann von einem Missverhältnis die Rede sein? Wenn der herbeigerufene Debussy sich sowohl selbst befragt als auch selbst darauf antwortet? Es müsste schon ein Missverhältnis zwischen ihm und seiner Musik sein. Das aber ist ein spannendes Thema. Man ist in der Tat belustigt, wenn man Debussys einschmeichelnde musikalische Wendungen neben seinen grimmigen Sprechäußerungen anhört, oder sich vorstellt, wie es wäre, wenn man sie anhören könnte. Da ist er gar nicht nett, sondern schimpft wie ein Rohrspatz über die ihm begegnende Musikkultur.

Dem Thema „menschliche Stimme“ fügt das eine interessante Note hinzu: Komponisten, wenn sie nur „absolute“ instrumentale Musik geschrieben haben, müssen sich darin genauso „existenziell“ verausgabt haben wie nur irgendeine Popsängerin, der man es nachträglich anzumerken glaubt, dass sie früh sterben werde. Mir fällt dazu wieder Hans Pfitzner ein. Man kann diesen Unmenschen mit den eben Genannten wirklich überhaupt nicht vergleichen, es wäre eine unerträgliche Beleidigung für sie. In Einem aber doch: Seine Musik ist menschlich und originär. Es ist, als habe er alles menschliche Blut aus sich herausziehen müssen, um diese Musik schreiben zu können, und nur ein leeres Gewand sei zurückgeblieben, das sich die schlimmen Jahre von Pfitzners Lebenszeit dann überhängen konnten.

Zwischen Grosskopf und Kagel eine Uraufführung: story teller für Violoncello und Orchester von Johannes Kalitzke, der auch der Dirigent des Abends war. Er leitete das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin. Die Komposition orientiert sich, wie man liest und wiederum vor der Aufführung im Interview hörte, an den Bildern des Modefotographen Tim Walker. Kalitzke hat besonders interessiert, dass manche, die portraitiert sind, im Bildhinter- oder –vordergrund fast verschwinden. So ist denn das Konzert ein Kampf des Solisten mit dem Orchester, dem er schließlich unterliegt. Oder so wurde es vorab beschrieben. Auch hier braucht man der außermusikalischen Beschreibung nicht blind zu vertrauen. Was zu hören war, war doch wieder wünschenswert uneindeutig. Der Anfang des Werks klang fast platt: Wie angekündigt, beginnt der Solist einigermaßen pathetisch mit vertrauten tonalen Wendungen, die vom Orchester zunächst willig grundiert werden. Ganz am Anfang wird er allerdings nur von ein paar Schlagzeugern begleitet, was schon einmal befremdet. Das Orchester äußert sich dann in Wendungen, die mindestens dem Gestus nach wie aus tonalen Zeiten zitiert wirken.

Aber es wird immer spannender. Orchestral kommen Phasen originär Neuer Musik, denen sich der Solist erstaunlich passend mit Tonfolgen immer noch eher tonaler Art überlagern kann. Zuletzt brechen marktliche Events ein, die zum Teil elektronisch implantiert werden, und sind für Kalitzke, mit Recht natürlich, der eigentliche Schrecken. Verwirrenderweise erinnert man sich aber auch an die Musik von Charles Ives. Sind es dort Militärparaden und ähnlicher Straßenlärm, der am vorgestellten musikalischen Subjekt vorüberzieht, so ist es hier nun eben der lächerliche Kommerz. Der Unterschied ist freilich, dass sich Ives‘ Subjekt das Durcheinander einfach anhört, bei offenem Fenster vielleicht, während es bei Kalitzke ständig glaubt kommentieren zu müssen. Warum eigentlich? Aber die Kommentare sind nicht einmal alle hilflos und jedenfalls immer gut zu hören. So schlimm ist es doch auch wieder nicht...

Alle Konzerte des Festivals werden später vom Rundfunk gesendet, dieses hier vom rbb am 4.2. 20 Uhr 04, von Deutschlandradio Kultur am 8.2. 20 Uhr 03.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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