Das Verbrechen des Westens

Militärschlag In den USA wird eingeräumt, dass es in Syrien nur schlechte Optionen gibt. Warum greifen sie um jeden Preis nach der schlechtesten?

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Ein großes Verbrechen des Westens wird vorbereitet, und wir sitzen da und schauen zu, räsonieren allenfalls, raffen uns aber nicht zu Taten auf, zu Demonstrationen, zum öffentlichen Protest. Worauf soll das hinauslaufen, dieser geplante Militärschlag, der das Assad-Regime eingestandenermaßen gar nicht beseitigen kann und soll, ja der nicht einmal ausschließt, dass weitere Giftgaseinsätze vom Regime ausgehen, angenommen einmal, es werde mit Recht des Angriffs vom 21. August beschuldigt? Was nach wie vor zweifelhaft ist. Selbst Obamas Stabschef räumt ein, dass es keine klaren Beweise gegen Assad gibt. Als belastbar darf das Zeugnis des deutschen Aufklärungsboots „Oker“ gelten, es habe Funksprüche abgefangen, denen zufolge syrische Offiziere den Chemiewaffeneinsatz von Assad gefordert, dieser aber stets abgelehnt habe.

Belastbar sind auch die Informationen über Assads Feinde. Wie in der Bild am Sonntag und dann etwa auf tagesschau.de nachzulesen, berichtete Bundeswehr-Generalinspekteur Volker Wieker den Mitgliedern des Verteidigungsausschusses des Bundestags „von einer dramatischen Machtverschiebung innerhalb der Rebellen: Die vom Westen unterstützte Freie Syrische Armee habe ihre einstige militärische Führungsrolle eingebüßt. Der Zusammenschluss von Deserteuren der Assad-Truppen sei de facto nicht mehr existent. Stattdessen werde der Al-Kaida-Einfluss immer stärker. Das habe dramatische Folgen, berichtet das Blatt weiter: Laut Wieker gibt es kaum noch Überläufer aus den Reihen der Assad-Truppen, denn Deserteure würden von den Rebellen in der Regel sofort erschossen.“ Ja „auch die Obama-Regierung gibt zu, dass die militärisch erfolgreichste syrische Rebellengruppe ein Al-Kaida-Ableger namens Dschabat al Nusra ist, was so viel bedeutet wie ‚Siegesfront‘", lesen wir auf einer anderen Seite von tagesschau.de. „Das US-Außenministerium hatte die Al-Nusra-Rebellen bereits vor neun Monaten auf die Liste ausländischer Terrororganisationen gesetzt.“

Und weiter – es lohnt sich, das in ganzer Länge zu zitieren: „Auch die Obama-Regierung ist beunruhigt über Berichte, dass Tausende terrorbereite Extremisten - darunter auch aus Europa und den USA - die Rebellengruppen infiltrieren. Nach Schätzungen des Washingtoner Instituts für Nahost-Politik sind seit 2011 zwischen 2000 und 5500 dieser Dschihadisten nach Syrien gereist. Sie unterstützen vor allem die beiden radikal-islamischen Terrorgruppen Al Nusra und Islamic State of Iraq and Al-Sham. Diese Gruppen terrorisierten Kleinstädte im Norden Syriens und richteten dort klar umgrenzte islamische Emirate mit Scharia-Gesetzgebung ein, berichtet die Syrien-Expertin Elizabeth O'Bagy vom US-Institut für Kriegsstudien, die monatelang mit verschiedenen Rebellengruppen in Syrien unterwegs war: ‚Ich bin mit diesen Gruppen gereist. Die Radikalen haben ihre eigenen Gebiete mit eigenen Checkpoints.‘ Doch innerhalb der Obama-Regierung gibt es Zweifel, ob moderate und radikale Assad-Gegner wirklich klar voneinander abzugrenzen sind. Die Menschenrechtsorganisationen Amnesty International und Human Rights Watch werfen allen Rebellenfraktionen Kriegsverbrechen, Kidnapping, Folter und Exekutionen vor. Die ‚New York Times‘ veröffentlichte in dieser Woche ein Foto, auf dem Rebellen im Begriff sind, sieben gefesselte Regierungssoldaten zu exekutieren und in Massengräber zu werfen. Auch hier ist nicht klar, zu welcher Fraktion die Aufständischen gehören. Aber dieses Foto erinnere daran, dass die syrischen Rebellen insgesamt nicht unbedingt die idealen Alliierten der USA seien, meint David Sanger von der Zeitung.“

Und was ist die Reaktion des Westens? In den USA arbeitet Präsident Obama fieberhaft daran, die Kongressabgeordneten und die ganze Nation von der Notwendigkeit des Militärschlags zu überzeugen: Sein „Argument“ sind anscheinend einzig die Bilder, auf denen zu sehen ist, wie der Tod nach einem Giftgaseinsatz eintritt! In Europa haben die EU-Außenminister eine Erklärung unterzeichnet, in der das Assad-Regime beschuldigt und „Bemühungen der Vereinigten Staaten und anderer Länder unterstützt [werden], dem Verbot von Chemiewaffen Nachdruck zu verleihen“, kurz sie haben Präsident Obama einen Blankoscheck ausgestellt. Die deutsche Oppositionspartei SPD hat an all dem hauptsächlich zu kritisieren, dass die Bundesregierung sich der Erklärung etwas später als andere europäische Regierungen angeschlossen hat.

Worauf läuft das alles hinaus? Der Westen will den Militärschlag, der Militärschlag soll das Assad-Regime schwächen, die zunehmend von Al Qaida beherrschten Rebellen aber sollen nicht so weit gestärkt werden, dass sie den Krieg womöglich gewinnen und die Chemiewaffen in ihren Besitz übergehen. Das heißt der Westen will, dass der Krieg immer weiter geht, dass es keinen Sieger gibt, dass immer mehr Menschen sterben! Und es ist nicht einmal sicher, dass er dann sagen kann – was schon zynisch genug wäre -: „Ja, aber sie sterben doch wenigstens nicht mehr am Giftgas!“ Eine solche „Strategie“ ist nicht nur verantwortungslos. Sie ist verbrecherisch. Sie stellt die Verbrechen der syrischen Bürgerkriegsparteien in den Schatten. In Afghanistan waren die USA einst bereit, mit einem Osama bin Laden zu paktieren, um die damalige von der Sowjetunion gestützte Regierung zu beseitigen. In Syrien sind sie nun natürlich nicht bereit, mit Al Qaida zusammenzuarbeiten, diese Zeiten sind vorbei. Aber umgekehrt mit Assad zu paktieren, damit Al Qaida in Syrien besiegt wird (und er die Herrschaft über Teile seiner Armee zurückgewinnt, die seine Befehle missachten – falls sie das tun, was ja auch nur eine Spekulation ist): Dazu sind sie auch nicht bereit. Bin Laden, das ging noch, aber Assad? Um keinen Preis! Selbst wenn noch Abertausende sterben müssen!

Dennoch führt an einer diplomatischen Lösung nichts vorbei. Assad muss als Verhandlungspartner anerkannt werden. Man muss eine Konferenz machen, wie sie ja schon geplant war, mit Assad und solchen Rebellen, die nicht unter Al Qaida-Einfluss stehen. Wenn letztere nicht kommen wollen, muss man die Konferenz trotzdem machen. Wenn aber der Westen lieber den Militärschlag vorbereitet als diese Konferenz, dann muss es Demonstrationen geben wie seinerzeit gegen die Vorbereitung des Irakkriegs durch US-Präsident George W. Bush. Warum rührt sich niemand, nicht einmal die Linkspartei?

Nachtrag: Wie soeben gemeldet wird, hat US-Außenminister Kerry dem Assad-Regime ein Ultimatum gestellt: Wenn es innerhalb einer Woche alle Chemiewaffen der "internationalen Gemeinschaft" übergebe, werde es keine Intervention geben. Das ist kein schlechter Schritt, besser wäre es aber gewesen, wenn er auch erklärt hätte, eine Konferenz der Bürgerkriegsparteien werde nun endlich einberufen. Formuliert er die Forderung an Assad möglichst schroff, damit der nicht zustimmen kann? Ist es Assad überhaupt noch möglich, ihr zuzustimmen? Wenn er gar nicht mehr die volle Kontrolle über seine Armee hat, ist es ihm nicht möglich. Es bleibt dabei: Ein Militärschlag ist unter gar keinen Umständen zu rechtfertigen.

Neuer Nachtrag. Auf tagesschau.de ist jetzt zu lesen: "Die US-Regierung relativierte derweil Äußerungen von Außenminister John Kerry, wonach Syrien einen Militärschlag durch die Übergabe aller Chemiewaffen abwenden könnte. 'Außenminister Kerry hat eine rhetorische Bemerkung gemacht über die Unmöglichkeit und Unwahrscheinlichkeit, dass Assad die Chemiewaffen übergeben könnte', erklärte das US-Außenministerium." Andererseits hat inzwischen Russland "von seinem Verbündeten Syrien gefordert, die Chemiewaffen unter internationale Kontrolle stellen zu lassen. Damit wolle man einen möglichen Militärschlag verhindern, sagte der russische Außenminister Sergej Lawrow." Die Reihenfolge beider Ereignisse - der Forderung Russlands und der Äußerungen Kerrys - ist im Moment nicht klar. Hat zuerst nur Russland die Idee geäußert und Kerry hat sich ihr "vorschnell" angeschlossen, um dann zurückgepfiffen zu werden? In Kürze wird sich das klären. Für heute breche ich ab.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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