Dasein

Maerzmusik 2017 Julius Eastman zeigt es ihnen – denen, die sich von seiner Fremdheit bedroht fühlen

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Evil Nigger (1979), Gay Guerilla (1979) und Crazy Nigger (1978) sind die provozierenden Titel der drei Stücke für vier Klaviere von Julius Eastman, dem schwulen schwarzen US-Künstler (1940-1990), mit denen am Freitag voriger Woche die diesjährige Maerzmusik eröffnet wurde. Das Wort „Nigger“ galt damals schon als Beleidigung, doch der Getroffene macht es sich zu eigen, dreht es um und schleudert es seinen Verächtern musikalisch entgegen. Viel Verschiedenes hat dieser Künstler angestellt, einmal trat er als Sänger in einem von Pierre Boulez dirigierten Konzert auf (Eight Songs for a Mad King von Peter Maxwell), ein anderes Mal wurde ein Stück „for Eastman’s voice and cello ensemble“ aufgeführt, und er spielte auch in einer Jazzband zusammen mit seinem Bruder Gerry, der zuvor dem Count Basie Orchestra angehört hatte. Unter allem, was Eastman komponiert hat, müssen ihm die drei eingangs genannten Stücke besonders wichtig gewesen sein, denn in ihnen, so heißt es, sei sein „organisches“ Prinzip, wie er es nannte, am besten verwirklicht: Jeder neue Abschnitt eines Stücks nimmt nach und nach alle musikalische Information der vorausgegangenen Abschnitte in sich auf.

Wie eine Wagenburg waren die Klaviere gegen alle vier Himmelsrichtungen des um die Bühnenareale erweiterten Saales des Berliner Festspielhauses inmitten des zahlreichen Publikums gestellt und hämmerten meist mit größter Lautstärke ihre gleichförmigen Rhythmen. Anschläge, ja wirklich Schläge gleicher Tonhöhe schnell hintereinander, in der Gay Guerilla überwiegend mit der Akzentuierung tatatammtatatammtatatamm, das war ein Rausch, und auch das „Organische“ wurde evident, nicht so allerdings, wie das Wort es nahelegt. Deutlich hörbar füllten sich die Abschnitte mit immer mehr Tonhöhen auf: Ich würde eher im Gegenteil sagen, ein „organloses“ Prinzip habe sich geltend gemacht, etwas das an den „organlosen Körper“ bei Deleuze / Guattari erinnert. Die zitieren es von Henri Michaux: als werde „ein Tisch mit Zusätzen, so wie gewisse überladene Zeichnungen Schizophrener gemacht sind“, vor unsere Augen (Ohren) gestellt, „Tisch, der immer mehr von einem Haufen, immer weniger von einem Tisch an sich hatte“ (Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, Frankfurt/M. 1977, S. 12 f.). Das war also nicht organisch in dem Sinn, wie es von einer Symphonie von Brahms gesagt werden könnte. Und doch war manches der Tradition nahe, etwa dass die Stücke am Ende ruhiger und leiser wurden und derart eine Abrundung anzustreben schienen. Man konnte es freilich auch als Erschöpfung nach dem Exzess begreifen.

Die Wirkung aller Stücke war energetisch und so ähnelten sie einander sehr, doch wurden auch die Unterschiede deutlich, so dass im ersten Stück immer wieder die Vollkadenz in Form ihrer Grundtöne hervortrat, im zweiten sich das erwähnte tatatamm in den Vordergrund spielte und im dritten die große Sekunde dominierte. Hier wurde zudem die Melodie des Luther-Chorals „Ein feste Burg ist unser Gott“ eingeblendet und man konnte nicht zweifeln, weshalb. Der schwule Afroamerikaner hält an sich selbst fest, es ist seine Selbstbehauptung.

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Der Begriff Minimal Music wird nicht überall einheitlich verwendet; so schreibt Udo Badelt im Tagesspiegel, Eastmans Stücke seien „postminimalistisch“, weil sie „die mathematische Starrheit von Minimal Music“ schon „hinter sich“ ließen. Doch wenn man zum Beispiel die Charakteristika von Minimal Music liest, die Wikipedia auflistet, finden sie sich alle wieder: repetitive Strukturen, stabile Harmonik, tonale Musiksprache, geringe Veränderung der Klangfarbe und –dichte und so weiter. Namentlich das Merkmal der „additive[n] und subtraktive[n] Prozesse: Durch Hinzufügen oder Fortnehmen einzelner Noten der motivischen Zellen werden diese in ihrer rhythmischen Struktur verändert“ treffen wir bei Eastman an, wenn auch in jener modifizierten Form, die der Künstler „organisch“ nennt. Bei ihm werden nicht so sehr die rhythmischen Strukturen überlagert. Da er auch keine Mikrorhythmik verwendet, hat seine Rhythmik durchaus etwas „Starres“ - Starrsinniges, wozu er ja guten Grund hat. Kein Starrsinn kann legitimer sein als dieser. Nun werden allerdings gerade die additiven und subtraktiven Prozesse als charakteristisch für den Postminimalismus angegeben, so in der englischen Ausgabe von Wikipedia.

Auch soll der „steady pulse“ über (nahezu) ein ganzes Musikstück hinweg (oder verschiedener steady pulses, die jeweils einem Abschnitt desselben zugrunde liegen), der die Klavierstücke von Eastman ebenfalls auszeichnet, für Postminimalismus charakteristisch sein. Aber das würde dann auch auf Nixon in China zutreffen, die Oper von John Adams, die man uns vor ein paar Jahren in Berlin als Minimal Music vorgestellt hat. Und tatsächlich lesen wir im englischen Wikipedia, diese Oper enthalte nur „elements“ von Minimal Music, weil zwar „stasis and repetion“ für sie charakteristisch seien, sie aber, wie Adams‘ Biographin Sarah Cahill hervorgehoben habe, „by far the most anchored in Western classical tradition“ sei. Vielleicht wird in der englischsprachigen Welt differenzierter über Minimal Music nachgedacht und geschrieben als hierzulande, einfach weil sie dort beheimatet ist, während manche hiesige Werke, die allenfalls in Betracht kämen, wirklich nur mit Vorbehalt minimalistisch genannt werden können?

Es ist auch interessant, dass man Carl Orffs Carmina burana manchmal in die Nähe von Minimal Music gestellt findet, obwohl es dann auch wieder heißt, sie reagiere auf serielle Musik, insofern als „die geradezu süchtige Wiederholung“ in ihr „auch eine freilich sehr spezielle Abwandlung des Reihen-Denkens“ sei: „dieses tritt nun wirklich nur als Reihung auf, ohne die Intention auf größtmögliche Informationsdichte, Abwechslung, Mannigfaltigkeit“. So Hanns-Werner Heister, der den Kontext zu Orff herstellt (Vereinfachungen. Ritualismus und Minimalismus, in Geschichte der Musik im 20. Jahrhundert: 1945-1975, Laaber 2005, S. 278-284, vg. S. 279 und 281). Ich teile keinesfalls Heisters Perspektive, der den Minimalismus für reaktionär hält. Man müsste dann auch das Gemälde Who’s Afraid of Red, Yellow and Blue von Barnett Newman für reaktionär halten, das doch im Gegenteil derart avantgardistisch ist, dass Betrachter in Berlin und Amsterdam es zu zerstören versuchten. Als es in Westberlin 1982 von der Neuen Nationalgalerie erworben wurde, erhielt der Direktor Morddrohungen und die Boulevardpresse nannte es das „Werk eines Anstreicherlehrlings“. Als es jedoch galt, das Werk nach der Beschädigung zu heilen, konnten Newmans reine Farben kaum reproduziert werden - obwohl es nur Grundfarben waren! Doch wenn Heister den Minimalismus zum Serialismus in Beziehung setzen kann, führt uns das weiter, denn dann wäre er ja gerade verankert „in Western tradition“.

Er würde zu den vielen Gestalten moderner westlicher Kunst gehören, die aus der „klassischen“ Tradition auf nachvollziehbare Weise hervorgegangen sind. Die Verankerung in der Tradition wäre nichts, was man ihm eventuell noch hinzufügt, sondern er hätte es selber.

Und es spricht Einiges dafür. Es gibt die Parallelerscheinung „Minimal Art“ in der Bildenden Kunst (a.a.O., S. 279); die im Minimalismus vorgenommene Komplexitätsreduktion „wurde durch [John] Cage usw. wenn nicht inauguriert so doch gefördert“ (ebd.); auch etwa Karlheinz Stockhausens Stimmung für sechs Vokalisten (1968) mutet minimalistisch an („6 Sänger intonieren über die mehr als einstündige Dauer des Werks hinweg in unterschiedlichen Artikulationsformen und Obertonfärbungen einen einzigen Nonenakkord in reiner Stimmung und vibratolosem Piano. Hineingerufene ‚magische‘ Götternamen verschiedener Kulturkreise und erotische Gedichte Stockhausens ergänzen die Komposition“, so G. Dietel, zitiert bei Heister S. 281); und auch Giacinto Scelsi (1905-1988), dessen Bedeutung für die Avantgarde in den letzten Jahren immer mehr hervorgehoben worden ist, kann in den minimalistischen Kontext gestellt werden. Scelsi hat nämlich „[d]ie Verbindung zu älteren Traditionen des mikrotonalen Komponierens vermittelt“: „Seine vier Orchesterstücke über jeweils nur einen einzigen Ton (1959) entfalten ein farbenprächtiges Spektrum des (vierteltönig abschattierten) Einzeltons, nicht ohne Östlich-Meditatives als Legitimation zu verwenden.“ (S. 280)

Die östliche Legitimation ist ein wichtiges Stichwort. Man kann zwar die Minimal Music zu den Erscheinungsformen des Versuchs US-amerikanischer Künstler zählen, eine eigene moderne Kunst zu schaffen, die sich von der europäischen unterscheidet. So hätte man schon ziemlich viel von ihr verstanden. Aber abgesehen davon ist sie auch eine Kunst, die sich eignet, mit der asiatischen und auch afrikanischen Kunst zu kommunizieren. Das Letztere hebt Heister hervor. Und stehen denn die beiden Aussagen im Widerspruch zueinander? Überhaupt nicht; gerade die USA sind seit langem der Boden, auf dem sich europäische und außereuropäische Traditionen begegnen und mischen. Wenn man ein Werk wie The Electric Harpsichord von Catherine Christer Hennix nimmt, von dem ich zuletzt schrieb, so findet man beides in Einem: einmal den Einzelton oder in ihrem Fall den konstanten Tetrachord, der vor allem östlich-meditativ empfunden wird, wobei aber eben auch Europäer gelegentlich meditieren und es sich auch in deren Musik niederschlägt – nicht erst bei Scelsi, sondern in der Avantgardemusik von Anfang an: Schönbergs „Farben“, das Zentrum der Fünf Stücke für Orchester op. 16, sind meditativ; und schon Haydns „Sitio“, das fünfte der Sieben Worte unseres Erlösers am Kreuze (op. 51), hat „elements of minimalism“ -, zum andern die gerade damit vereinbare afrikanische Rhythmik. Mit der europäischen Sonatenhauptsatzform wäre diese Rhythmik nicht vereinbar, aber damit ist sie es.

Ich weiß daher nicht, ob solche Unterscheidungen wie „Minimalismus“ und „Postminimalismus“ wirklich weiterführen. Sie lenken doch nur von der Frage ab, was von den auffälligen Hauptcharakteristika der Minimal Music, wie Wiederholung und „Ein-Ton-Tendenz“, zu halten ist. Wie gesagt, sie scheinen die Seite europäischer Musik zu sein, die sich eignet, mit Außereuropäischem kommunizieren zu können. Man kann den Minimalismus deshalb auch noch anders kontextualisieren: nicht nur so, dass man auf „Elemente“ von ihm in der europäischen Musiktradition verweist, sondern auch indem man sich solcher europäischer Kompositionen erinnert, die Außereuropäisches aufzunehmen versucht haben, ohne schon minimalistisch geworden zu sein oder werden zu wollen. Das ist „durchgängig bei Olivier Messiaen“ der Fall „– sicher kein Zufall, dass gerade auf dem Hintergrund kolonialer Traditionen ein französischer Komponist hier besondere Sensibilität entwickelte“ (H.-W. Heister, Entdeckung der neuen „Dritten Welt“ und universalistische Integration des „Exotischen“, in Geschichte der Musik ..., a.a.O. S. 263-274, hier S. 266), und auch bei Messiaens Schüler Boulez, der freilich nur exotische Klänge adaptierte, während der Lehrer auch etwa indische Rhythmen aufgenommen hatte.

Bei dieser Aneignung stellt sich aber eben die Frage, ob sie nicht selbst so „kolonial“ ist wie ihr Entstehungshintergrund. Das Exotische ist hier eben nur eingefügt in rein europäische Musikstrukturen. Sie wird somit von ihnen abhängig gemacht. Besonders bei Boulez ist das der Fall – und wir reden von seinem Meisterwerk, dem Marteau sans maitre -, bei Messiaen weniger. Ja schon dass man hier mit gutem Grund von Exotik sprechen kann, weil es sich so eben auch anhört, ist bezeichnend genug. Die minimalistischen Künstler wollten gerade nicht exotisch komponieren. „Der am wenigsten interessante Weg, auf nicht-westliche Musik zu reagieren, wäre, den Klang der anderen Musik zu imitieren“, sagt Steve Reich: „Das ist der einfachste und überflüssigste Weg, der lediglich bei musikalischen Chinoiserien endet. Nein, für einen Komponisten kann nur diskutabel sein, Musik mit den eigenen, das heißt westlichen Klangmitteln im Lichte der Kenntnis von nicht-westlichen Strukturprinzipien zu schreiben. [...] Die strukturellen Ideen der nicht-westlichen Musik sind in Beziehung zu setzen mit den Instrumenten und dem Tonsystem, mit dem man aufgewachsen ist. Der nicht-westliche Einfluss manifestiert sich daher im kompositorischen Denken und nicht im Klang.“ (zitiert nach Heister, Vereinfachungen ..., a.a.O., S. 282)

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Bei Eastman noch eine weitere Umdrehung. Da komponiert einer, der sich in der Drohung derer behauptet, die das Fremde nicht ertragen, und das mit dem Tonsystem und an eben dem Instrument, mit denen die Fürchtlinge aufgewachsen sind. Er zeigt es ihnen. Spezifisch afrikanische Musikelemente muss er da gar nicht aufbieten. Ja, das ist eine aggressive Musik. Aber doch auch eine der extremsten Lebensfreude. Beides lässt sich nicht trennen, wie sollte es auch. Ob er will oder nicht, gehört es zusammen. Ich bin da! schreit der „evil nigger“. Was es ihn gekostet hat, zeigt sein Lebensweg. Am Ende hat er kein Geld mehr, wird obdachlos und stirbt mit 49 Jahren am Herzstillstand.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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