Debussy und Wagner

Musikfest 2018 Alexander Melnikov war der Richtige, die „Préludes pour piano“ zu spielen

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Als ich am Montag meinen kleinen Artikel zum Musikfest für die morgen erscheinende Printausgabe schrieb, hatte ich schon drei Konzerte besucht, mir lag aber daran, das erste und nur das erste zu skizzieren – die Préludes pour piano (zwei Bücher, 1909-1913) von Claude Debussy, gespielt von Alexander Melnikov am Freitag Abend. Es waren aber wirklich nur ein paar Sätzchen, so dass ich denke, ich sollte das hier mit etwas mehr Ausführlichkeit wiederholen.

Das Phänomen Debussy ist für mich als deutsch sozialisierten Musikhörer nicht leicht zu fassen. Dabei handelt es sich in diesem Fall gar nicht um ein Phänomen national verschiedener Musikstile. Das gibt es auch, aber der französische Stil war vom deutschen nicht sehr verschieden, bevor Debussy auftrat, ganz abgesehen von der in Frankreich grassierenden Wagner-Begeisterung, die ja gerade auch für Debussy ein Ausgangspunkt war. Viele sagen, er habe sich von Wagner emanzipieren wollen, und faktisch jedenfalls hat er es getan. In anderer Perspektive kann aber auch wieder gesagt werden, seine Oper Pelléas et Mélisande (1902) jedenfalls sei genauso gut ein Dokument der Emanzipation von Wagner wie der Nähe zu ihm, genauso gesagt zum Parsifal, denn gibt es überhaupt irgendeine Musik, die dem Parsifal ähnlicher ist als sie? Obwohl auch die große Verschiedenheit beider unüberhörbar ist.

Wenn man von den Libretti ausgeht, springt eine Gemeinsamkeit ins Auge: Debussys Oper beginnt damit, dass eine Frau irgendwo im Wald gefunden wird. Es ist insofern eine „gefallene“ Frau, als ihre Krone in den Brunnen gefallen ist, an dem sie sitzt. Sie ist hierher von dem König geflohen, alles Weitere bleibt unklar. Es ist Mélisande, um sie wird sich nun alles drehen. Das kann man von Kundry in Wagners Oper nicht sagen, doch auch sie wird im Wald gefunden: Titurel, der alte Gralskönig, „der fand, als er die Burg dort baute, sie schlafend hier im Waldgestrüpp, - erstarrt, leblos, wie tot“. Kundry wird nicht die Hauptrolle spielen. Sie verschwindet, bevor Parsifal die Gralsherrschaft übernimmt. Auch Mélisande stirbt am Ende, hinterlässt aber eine Tochter, und der alte König von Allemonde, wo sich die Eifersuchtsszenen um Mélisande zwischen den Brüdern Goland und Pelléas abgespielt haben, sagt, ihre Tochter solle ihren Platz einnehmen. Ich meine, es geht in Wagners Dichtung wie in der von Maurice Maeterlinck, die Debussys Libretto zugrunde liegt, wie in so vielen anderen Kunstwerken dieser Zeit um jenes nihilistische Grundgefühl, das sich am klarsten in Friedrich Nietzsches Philosophie aussprach, und die Frage, ob und wie es zu einem gesellschaftlichen Neuanfang kommen kann.

Unter diesem Gesichtspunkt ist der Unterschied absolut gravierend. Denn bei Wagner kommt nie ein Zweifel darüber auf, dass es den Neuanfang geben wird. Der sieche König Amfortas, der nicht mehr weiter weiß, weiß so viel doch ganz genau, dass ihn ein starker Führer ablösen wird, und könnte ihn sogar schon beschreiben, weil er das Orakel kennt: „durch Mitleid wissend, der reine Tor“ – das ist Parsifal; es gibt da gar kein Problem, wenn man nur davon absieht, dass man diesem „Reinen“ schon zu einer Zeit begegnet, wo er noch dabei ist, sein Wissen zu erwerben, und man ihn also nicht gleich als den erkennt, der er ist. Ganz anders bei Debussy. Da bleibt alles offen, nur dass da eine rätselhafte Frau ist, die wenigstens ihr Töchterchen hinterlässt, auf das man seine sehr vagen Hoffnungen setzen kann.

In der Musik von Wagner und Debussy aber, und das ist der langen Rede kurzer Sinn, gibt es eine gewisse entfernte Ähnlichkeit, die daher rührt, dass beidemale etwas erwartet wird. Mehr noch, das grundstürzend Neue, zu dem es kommen soll, wird beidemale in einer Haltung der Passivität erwartet, hat diese auch noch so verschiedene Ursachen. Man muss hinzufügen, dass die Adligen von Allemonde nicht ganz und gar passiv sind, mühen sich doch Goland und Pelléas, Mélisande zu besitzen. Wer oder was sie aber ist, versteht niemand, auch Arkel nicht, der noch nach ihrem Tod sagt, sie sei rätselhaft gewesen. So ist denn zwar der Gesang im Pellás lebhaft, ja leidenschaftlich, was man vom Parsifal nicht gerade sagen kann, die Orchestermusik ist aber in beiden Fällen langsam, getragen und geradezu feierlich. Dabei ging es Wagner trotz der fatalen Hoffnung, die er in seinen „reinen Tor“ legte – inwiefern sie fatal war, brauchte ich wohl nicht erst auszuführen – bis fast zum letzten Takt darum, das Siechtum und in ihm das Ausharren musikalisch darzustellen, während Debussys Musik offener erscheint, sie kann weder optimistisch noch pessimistisch genannt werden, Kategorien solcher Art gleiten an ihr ab, wohl eben weil er in gar keiner Weise beansprucht, ein Orakelgeber zu sein.

Es wäre vielleicht bloß ein Kalauer, wenn ich von hier aus zum ersten Stück des ersten Buchs der Préludes überginge mit dem Hinweis, dass ja Delphische Tänzerinnen sein Titel ist – Delphi war im antiken Griechenland der wichtigste Orakelort – und dass da nun gerade keine Losung ausgegeben, überhaupt nichts „Weiterführendes“ von Debussy ausgesagt wird, man vielmehr nur dieses Tanzen oder sogar nur die Erinnerung an es zu hören scheint. Wobei ich nicht einmal wüsste, in den Geschichtsbüchern von solchen Tänzerinnen etwas gelesen zu haben. Nach Delphi kommen und Tänzerinnen zusehen, ist das nicht eine Enttäuschung? Mögen sie auch schön sein wie auf Degas‘ Gemälden! Mit Recht hebt Klaus Billing hervor, dass diese Musik viele Deutungen zulässt, derart dass jede einzelne sie schon unzulässig einengt (Reclams Klaviermusikführer II, Stuttgart 1994, S. 597 f.); aber dies jedenfalls, dass wir am Ort der Pythia kein Orakel empfangen, ist absolut klar. Dabei gehörte es doch gerade auch zum Wesen der Orakel, dass sie viele Deutungen zuließen.

Die Préludes sind musikalisch eine ganz andere Welt als der Pelléas, und doch ist es denkbar, dass sie um dasselbe Problem kreisen, um eine Unklarheit, „wie es weitergehen wird“, das Bedürfnis, es wissen zu wollen, und die eingestandene Unfähigkeit dazu. Ich habe mir die ersten vier Stücke des zweiten Buchs der Préludes, von denen Billing sagt, sie seien „eine Summe von vier grundverschiedenen Werten“, etwas näher angesehen. Grundverschieden, ja, aber in einer Hinsicht doch wieder einheitlich; in allen scheint es nämlich um das Verhältnis von Wirklichkeit und Unwirklichkeit zu gehen. Schon die Titel, drei von vieren jedenfalls, deuten es an: Nebel, Welkes Laub, Die Feen sind erlesene Tänzerinnen. Gerade wenn man davon ausgeht, dass Debussy sich von solchen Bildvorstellungen allenfalls einen ersten Anstoß hat geben lassen – die Titel sind den Stücken auch nur nachgestellt, sie stehen im doppelten Wortsinn nicht über ihnen -, kann man umso besser sehen, dass eine ihnen gemeinsame Struktur von den Stücken doch wirklich thematisiert wird. Im Nebel tauchen klare Linien gelegentlich aus dem Verschwommenen hervor und verschwinden wieder in ihm. Das wäre hier die Fata Morgana des Orakels. Umgekehrt im Welken Laub, da verschwindet etwas, dessen Existenz aber doch noch präsent ist, wenn auch nicht mehr lange. Dass es Die Feen gar nicht gibt, nicht gegeben hat noch geben wird, ist klar, immerhin fängt man hier aber an, über die verschiedenen Arten des Unwirklichen nachzudenken; die Möglichkeit ist etwas anderes als die Fiktion, diese etwas anderes als das pure Nichts. Und dann das vierte, in der Reihenfolge dritte Stück, La Puerta del vino, so ein Tor gibt es wirklich und die Musik ist deutlich genug, es im vollen spanischen Sonnenschein auf die Bühne springen zu lassen. Obwohl das ein absurdes Bild ist, musikalisch gesehen tut sie es. Auch dass dann spanisch Gitarre gespielt zu werden scheint und sich etwas wie Flamenco andeutet, beschwört die volle Realität herauf. Aber bald verunklart sich dieses Spiel.

Sehen wir beim ersten Stück, dem Nebel, zu, wie es gemacht wurde: „Es handelt sich [...] um Prozesse“, schreibt Dieter Schnebel (zitiert bei Billing, S. 612 f.). „Das heißt, dass Einzelnes nicht als Teil einer übergreifenden Einheit unterzuordnen ist (etwa: ein bestimmter Ton von bestimmter Dauer als erster Bestandteil eines Themas, das aus einer Anzahl ähnlicher Bestandteile besteht). Vielmehr ist Einzelnes Stadium, also für sich Seiendes, Selbständiges. In der Abfolge solcher Stadien erscheint der Prozess. Also kommt es darauf an, sowohl das Einzelne für sich zu erkennen als auch die Vorgänge, die aus der Folge solcher einzelnen Begebenheiten resultieren.“ Nebenbei gesagt, rührt Schnebel hier an ein Rätsel, denn es ist doch genauso wahr, dass Debussy zu den Komponisten gehört, denen man nur den Bruchteil einer Sekunde zuzuhören braucht und dann schon weiß, dass er es ist und kein anderer. In einer Hinsicht gibt es also „Teil und Ganzes“ selbst noch bei einem Stück wie dem Nebel, in anderer nicht. Das muss ich jetzt so stehen lassen, will nur sagen, dass es zu „übergreifenden Einheiten“ am ehesten wohl dann kommt, wenn jemand weiß, worauf er oder sie hinauswill.

Und vor allem will ich sagen, dass Alexander Melnikov der Richtige war, so zu spielen, wie „es darauf ankommt“, nämlich das Einzelne in seiner Autonomie hervorzuheben, mochte es noch so dahinhuschen, und zugleich die „resultierenden Vorgänge“ deutlich zu machen. Deshalb war das ein großer Konzertabend.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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