Der amerikanische Heidegger

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In der Eintragung heute Mittag habe ich unterstrichen, dass Cage nichts Sinnvolles zum Ausdruck bringen will, und das ist noch zu wenig gesagt, er will das nicht Sinnvolle zum Ausdruck bringen.

Ein von ihm selbst verfasster Schlüsseltext ist der Vortrag über nichts (1949). "Ich bin hier, und es gibt nichts zu sagen", beginnt er. Wenn er fortfährt: "Was wir brauchen, ist Stille; aber was die Stille will ist, dass ich weiterrede", stellt sich die Erinnerung an den Schlusssatz des Romans Der Namenlose von Samuel Beckett ein: "das Schweigen, das Ende, der Anfang, der Wiederanfang, wie soll ich es sagen, es sind Worte, ich habe nichts anderes, und nicht einmal viele, sie machen sich rar, die Stimme versagt", und dann: "man muss Worte sagen, solange es welche gibt, man muss sie sagen, bis sie mich finden", "es wird ich sein, es wird das Schweigen sein", "die Tür, die sich zu meiner Geschichte öffnet", "man muss weitermachen, das ist alles, was ich weiß".

Cage hat Töne, "und nicht einmal viele". Auch s e i n e Stille scheint doch ein Warten auf etwas zu sein: "Während wir fortfahren, (wer weiß?) kommt vielleicht eine Idee in diesen Vortrag." Veni creator spiritus! Oh, das ist ein Tonfall, den wir kennen. Gleich fällt uns Hans Pfitzner ein, der seine Rückfrage wie an Gustav Mahler so auch an Cage hätte richten können: "Und wenn sie nun aber nicht kommt?"

Nur dass Cage über den Ideenmangel nicht besonders traurig zu sein scheint: "Unsere Poesie jetzt ist die Erkenntnis, dass wir nichts besitzen. Alles ist daher ein Vergnügen (da wir es nicht besitzen) und deshalb seinen Verlust nicht fürchten müssen." Aber dann heißt es wieder, "jeden Augenblick" könne "eine Idee daherkommen": "Dann können wir uns darüber freuen." "Jeder Augenblick ist absolut, lebendig und bedeutsam" - etwa weil er die Möglichkeit einer Idee ist, die im Anflug sein könnte? "Stare steigen von einem Feld auf", im nächsten Satz, "und machen dabei ein Geräusch köstlich ohnegleichen". Das haben wir das Geräusch. Wenn die Idee fehlt und ich mich nicht finde, geht doch das Leben mit seinen Geräuschen weiter, an denen ich mich freuen kann. Ja, ich kann mich zu noch mehr Lebensfreude trainieren, indem ich es lerne, mich an ganz viele Geräusche anzupassen, sogar auch die des Straßen- und Schienenverkehrs.

Was Cage über Intervalle und musikalische Struktur sagt, übergehe ich. Es folgt dann der "vierte Teil", der mit den Worten beginnt: "Hier sind wir nun am Anfang des vierten großen Teils dieses Vortrags. Mehr und mehr habe ich das Gefühl dass wir nirgendwo hingelangen. Langsam, während der Vortrag weitergeht, gelangen wir nirgendwo hin und das ist ein Vergnügen. Es ist nicht irritierend, zu sein, wo man ist. Es ist nur irritierend zu denken, man wäre gern irgendwo anders. Hier sind wir nun ein kleines Stück über den Anfang des vierten großen Teils dieses Vortrags hinaus. Mehr und mehr haben wir das Gefühl dass ich nirgendwo hingelange", und so geht es mit endlosen Wiederholungen über viele Seiten weiter. Cage hat dem Vortrag später noch eine "Nachbemerkung" hinzugefügt, in der er erklärt, welche immer gleichen Antworten er den Fragen des Publikums zum Vortrag zu erteilen pflegte: "Das ist eine gute Frage. Ich möchte sie nicht durch eine Antwort verderben." Oder: "Bitte wiederholen Sie die Frage... Und noch einmal... Und noch einmal..."

Wie überall, war Cage auch hier b e g r i f f l i c h nicht konsistent - war er doch Komponist und nicht Philosoph -, denn während er vor dem Publikum so tat, als sei es irgendwie Blödsinn, Fragen nicht nur zu stellen, sondern auch beantwortet haben zu wollen, wollte er selbst durchaus Antworten finden. Seine Musik ist genau die Vorrichtung, er hat es oft wörtlich gesagt, auf von ihm gestellte "Fragen" den Zufall antworten zu lassen. Das ist ein wenig wie bei den altrömischen Priestern, die ein Geviert am Himmel absteckten und dann warteten, ob und welche Vögel hindurchflogen. Nur dass Cage sich nicht anmaßte, den Sinn des Vogelflugs, in seinem Fall des Zufalls etwa von Unregelmäßigkeiten auf einem Blatt Papier, sinnhaft zu deuten. Das wäre ja wirklich Blödsinn gewesen. Sinn geben die Zufälle nun einmal nicht her. Aber es scheint doch, als ob sie die Stelle von etwas einnehmen, das leider nicht kommt.

Man muss sich klarmachen, was es heißt, dass Cage die Zufälle immerhin musikalisch hörbar macht. Er übersetzt sie damit in eine menschengemachte Sprache, und Sprache ist das Medium, das dazu da ist, Sinn zu kommunizieren. Mir selbst kam dieser Gedanke erst gestern Abend im Konzert der Sonic Arts (Re) Union, einer Gruppe von vier Künstlern, die laut Programmheft "unterschiedliche Ansätze der experimentellen Live-Elektronik in der Nachfolge von John Cage aus[prägten]". Sie wird "(Re) Union" genannt, weil es ihre "Union" nicht mehr gibt. Die Künstler haben längst aufgehört - ihr jüngstes Mitglied hat 75 Lenze, ihr ältestes 82 -, und so stolz die Festspielleitung auch ist, sie noch einmal aktiviert zu haben, kam es mir doch ein wenig unmenschlich vor. Denn ich hatte gerade bei Alvin Lucier, von dessen Music for Solo Performer (1965) ich sprechen will, den Eindruck, dass es ein Qual für ihn war.

Wie auch immer, es war erhellend, zu sehen, was er machte. Lassen wir das Programmheft sprechen: "Zurecht hat Lucier darauf hingewiesen, dass Music for Solo Performer nicht nur die erste Komposition war, die Gehirnwellen einsetzte, sondern auch die erste, in der ein Interpret allein durch völliges Stillhalten Klänge erzeugt. Insofern stellt sie eine faszinierende Version von Cages Forderung dar, von den eigenen Wünschen und Vorstellungen abzusehen und einen Zustand der Absichtslosigkeit zu erreichen."

Na ja, das haben wir nun schon oft gehört. Hat Cage die "Absicht" wirklich nicht gehabt, auf eine Idee zu kommen? Die Tür zu finden, die sich zu seiner Geschichte geöffnet hätte? Oder vielmehr zur Geschichte der Menschheit? Denn seine ganz private Tür hat er ja gefunden. Er hat die "Absicht" insofern nicht gehabt, als er wusste, dass man allein durch den guten Willen zu keiner Idee gelangt. Und dann ist er wohl ins andere Extrem gefallen und meinte, man müsse nun eben w a r t e n auf die Idee, und je weniger man selbst dafür tue, umso wahrscheinlich sei es, dass sie sich einstelle. Das erinnert ziemlich an den späten Heidegger, der unter der "Seinsverlassenheit" litt und auf „das Ereignis" wartete. Man kann urteilen, dass Cage und Heidegger sich gewissermaßen gegenseitig rechtfertigen, da der eine vom anderen nicht wusste und sie doch auf ganz ähnliche Gleise kamen. Was Cage und was der späte Heidegger dachten, scheint doch in der Zeit gelegen zu haben. Davon aber, dass die Menschheit gar nichts tun könne, um s e l b s t zu antworten, haben mich beide nicht überzeugt.

Weiter das Programmheft über Luciers Solo: "Das Einzigartige dieser Komposition erfährt man [...] erst, wenn man eine Aufführung live miterlebt und den 'Solo Performer' auf seinem Stuhl sitzen sieht, regungslos, aber verdrahtet, während ohne sichtbare Ursache, also auf fast magisch erscheinende Weise plötzlich die Becken, Gongs, Pauken und Trommeln zu schwingen und zu klingen anfangen." In der Tat. Besser wäre es zwar, wenn die Gehirnströme sich z u e i n e r I d e e formten, aber dass wir sie in die S p r a c h e der M u s i k übersetzen können, ist immerhin m e h r als nichts, als das Nichts.

Ich will noch über ein Konzert heute Nacht und ein weiteres morgen Vormittag berichten, werde aber erst am Dienstag dazu kommen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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