Für ihn war es die Abschlussvorstellung. Der 80-jährige Siegfried Matthus gibt nach dem Ende dieser Saison die Leitung der Rheinsberger Festspiele, die er ins Leben gerufen und bisher geleitet hat, an seinen Sohn ab. Ende Juni wurden sie mit seiner Judith aus dem Jahr 1985 eröffnet.
An der Oper interessiert zuerst, warum Matthus, der in der DDR zum großen Tonschöpfer wurde, sie überhaupt komponiert hat. Der Stoff ist aus der Bibel bekannt: Die jüdische Stadt Bethulia wird von den Assyrern belagert; Judith, eine Belagerte, geht zum Zelt des grausamen assyrischen Feldherrn Holofernes, der, von ihrer Schönheit geblendet, von ihr enthauptet wird, woraufhin sich das Blatt wendet und die eingeschlossene Stadt sich befreien kann. Was hatte dieser Plot in der DDR vier Jahre vor 1989 zu suchen? Matthus hatte seinerzeit nur auf die Massenszenen verwiesen – der Belagerten und Belagerer –, die einer Bühne im Sozialismus immer gut zu Gesicht stehen. Heute hebt er den Konflikt hervor, an dem Judith in seiner Version zerbricht: dass sie ihr privates Empfinden mit ihrer öffentlichen Aufgabe nicht in Einklang bringen kann. Sie befreit durch die Enthauptung ihre Stadt, spürt aber, dass ihr eigentliches Motiv Rache ist, weil sie das Bett mit Holofernes geteilt hat.
Das angebliche Wunder
So hat es Matthus von Friedrich Hebbel übernommen, und das passt insofern zur DDR, als der Zwiespalt des Öffentlichen und Privaten auch sonst thematisiert wurde, etwa schon 1963 in Der geteilte Himmel von Christa Wolf. Wenn man annimmt, dass auch bei Matthus die deutsch-deutsche Teilung einbezogen ist, erscheint seine Version von 1985 als erhebliche Verdüsterung. Die Repräsentantin der Stadt hinter der Mauer geht auf den zu, von dem sie weiß, dass er sie vernichten will, und einige Bethulier, darunter sie selbst, halten sie für eine Hure – eine Verräterin. Als der Komponist das aufgriff, hätte die DDR ohne Westkredite schon nicht mehr überleben können. In diese Richtung weisen auch andere Parallelen. Matthus hatte nicht nur bei Hanns Eisler, sondern auch bei Rudolf Wagner-Régeny studiert. Auch dessen Oper Die Bürger von Calais (1939) handelt von einer eingeschlossenen Stadt. Da geht es mehr um Politik als um Privates.
Ebenso verhält es sich im Einakter Friedenstag von Richard Strauss (1938), der demselben Sujet gilt. Von dort übernimmt Matthus das Motiv des angeblichen Wunders – man darf an der Enthauptung durchaus zweifeln. Strauss ist für Matthus ein politischer Gegner, kompositorisch jedoch orientiert er sich an ihm. Seine Technik ist eine Art Kreuzung von Strauss und Schönberg. Der Erste ist das Vorbild eines hochemotionalen, wendungsreichen, dem Einzelsatz des Librettos angeschmiegten musikalischen Verlaufs, vom Zweiten wird die Reihentechnik übernommen. Matthus bildet vorwiegend tonale Reihen, doch da er verschiedene Reihen verschiedener Bühnenakteure simultan erklingen lässt, ergibt sich eine gefühlte Atonalität. Das ist ein originelles und höchst bühnenwirksames Konzept. Alte und Neue Musik sind offenbar durch viel mehr legitime Zwischenstufen verbunden, als manche Avantgardisten zugestehen wollten.
Matthus war in der DDR neben Eisler und Paul Dessau einer der drei großen Komponisten. Nach der Wende erlebte er viele Aufführungen seiner Opern in der ganzen Welt. Umgekehrt hat er mit seinem Festival in Rheinsberg junge Sängerinnen und Sänger aus aller Welt gefördert. Dafür sei ihm auch von hier aus gedankt.
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