Der chinesische Weg

Übergangsgesellschaft War die Geschichte des realen Sozialismus 1990 zu Ende - oder geht sie weiter?

Der erste Versuch marxistischer ökonomischer Planung, wie er in der Sowjetunion begann und von Maos China übernommen wurde, ist das System stofflicher Ressourcenzuteilung an Staatsbetriebe nach Plankennziffern. Diese spiegeln eine gewollte Arbeitszeitverteilung wider und haben monetären Charakter, insofern sie sich in Preise übersetzen lassen; das System kommt aber ohne wirkliches, gegen den Plan verwendbares, gar international konvertibles Geld aus. Es funktioniert einigermaßen in der ursprünglichen Industrialisierung und in der Aufbauphase nach einem Krieg. Danach zeigt sich seine Schwierigkeit. Der heutige chinesische Weg ist eine reagierende Korrektur. Ist es eine sozialistische Korrektur oder wurde der Sozialismus wegkorrigiert?

Worin bestand die Schwierigkeit? Wir fragen hier nicht, ob das System der Ressourcenzuteilung die Kaufbedürfnisse hinreichend berücksichtigt, denn der Käufer kann doch immer und muss auch kaufen, was auf den Ladentisch kommt; wenn wenig kommt, mag er ein Problem haben, die Staatsplanung hat so weit noch keines. Sie verwirrt sich aber schon vorher auf dem Weg von der Planung zur Produktion. Der Plan wird zwischen Staatsbetrieben und staatlicher Zentrale ausgehandelt. Obwohl diese das letzte Wort hat, ist sie darauf angewiesen, dass die Betriebe ihr den jeweiligen Ressourcenbedarf melden. Aber kein Betrieb möchte überfordert werden. Um sich vor Überforderung zu schützen, verlangen die Betriebe mehr Ressourcen, als sie brauchen, und bekommen sie auch, da der Staat über keine unabhängige Methode der Bedarfsüberprüfung verfügt.

Die Betriebe legen das, was sie nicht verbrauchen, als Reserve an. Teils wollen sie es so; sie sagen sich: Strafft die Zentrale im nächsten Jahr die Pläne, haben wir etwas, worauf wir zurückgreifen können. Es kann auch sein, dass sie selbst glauben, alles Verlangte zu brauchen, und es deshalb tatsächlich verbrauchen. Das wäre Ressourcenverschwendung. Auch dagegen kann der Staat nichts tun. Legen sie aber eine Reserve an, muss er geradezu dankbar sein, obwohl er sich hüten wird, es zuzugeben. Denn kein Plan ist so gut, dass es nicht zu Engpässen kommt, Vorprodukte nicht rechtzeitig, nicht in genügender Menge beim Betrieb anlangen - was würde der tun, wenn er nicht die Reserven hätte? Er tauscht sie "unbürokratisch" gegen Reserven anderer Betriebe und erlangt so die Vorprodukte, die der Dienstweg vorgesehen hatte, aber nicht bereitstellen konnte. Wenn Reserven gegen Reserven getauscht werden, sind sie Waren geworden, und zwischen Waren vermittelt Geld. Die Betriebe erlangen es durch Verkauf ihrer Reserven, können mit ihm ihrerseits Reserven kaufen oder auch es horten als Bargeld für alle Fälle. Das offizielle Staatsgeld, das eigentlich nur den Status von Arbeitszeitwertzeichen haben soll, erlangt, sofern in diesen Tausch gezogen, innerstaatlich eine ökonomische Autonomie als Zahlungsmittel. So entsteht ein inoffizieller Markt neben dem offiziellen Plan, anfangs zu seiner Unterstützung: eine "Schattenwirtschaft".

Es bleibt indes nicht dabei, dass die Schattenwirtschaft dem Plan nur nützt. Es kommt vor, dass ein Betrieb, der seine Reserven verkauft, mit dem Erlös dieselben Reserven wieder nachkauft, auch sie verkauft, wieder nachkauft und so weiter, vielleicht sogar für diesen Verkauf am Plan vorbei produziert, einfach um Geld zu akkumulieren. In der Zeit Chruschtschows werden solche Fälle, die man natürlich, wenn sie bekannt werden, nicht duldet, in der Sowjetpresse immer wieder berichtet. Hier erkennt die KPdSU, sie hat eine Erfahrung gemacht und muss den Sozialismus weiterentwickeln. Marx selber hätte so gedacht. Den Lösungsweg entwirft der Reformökonom Liberman 1962: Man gibt den Betrieben mehr Selbstständigkeit in der Plankonkretisierung, will sie durch Prämien auf Gewinne zur Rentabilität reizen, erweitert das Recht der eigenverantwortlichen Prämienverwendung und hofft dadurch, ihre Ehrlichkeit bei der Meldung des wirklichen Ressourcenbedarfs zu steigern.

"Kommandowirtschaft" in sowjetischer und chinesischer Lesart

Die KP Chinas reagiert empört: Eine "neue Bourgeoisie" habe mit ihrem "Profitprinzip" den Sowjetstaat erobert. Hat sie denn ganz unrecht? Eines kann man nicht leugnen: Der Umfang der Schattenwirtschaft nimmt noch zu. Durch Libermans Vorschläge allein ist sie nicht unnötig, geschweige denn unmöglich geworden. Mit den neuen Prämienverwendungsrechten lässt sich der inoffizielle Ressourcenhandel noch ausweiten. Am Ende der Breschnew-Ära wird weniger als ein Drittel des Nationalprodukts durch die traditionellen Planungsprozeduren verteilt, der Rest durch Tausch. Allerdings hat Mao kein besseres Konzept. Seine KP leugnet gar nicht, dass es auch in China "parasitäre Elemente" gebe; durch die Diktatur des Proletariats würden sie jedoch unterdrückt. Seine Wunderwaffe sind die "Volkskommunen", in denen es gar kein privates Eigentum mehr gibt. Da kann sich niemand parasitär bereichern, gewiss. Aber da kommt auch die Wirtschaft nicht in die Gänge. Der "Große Sprung nach vorn" muss abgebrochen werden.

Mitte der sechziger Jahre, als ähnliche Reformvorschläge laut werden wie in der Sowjetunion, sucht Mao das Rad mit der "Kulturrevolution" noch einmal zurückzudrehen. Vergeblich. Dann beginnt die Zeit Dengs.

Den Versuch, einen neuen Ansatz zu finden, machen China mit Deng (1984) und die Sowjetunion mit Gorbatschow (1987) fast gleichzeitig. Die Grundidee ist eigentlich bei beiden dieselbe: Der Weg, die Betriebe zu mehr Eigenverantwortlichkeit zu führen, muss radikalisiert werden. Aber einen Unterschied gibt es, der darüber entscheidet, dass der sowjetische sozialistische Weg bald abgebrochen werden muss, der chinesische noch nicht. Gorbatschow legt nämlich die Stärkung der Betriebe so an, dass er praktisch von einem Tag auf den andern die Planungsprozeduren marginalisiert. Obwohl diese schon gar keine große Rolle mehr spielen, verhält er sich, als müsse er die Sowjetgesellschaft von einem würgenden Plankorsett befreien. Faktisch gibt er nur die letzten Machtmittel aus der Hand, und die Schattenwirtschaft mutiert nun ganz offiziell zu einer Ökonomie freier Unternehmer, die sich am Staatseigentum bereichern. In der Folge implodiert der Sowjetstaat und fällt die KP auseinander.

Wenn man nach den Ursachen fragt, kann man die Rolle der ideologischen Infiltration nicht übersehen: Maos Polemik hatte die KPdSU nicht beirrt, aber der Vorwurf des Westens, es werde eine "Kommandowirtschaft" betrieben, zeigt Wirkung. Das dumme Wort findet sich jetzt als Begriff für angeblich Falsches in zentralen KP-Dokumenten. Es ist dumm, weil natürlich jede Wirtschaft "Kommandowirtschaft" ist, solange überhaupt noch Staaten mitreden. Denn auch zum Neoliberalismus, zum "Freihandel" muss man eine Gesellschaft erst umbauen und kann es nur mit staatlichen Vorschriften tun, seien diese nun auf Gesetze oder Maßnahmen, auf Diktatur oder freie Wahlen gegründet. Die Frage ist nicht, ob Staaten "kommandieren" oder nicht, sondern was sie "kommandieren". Gorbatschows KP baut das Kommando ab, Dengs KP, obwohl auch sie zur sozialistischen Marktwirtschaft strebt, denkt überhaupt nicht daran, das zu tun. Sie ist westlichem ideologischen Einfluss nicht so ausgesetzt gewesen, hält es in Machtfragen eher noch wie Mao.

Eine Nische in der Internationale des Kapitals?

Restauriert sie den Kapitalismus? Die Frage ist unter marxistischen Forschern umstritten. Es ist möglich, ihre Politik anders zu interpretieren, nämlich so: Da sie weiterhin von den eigenen sozialistischen Prämissen ausgeht, führt sie die Reformen nicht schlagartig aus, eben als sei alles falsch gewesen, sondern bedachtsam Schritt für Schritt. Bei aller Radikalität der Reformen scheinen zwei marxistische Überlegungen durchzuschimmern. Erstens: Mao hat recht, im Sozialismus als einer Übergangsgesellschaft gibt es Proletariat und Bourgeoisie; nur darin irrt er, dass man die Bourgeoisie fesseln und quälen müsse. Im Gegenteil, sie soll "Mäuse fangen" für den Sozialismus. Sie darf sich also kapitalistisch bewegen, man sucht sie aber zu beherrschen, zu kontrollieren, ihr Grenzen zu setzen. Zweitens: Eine kommunistische Revolution muss scheitern, wenn sie sich nicht international (in den wichtigsten kapitalistischen Zentren gleichzeitig) durchsetzt. Solange das nicht möglich ist, können sozialistische Übergangsgesellschaften nur in der Internationale des Kapitals ihre Nische finden. Das heißt vor allem, sie nehmen am Welthandel teil und brauchen dafür internationales, kapitalistisches Geld, müssen dann aber, wenn die Marxsche Geldtheorie stimmt, auch das eigene Land von ihm durchdringen lassen.

Außenpolitisch heißt es, ein Land wie China muss sich in die Weltordnung des "Empire" (Hardt/Negri) einfügen. Nur im Innern dieser Ordnung bringt es Selbstschutz und alternative Impulse zur Geltung, indem es auf dem multizentrischen Charakter des internationalen Machtgefüges besteht. Die Gefahr eines Weltkriegs ist dann kleiner, als wenn dem Westen eine sei´s auch friedliche "Koexistenz" bedeutet würde. Dem stets möglichen Versuch des Westens, chinesische Landesteile zur Sezession zu ermuntern, baut man vor, indem man sie gerade ökonomisch mit viel Selbstständigkeit ausstattet.

Die ersten Reformmaßnahmen datieren von 1978 - Auflösung der Volkskommunen, erste Schritte zur Revision der ländlichen Kollektivierung, Schaffung eines Arbeitsmarktes. 1984 erfolgt die grundsätzliche Wende zur "sozialistisch geplanten Warenwirtschaft": Man reduziert die Planziffern, lässt Privatunternehmen zu, verpflichtet die Staatsunternehmen auf gewinnorientiertes Wirtschaften. Der Mechanismus des Kredits, über den sich alle Unternehmen nun finanzieren müssen, wird auf rein ökonomische Logik umgestellt: An die Stelle der bisherigen Bank des Finanzministeriums treten eine Zentralbank und eine Geschäftsbank, weitere Banken mit privater Beteiligung werden zugelassen. Man beginnt auch mit der Marktanpassung der Preise. Mit der Verfassungsänderung von 1992, wonach China sozialistische Marktwirtschaft werden soll, wird dieser Weg nur bestärkt. Es ist die chinesische Antwort auf den Zusammenbruch der Sowjetunion. Von 1996 an ist der Yuan für Handelsgüter frei konvertibel. Seit dieser Zeit gibt es einen chinesischen Kapitalmarkt, indem auf einige Staatsbetriebe Aktien ausgegeben werden. Der Staat behält freilich die meisten Aktien selbst.

Die staatliche Planung realisiert sich durch eine Treuhandagentur, die diesen Aktienbesitz koordiniert, ferner auch durch antizyklische Ausgabenpolitik und Staatsinterventionen in Infrastrukturprojekte. Im Übrigen Betrieb für Betrieb durch den Druck der Parteigruppen. Die Freiheit des Kapitalverkehrs ist nicht nur durch interne Devisenkontrollen, sondern auch durch Bindung der Landeswährung an die Währungen der wichtigsten Handelspartner eingeschränkt. Das Land hat sich zwar dem Weltmarkt rückhaltlos geöffnet, indem es 2001 sogar der WTO beitrat. Dass es sich aber ausländischen Handelspartnern nicht ausliefert, zeigt die Praxis seit Jahrzehnten, den Handel zur Selbstindustrialisierung zu nutzen und dabei keine schlüsselfertigen Projekte zu kaufen, sondern deren Einzelteile, die man dann selbst zusammensetzt und daraus lernt. Um ein Beispiel zu nennen, kann heute eine original chinesische Magnetschwebebahn produziert werden, nachdem man zunächst die deutsche von Siemens gekauft hatte, sie aber veränderte und verbesserte.

Sozialismus der Peripherie

Die den sozialistischen Charakter des chinesischen Wegs in Abrede stellen, operieren häufig mit marxistisch zweifelhaften Prämissen. Dazu gehört auch der Hinweis, in einem sozialistischen Land müssten sich die Arbeiter das von ihnen selbst produzierte Mehrprodukt aneignen können. In China und schon in der Sowjetunion sei das nie der Fall gewesen. Aber Russland und China waren Länder der kapitalistischen Peripherie. Ihnen muss eingeräumt werden, was Marx auch Westeuropa zugestand: "Es bedarf keines besondren Scharfsinns, um zu begreifen, dass ausgehend for instance von der aus der Auflösung der Leibeigenschaft hervorgegangenen freien Arbeit, oder Lohnarbeit, die Maschinen [allein entstehn können] im Gegensatz zur lebendigen Arbeit, als ihr [gegenüber] fremdes Eigentum und feindliche Macht [...], das heißt dass sie ihr als Kapital gegenübertreten müssen. Ebenso leicht ist aber einzusehn, dass die Maschinen nicht aufhören werden, Agenten der gesellschaftlichen Produktion zu sein, sobald sie zum Beispiel Eigentum der assoziierten Arbeiter werden."

In einer rückständigen Gesellschaft, heißt das, müssen Kapitalisten her, damit sie die Produktion des Werkzeugs der kommunistischen Arbeit initiieren, eben "die Maschinen". Wenn sie derart sozusagen im Auftrag der Arbeiterklasse handeln, mag es noch besser scheinen, sie werden durch wirkliche Repräsentanten dieser Klasse ersetzt, nämlich eine kommunistische Partei. Die kann dann aber auch nichts anderes tun, als eine Erziehungsdiktatur über die Arbeiter auszuüben. Auch wer einer solchen Lehre nicht zustimmt: Wird er ihr die Plausibilität absprechen? Und wenn sich nun die hässlichen Seiten einer Industrialisierung zeigen? In China immerhin auch, dass das gewaltige Land nicht verhungert? Wir reden hier vom Staatssozialismus. Was immer man von ihm hält, aus dem Paradies möglicher Marxismen kann er kaum vertrieben werden - besonders wenn man noch die These bedenkt, ein Niedergang des Kapitals werde an seiner Peripherie beginnen, dort, wo seine politische Macht am kleinsten ist.

Literatur: Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1974 (das Zitat dort S. 717); Die Polemik über die Generallinie der internationalen kommunistischen Bewegung, Berlin 1970; Karl-Ernst Lohmann, Ökonomische Anreize im Staatssozialismus. Warteschlangen - geheime Reserven - Prämien, Berlin 1986; Joachim Bischoff, Staatssozialismus - Marktsozialismus. China als Alternative zum sowjetischen Weg?, Hamburg 1993; Thomas Kuczynski, Oktober 1917 - eine Revolution gegen das "Kapital"?, in Pankower Vorträge Heft 8, Berlin 1998; Hyekyung Cho, Chinas langer Marsch in den Kapitalismus, Münster 2005; Wolfgang Fritz Haug, Boy Lüthje, Oskar Negt u.a., Großer Widerspruch China (= Das Argument 268), Hamburg 2006.


Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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