Der Chor der Deutschen Bundesbank

MaerzMusik 2015 Daniel Kötter und Hannes Seidl zerlegen einen Film in einzelne Blicke und trennen seine Geräusche von seinen Bildern. Was will uns das über Banker sagen?

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Gestern und vorgestern Abend wurden hintereinander die „Ökonomien des Handelns 1 + 2“ von Daniel Kötter und Hannes Seidl im Berliner Theater Hebbel am Ufer aufgeführt: der erste Teil KREDIT. Von der Erwartbarkeit zukünftiger Gegenwarten (2013), der zweite RECHT (2015). Ein dritter und letzter Teil der Trilogie, LIEBE, ist für 2016 angekündigt. Ich beschränke mich auf Teil Eins, der ins Zentrum der allgemeinen Thematik des Festivals für „Zeitfragen“ führt. Wir erinnern uns: Festivalleiter Odo Polzer geht davon aus, dass in unserer Zeit die Zeit aus den Fugen ist und es Versuche gibt, darauf zu reagieren, auch musikalische; die neuen Phänomene fasst er zusammen in den Begriffen „Zeitarmut in Wohlstandsgesellschaften, soziale Beschleunigungsphänomene, die Deregulierung von Arbeitszeiten, Hochfrequenzhandel an den Finanzmärkten, globale ökologische Katastrophen, die sich in Zeitlupe vor unseren Augen entfalten, ohne dass wir in der Lage zu sein scheinen, zeitgerecht dagegen vorzugehen“. Das sind Phänomene, die in subjektiver Perspektive widersprüchlich erscheinen – der Hochfrequenzhandel geht zu schnell, die ökologische Katastrophe zu langsam für das vorhandene menschliche Reaktionsvermögen -, objektiv indessen alle auf dasselbe hinauslaufen, auf Beschleunigung. Denn auch was ökologisch mit der Erde geschieht, der Anbruch eines neuen erstmals menschengemachten Erdzeitalters, des „Anthropozän“, mit fatalen spürbaren Folgen in nur anderthalb Jahrhunderten, ist eine solche.

Da ist es interessant, dass gerade im Finanzsystem, dem Haupthebel aller Beschleunigung, die subjektive Perspektive der Beteiligten und das, was objektiv geschieht, am krassesten auseinanderdriften; eben davon handelt das Projekt des Experimentalfilmers Kötter und des Komponisten Seidl, die seit 2008 zusammenarbeiten. Sehr stark mit Joseph Vogls bekanntem Essay arbeitend (Das Gespenst des Kapitals, Zürich 2010), zeigen sie, wie die Banker sich in der Vorstellung bewegen, Gegenwart und Zukunft seien letztendlich das Gleiche - an diese Gleichung müssen sie glauben können, sonst könnten sie ihr Geschäft nicht ausüben. Tatsächlich hat sich das Kreditieren schon immer, das heißt seit Jahrtausenden, auf diese Vorstellung gestützt, die offenbar nicht gänzlich verfehlt ist: Man verleiht gegenwärtig Geld, weil man Grund hat glauben zu können, man erhalte es zukünftig in gleicher Höhe zurück. Dass man außerdem einen Preis verlangt, den Zins, ändert an diesem Grundsachverhalt nichts. Der Zins trägt im Übrigen auch zum Ausgleich von Kreditausfällen bei, geht also selbst noch in die Gleichung von Gegenwart und Zukunft mit ein. Allerdings wurde sie lange nur auf kleine Teilbereiche der Ökonomie bezogen. „Die“ Zukunft ist noch nicht von Gleichschaltung, vom Verschwinden bedroht, wenn das Kreditieren nur erst eine untergeordnete Rolle in den Gesellschaften spielt.

Seit dem Kapitalismus ist es aber grundlegend wichtig geworden. Die ökonomische Basis unserer Gesellschaften ist ohne Kreditieren undenkbar. Seit dem Neoliberalismus gar haben sich seine Instrumente so verfeinert, dass es Zukunft, die nicht errechnet werden kann, gar nicht mehr zu geben scheint. Ich komme auf diese Verfeinerung gleich zu sprechen, will aber zuerst den krassen Widerspruch festhalten: Die Banker glauben die Zukunft abgeschafft zu haben – mit mathematischen Formeln, von denen Vogl handelt, etwa der Black-Scholes-Gleichung -; obwohl das ein absurder Glaube ist, hat er die praktische Folge, Zukunft so gigantisch zu entfesseln, dass sich niemand mehr in ihr zurechtfindet; das heißt, was die Banker eigentlich abgeschafft haben, ist vielmehr die Gegenwart, wir leben nicht mehr in einer solchen und sind eben deshalb so hilflos; sie selbst aber machen so weiter, denn in ihrer eigenen Welt werden sie auf den Irrtum nicht aufmerksam, der uns in immer wildere Zukünfte wirft.

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Jetzt sehen wir uns an, wie Kötter und Seidl ihr Projekt gestalten. Es wird im Programmheft als „Musiktheater / Film“ bezeichnet, sie selbst sprechen von einem „Stummfilm-Oratorium“. Der Film begleitet „Banker in Frankfurt bei der Arbeit, aber auch in der Freizeit und im Kreis ihrer Freunde“, was keine sehr präzise Beschreibung ist. Man sieht Banker die Flure des Bankhauses entlanglaufen, sieht auch einmal eine Sekretärin, die den Schreibtisch ordnet, bevor sie ihre Sachen packt und nach Hause geht - das ist mit starkem Teleobjektiv durchs Glas hindurch aufgenommen. Wenn ein Banker sein Auto aus der Garage holt, kommt die Kamera näher ran. Ansonsten wird ein Empfang gezeigt, einer, der vielleicht wirklich ein Banker ist, spricht vor der Tür des Hauses mit Kötter oder Seidl, einer lässt sich im Studio einer Börsensendung interviewen. Darüber, wie Banker arbeiten, erfährt man gar nichts, und es wird auch nicht immer klar, ob der gesprochene Text – dazu gleich mehr - aus einem der Interviews stammt oder ein Zitat von Joseph Vogl, Benjamin Franklin und wohl noch anderen ist. Überdies sind die Filmmacher nicht sachkundig, sie sagen es selbst in der Festivalzeitung: „Unsere Ausgangsidee für das Stück war, Banker zu treffen, die in Bereichen arbeiten, in denen wir uns überhaupt nicht auskennen, zum Beispiel im Investmentbanking oder in der Vermögensberatung oder im Bereich der Aktienanlage.“ Darüber sprechen sie aber auch gar nicht mit den Bankern, vielmehr über die Weltfinanzkrise seit 2008.

Die Banker werden gedacht haben, da kämen sie ja leicht davon, aber dem ist nicht so, vielmehr sind gerade die allgemeinen Statements, die sie sich entlocken lassen, ziemlich erschreckend, wenn auch nicht überraschend für Vogl-Leser. Das Problem, vor dem sie stehen, ist klar: Die Vorstellung, man bekomme das Kreditierte zukünftig zurück, wird gerade dann widerlegt, nicht ständig zwar, doch in periodischen Abständen, wenn sie wie im Kapitalismus zu einer Grundstruktur der gesellschaftlichen ökonomischen Basis geworden ist. Und die „verfeinerten Instrumente“, die in den letzten Jahrzehnten erfunden wurden, haben daran nichts geändert. Sie haben allerdings die Blindheit der Beteiligten gesteigert, die nicht etwa aufhören, an sie zu glauben. Was hört man sie sagen? Etwa dass ein guter Gleichungs-Ansatz die mehrfachen Möglichkeiten erfassen muss, in die sich Zukunft ausdifferenziert, zugleich aber auch, dass er schwierig wird, wenn immer mehr Möglichkeiten zu berücksichtigen sind. Auffällig ist ihr Versuch zu behaupten, dass die Finanzkrise „von außen“ ins ökonomische System eingebrochen sei, das also als solches nach wie vor völlig in Ordnung wäre. Einmal trägt einer auf einer Feier vor, dass musikalische Logik eigentlich wie Geldlogik funktioniere; leider ging es zu schnell, als dass ich ihm hätte folgen können.

Da singt ein Chor. Ja, es gibt den „Chor der Deutschen Bundesbank“. Seine Mitwirkung am „Stummfilm-Oratorium“ steht im Programmheft, ich hab’s aber lange für einen Witz gehalten. Es ist keiner. Während der Film läuft, erhebt er sich ab und an, um etwa aus einer Messe von Franz Schubert vorzutragen.

Ich versuche zu beschreiben, wie der Film gemacht ist. Es ist tatsächlich ein Stummfilm, denn die Tonspur ist nicht zu hören, stattdessen sitzen Darsteller vor der Leinwand auf der Bühne, von denen sie, die Tonspur nämlich, nachverlautet wird. (Ich bilde „Nachverlautung“ analog zur „Nachstellung“ der Film-Bilder, zu denen es kommen könnte, wenn umgekehrt nur der Ton zu hören wäre, der Streifen aber nicht gezeigt würde.) Die Nachverlautung umfasst nicht nur die Wiedergabe der Gespräche, wobei im Film nur Männer miteinander sprechen, auf der Bühne aber ein Mann und eine Frau sich unterhalten, sondern auch alle Geräusche. Das Letztere ist faszinierend: Man sieht einen Mann, der zwischen allerlei Geräten und auch einem Tisch sitzt - wie sonst jemand zwischen Schlagzeugen sitzen könnte -, die Geräusche, wie sie Szene für Szene anfallen, vom stummen PC-Bildschirm vor sich abliest und sie mit Händen und Füßen reproduziert. Auf dem Tisch stehen zum Beispiel Sektgläser, die er gegeneinander stößt, wenn das in der Szene geschieht, aber mehr noch, er kann Geräusche wiedergeben, die auf der Tonspur nicht enthalten sein können, wie das der Sekretärin, die hinter ihrem Fenster Papierstapel ordnend zusammenlegt, oder das Staccato der Schuhe, wenn ein Banker, ebenfalls hinter Glas, einen Korridor des Bankhauses durchquert. Ein so in Bild und Ton zertrennter Film ist auch deshalb bemerkenswert, weil zwar seine Geräusche auf der Bühne, nicht aber er selbst im Ganzen reproduziert werden kann: Eine DVD von ihm bliebe entweder stumm oder wäre ein gewöhnlicher Tonfilm.

Wie und warum sind Kötter / Seidl auf diese Idee gekommen? Bevor wir uns das fragen, ein Wort zu den Bildern des Films. Von ihnen war ich begeistert und bedaure es sehr, kein Filmkenner zu sein, der über die Aufnahmetechnik besser Auskunft geben könnte. Sie sind völlig verwirrend, die Kamera hüpft ständig auf und ab, so dass selbst ein ruhig stehender Mann von unten nach oben oder seitwärts durchs Bild zittert. Zudem werden meistens extreme Nahaufnahmen geboten, was dazu führt, dass man Details sieht und diese sich zu Strukturen zusammenfügen, die keiner sachlichen Logik folgen, sondern nur dem zitternden Bildausschnitt. Wobei der Filmer aber natürlich darauf achtet und es ihm hervorragend gelingt, dass sie einer ästhetischen Logik folgen, und zwar der modernsten - moderner ungegenständlicher Kunst. Würde mit dieser Technik eine „Handlung“ aufgenommen, etwa eine Familienseifenoper, der Zuschauer hätte überhaupt keine Chance, sie zu verfolgen. Hier aber wird ja etwas ganz Starres, Gleichbleibendes und extrem Informationsarmes gezeigt, Gänge und Sekretärinnenzimmer im Glashaus der Bank, Anzüge und Schuhe von Bankern und dergleichen, so dass man trotz allem gut folgen kann. Das Glas trägt übrigens zur berauschenden Ästhetik sein Teil bei, weil auch Spiegelungen in die Strukturen eingehen, wenn etwa die Sekretärin durchs Fenster hindurch gefilmt wird. Berauschend sind auch die Farben, zitternde Kombinationen von Farbflächen oder -fetzen; wahrscheinlich ist Blue ray im Spiel, doch verstehe ich von solchen Dingen nichts.

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Man könnte meinen, das sei l’art pour l’art, dem ist aber nicht so, vielmehr dürfte in der Aufnahmetechnik die Haupt“aussage“ des Events liegen. Man überzeugt sich schnell davon, wenn man nur den Filmsaal verlässt und wieder auf die Straße tritt. Dann bemerke ich nämlich, dass es mein eigener ganz gewöhnlicher Blick ist, der so zittert und hüpft, auch dass der Blick vom einen zum andern springt und sehr oft vom Nahen zum nächsten Nahen. Der Film hat nur das gewöhnliche Blicken nachgebildet. Eins aber konnte er natürlich nicht nachbilden, nämlich die Verrechnung der kumulativen Blicke im Gehirn, die dazu führt, dass sie mir gar nicht bewusst werden, wenn ich es mir nicht vornehme. Ich glaube ruhige Großbilder zu sehen, die ineinander gleiten, sehe sie aber nicht wirklich, sondern denke mir, dass es sich mit dem Gegenstand der Blicke so verhält. Das aber setzt voraus, dass der Gegenstand mir so vertraut ist wie die Straße vor dem Filmsaal. Ich weiß, was Ampeln von mir wollen. Aber was weiß ich von Banken? Und die Banker, wissen sie, was sie tun? Da wird die Blicktechnik des Films zur Metapher: Das Gehirn, in dem sich die Momente der ökonomischen Wirklichkeit sinnvoll zusammenfügen, existiert gar nicht. Wohl wird es unterstellt, doch zu Unrecht. Die Errechnung der Zukunft ist illusionär; läßt man die Illusion beiseite, bleibt das Chaos.

Man glaubt ans Gehirn des Ganzen wie an Gott. Wie passend, dass der Chor der Deutschen Bundesbank mitwirkt, Choräle singt, aus einer Messe vorträgt.

Die „Nachverlautung“ der Geräusche des Films ist dieselbe Metapher auf anderer Ebene: Der Zuschauer sieht und hört, dass die reproduzierten Geräusche mit dem zusammenstimmen, was auf der Leinwand erscheint - aber würde ich nur die Geräusche hören, oder würde sie hören und dabei nur die Verrenkungen des Reproduzenten beobachten, könnte ich daraus keine sinnvolle Szenen-Folge erraten. Wie Blicke des Denkens bedürfen, so bedarf das Geräuschhören der Blicke und letztendlich wiederum des Denkens, denn ich kann nicht vom Geräusch auf seine Quelle schließen, wenn ich nicht schon weiß, wie die Quelle zum Geräusch wird. Oder wenn ich es nicht wissen will. So kommt es gleichsam zu Missklängen, wenn das ökologische System überlastet wird, wir sind aber häufig nicht bereit, sie auf ihre Quellen zurückzuführen.

Das sind übrigens keine neuen Erkenntnisse, und mit Musik hat es gar nichts zu tun, auch wenn der Chor welche zitiert. Nicht mit „MaerzMusik“ jedenfalls. Dennoch war der Abend für mich eine Offenbarung, weil er mir gezeigt hat, wie sehr mich gewöhnliche (Fernseh-) Filme mit ihrer wissend-ruhigen Drehtechnik in Illusionen, man kann schon sagen in Ideologie verstricken, und zwar durch ihre bloße Form. Es folgt noch ein letzter Bericht vom Festival, wahrscheinlich am Montag.

Berichte über die Berliner Festivals "MaerzMusik" und "Musikfest" ab 2010 finden Sie hier.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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