Man erlebt in diesen Wochen zwei Höhepunkte Schröderscher Konsenspolitik, den Energiekonsens mit 32 Jahren Laufzeit für Atomkraftwerke und den sich anbahnenden Rentenkonsens, in dem das Prinzip der paritätischen Beitragszahlung aufgegeben wird. Arbeitnehmer sollen künftig 15 Prozent, Arbeitgeber elf Prozent vom Bruttoeinkommen für die Alterssicherung aufwenden. Die Differenz von vier Prozent wird als "private Vorsorge" bezeichnet und mit einer Aura umgeben, als finde ein weiterer gesellschaftlicher Individualisierungs-Fortschritt statt. War das vor der Bundestagswahl absehbar, hätte man da schon "Konsens ist Nonsens" rufen sollen? Aber ist das, was der neue Kanzler so brillant in Szene setzt, mit dem Ausdruck "Konsenspolitik" wirklich gut begriffen?
Konsens ist mit Sicherheit nicht Nonsens. Vielmehr ist es ein Wesensmerkmal jeder demokratischen Gesellschaft, dass sie nicht nur durch Zwang zusammengehalten wird, sondern sich eben auch durch Konsens zusammenhält. Dabei kann durch einen Konsens Demokratie geradezu definiert werden, nämlich den, dass in Entscheidungsprozessen die Minderheit freiwillig einverstanden ist mit der Realisierung des Willens der Mehrheit. Dieser zentrale Konsens ist an gewisse Bedingungen gebunden. So muss überhaupt einmal ermittelt worden sein, was Minderheit und was Mehrheit ist. Und dann darf die Minderheit nicht ausgegrenzt, sondern muss an der Entscheidungsfindung beteiligt werden. Vor dem Hintergrund solcher Selbstverständlichkeiten traf die Konsensparole im Wahlkampf 1998 den Nagel auf den Kopf. Denn die damalige Regierung hatte sich gegen das Selbstverständliche vergangen. Sie regierte gegen die Mehrheit, die eine von oben eingeleitete neoliberale Wende nicht wollte.
Schröder, nach seinem Rentenkonzept befragt, hat damals erwidert, er könne nicht antworten, weil er den Verhandlungen im Bündnis für Arbeit nicht vorgreifen wolle. Dagegen war nichts zu sagen. Misstrauen gegen derlei "korporatistische Arrangements" ist prinzipiell berechtigt, aber hier suggerierte ein Wahlkampfszenario, es ginge konkret darum, die Gewerkschaft über das von ihr selbst vorgeschlagene Bündnis wieder ins Machtspiel zu bringen. Was wirft man dem Korporatismus vor? Dass von nicht legitimierten Gremien Beschlüsse vorgebildet werden, die das gewählte Parlament dann nur noch abnickt. Das stimmt, aber in diesem Fall konnte es umgekehrt laufen. Die neue Parlamentsmehrheit, gewählt gegen den Neoliberalismus, hätte sich auf das Bündnis stützen können, um für den ermittelten Wählerwillen nun auch wirklich die gesellschaftlichen Kräfte einzuspannen. Aus Italien war das Beispiel bekannt: Gewerkschaften und Unternehmerverbände hatten sich nicht über die Rentenzukunft geeinigt, eine Wahl in dieser Situation brachte Berlusconi um die Macht; die neue Regierung Prodi schloss auf der Linie des Wählermandats einen Rentenvertrag allein mit den Gewerkschaften ab.
Aber was stellt die neue Regierung Schröder mit dem Wählermandat an? Entgegen der Wahlkampf-Behauptung wurden die Renten nicht im Bündnis für Arbeit, also nicht mit den Unternehmerverbänden, aber auch nicht mit den Gewerkschaften, sondern mit der CDU verhandelt. Der CDU wurde kein Rentenmodell auf der Linie des Wählermandats angeboten, sondern die neue Regierung schaffte es, die alte rechts zu überholen. Das Rentenniveau soll bis 2050 von jetzt 70 auf 54 Prozent des durchschnittlichen Nettoverdienstes sinken, schlug sie letzte Woche vor, unterbot die Pläne der Kohl-Regierung damit um zehn Prozent. Jetzt in der Verhandlung "prüft" sie, ob auch 64 Prozent "finanzierbar wären". Es ist kein Wunder, dass die Gewerkschaften Sturm laufen und für den Herbst Massenproteste ankündigen, während die CDU nicht mehr weiß, wie sie sich Schröders Umarmung entwinden soll.
Man mag seine Politik Nonsens nennen, Konsens ist sie auf keinen Fall. Die Kontur dieser Politik allererst zu entdecken, damit man sich wehren kann, ist eine ernste Aufgabe. Der andere "Konsens"-Fall, Schröders Einigung mit der Atomindustrie, hilft weiter, weil im Vergleich das Gemeinsame hervortritt. Von diesem "Energiekonsens" kann man nicht sagen, dass Schröder sein Ergebnis nicht schon vor der Bundestagswahl angekündigt hätte. Aber das heißt nur, man konnte vor wie nach der Wahl wissen, dass Schröder nicht auf Herstellung, sondern auf Zerstörung des demokratischen Konsenses hinarbeitete. Die Bestandsgarantie für die volle Auslaufzeit aller vorhandenen Meiler ohne unumkehrbaren Ausstieg, ausgehandelt von einem Wirtschaftsminister, der ganz offen sagt, nach einem Ausstieg könne auch wieder ein Einstieg erfolgen, schlägt dem bekannten Mehrheitswillen der Bevölkerung ins Gesicht.
Also kein Konsens. Was hier vorgeht, hat Schröder vor einem Jahr klar genug gesagt: dass er "nicht gegen die Industrie regiert". Was versteht man unter Konsensgesprächen, wenn nicht, dass Akteure verhandeln, die Unterschiedliches wollen? Schröder hat aber mit denen verhandelt, die derselben Meinung sind wie er. So strebt er eine Rentenvereinbarung mit der CDU an, die wie er aus der paritätischen Beitragszahlung aussteigen, sprich die immer reicher werdende Industrie "entlasten" will, und hat einen Energiekonsens herbeigeführt, über den er sich mit den Atombossen schon vor zwei Legislaturperioden einig war. Er hat dafür gesorgt, dass weder die Atomindustrie noch die CDU mit Vertretern der kontroversen Mehrheit verhandeln mussten. Das waren keine Konsensverhandlungen, sondern Scheinverhandlungen.
Der politische Kampf hat eine Logik, die man nicht straflos missachtet. So ist es geboten, einer Taktik wie der Schröderschen die Lügensemantik aus der Hand zu schlagen. Auch dafür sind Beispiele bekannt: dass die Kohl-Regierung ihren restaurativen "Neo"-Liberalismus als "Reform"-Politik verkaufte, wurde nicht hingenommen. Heute wäre es tödlich, die Zerstörung des gesellschaftlichen Konsenses als "Konsens"-Politik durchgehen zu lassen. Wenn die Gewerkschaften im Herbst protestieren, sollten sie nicht gegen Konsens und für Konfrontation, sondern für Konsens und gegen Scheinverhandlungen auftreten. Sie haben die Chance, den demokratischen Konsens schon im Vorfeld selbst zu organisieren und klärende Konsens-Symbole hervorzubringen. Sie können es in der ruhigen Gewissheit tun, dass Deutschland wirklich, wie Historiker gezeigt haben, seit vielen Jahrhunderten eine "Konsensgesellschaft" ist. Wer sich an ihr vergeht wie der alte und jetzt der neue Kanzler im Verein mit egoistischen Unternehmern, müsste doch auf den Teppich zurückgeholt werden können.
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