Henryk Górecki (1933–2010), von dem jetzt eine Retrospektive in sieben CDs erschienen ist, hat gewollt und ungewollt erstaunliche Kontexte geschaffen. Dass der polnische Komponist zunächst serielle Stücke schrieb, 1977 jedoch mit seiner dritten Sinfonie zu völlig tonaler, aus simplen Gesten zusammengesetzter Musik überging, war seine eigene Entscheidung. Niemand konnte aber erwarten, dass dieses Werk in Filmen und Fernsehspielen immer wieder zitiert werden würde, zuletzt 2013 in La Grande Bellezza von Paolo Sorrentino, und dass sich eine Trip-Hop-Band (Lamb) von ihm zu dem Lied Górecki inspirieren lassen würde. Es kam 1997 auf den 30. Platz der UK Pop 40.
Der Weg der Dritten war von Anfang an ungewöhnlich. Uraufgeführt wurde sie auf dem Neue-Musik-Festival im französischen Royan, wo sie das Avantgardepublikum mit ihren Dreiklängen konsternierte. Welches neue Zeitalter wurde da eingeläutet? Dann machte sie 1992 noch einmal Furore als eine der bestverkauften Klassik-CDs.
Die damals eingespielte Interpretation mit dem Dirigenten David Zinman und der Sopranistin Dawn Upshaw liegt auch unserer Retrospektive bei. Schon der Titel Sinfonie der Klagelieder verrät, dass es sich um äußerst schwermütige Musik handelt. Im ersten Satz ist ein Klagelied aus dem 15. Jahrhundert zu hören, im zweiten das Gebet einer Gefangenen der Gestapo und im dritten ein geistliches Volkslied. So einfach die musikalischen Mittel sind, gelingt es Górecki, Erschütterung zu wecken – der ganze Katastrophenhorizont des 20. Jahrhunderts ist präsent. Am Anfang meint man, einer Umwandlung der Rheinmusik, mit der Richard Wagners Ring des Nibelungen beginnt, ins Depressive beizuwohnen: Hier wie da ein Vorspiel der Streicher, das sich zum Crescendo steigert, nur dass Górecki in e-Moll komponiert und seinen traurigen Gipfel aus diatonischen Schritten statt aus Akkordzerlegungen erbaut. Die Dritte trauert aber nicht nur, sondern tröstet auch, das Orchester stützt den Gesang der Gestapo-Gefangenen mit Oktaven. Vielleicht wurde sie auch deshalb so populär.
Tragischer Minimalismus
Góreckis Kompositionen der 90er Jahre, so die drei Streichquartette, geben den tragischen Ton nicht auf, lassen aber auch Hoffnungsschimmer und Ausbrüche energischen Willens durch. An seinem letzten Werk, der vom ebenfalls komponierenden Sohn Mikolaj Górecki vervollständigten vierten Sinfonie (2014 uraufgeführt), sind die musikalischen Querverbindungen interessant, die der Komponist mit seinen einfachsten Gesten herstellen kann. Das wiederum tragische Grundmotiv verwandelt sich mal in eine Zirkusmusik wie aus Igor Strawinskis Pulcinella (1920) – um gleich danach in Klänge aus dessen Le Sacre du Printemps (1913) überzugehen –, mal klingt ein Klaviersolo wie Modest Mussorgskis Rundgang durch die Bilder einer Ausstellung (1874); und als würde ein Vorhang aufgezogen, verwandelt es sich am Ende in den ersten Teil des Siegfried-Motivs aus Wagners Ring (ebenfalls 1874).
Eine Passage erinnert an die Militärmusik, die in der achten Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch (1943) entsetzt zitiert wird. Dass gerade hier ein paar Takte folgen, die auch in der minimalistischen Oper Nixon in China von John Adams (1987) stehen könnten, ist vielleicht kein Zufall. Góreckis ganzes Werk erscheint als ins Tragische gewendeter Minimalismus.
Info
Henryk Górecki: A Nonesuch Restrospective 7 CDs, Nonesuch/Warner 2016
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