Der Gipfel des Erfolgs

Tschernobyl und das bundesdeutsche Parteiensystem Kraftwerke dürfen brechen, nicht aber Koalitionen

Obwohl seit Tschernobyl eine große Mehrheit der Bundesdeutschen den Atomausstieg wünscht, ist die Frage bis heute nicht entschieden; 20 Jahre nach Tschernobyl scheint sich sogar eine Renaissance der Atomkraft anzubahnen. Woran liegt das? Die Neigung oder der Zwang, sich in vorgegebene politische Strukturen einzupassen, spielt eine große Rolle. Das war schon im Jahr des GAU zu bemerken. Politisch handeln hieß wählen - aber konnten die Bürger, um ihren Mehrheitswillen durchzusetzen, die Grünen wählen? Diesen jungen Leuten fehlte jede Regierungserfahrung, sie waren ein wilder Haufen, mit dem Studium der meisten Politikfelder hatten sie damals nicht einmal begonnen. Man konnte sie als Protestpartei stärken, das geschah auch in Maßen. Aber was dann? Sollten sie anschließend mit einer der "Volks-", sprich Atomparteien koalieren und ihr Programm Lügen strafen?

Die Reaktion des CDU-Kanzlers Kohl auf Tschernobyl bestand in der Errichtung eines neuen Ministeriums mit Zuständigkeit für atomare Sicherheit und Umweltfragen. Dieses Ministerium gibt es noch heute. Es hat nie aufgehört, nach den Kohlschen Vorgaben zu arbeiten: möglichst viel Atomsicherheit und Umweltschutz unter der Vorgabe der Marktlogik und Kapitalmacht durchzusetzen. In der SPD begann sich immerhin ein ökologischer Flügel zu formieren. An dessen Spitze setzte sich Oskar Lafontaine. Er, der den Grünen Ende 1984 im saarländischen Wahlkampf ein Koalitionsangebot gemacht hatte, forderte nach der Niederlage des SPD-Kanzlerkandidaten Johannes Rau im Bundestagswahlkampf 1987 die Gesamtpartei auf, ein Gleiches zu tun. Damit konnte er sich ebenso durchsetzen wie Kohl mit dem Umweltministerium. Aber was waren die Folgen? Bis 1990 mochte es scheinen, als wandle sich die SPD insgesamt zu einer ökologischen Partei. Dann begann Gerhard Schröders Weg zur Macht.

Schon Anfang der neunziger Jahre erarbeitete Schröder sein Konzept eines Atomausstiegs, der keiner war. Als es bekannt wurde, reagierten die Grünen empört. Später setzten sie das Konzept selber um. Denn nicht Lafontaine wurde Kanzler, sondern Schröder. Lafontaine und die Grünen machten ihn dazu. Da glaubten sie längst, etwas anderes bliebe ihnen nicht übrig. Dass einer der ihren Kohls Umweltministerium bekam, war der Gipfel des Erfolgs.


Im Rückblick sieht man: Auch Tschernobyl war nur eine Marke des Wegs, der zu Schröder führte. Aber die Anfänge der Grünen waren ganz anders gewesen. Union und SPD galten ihnen als kapitalistische "Wachstumsparteien". Dass sie überhaupt in den Bundestag kamen, setzte ja ihre Bereitschaft voraus, den SPD-Kanzler Helmut Schmidt zu stürzen, also die Union an die Macht zu bringen. Denn die meisten Stimmen der Grünen kamen von frustrierten SPD-Wählern. Die Grünen waren überzeugt, dass der Kampf gegen AKWs - und auch gegen die Aufrüstung der NATO, ihr zweites Hauptthema - wichtiger sei als der Unterschied zwischen Schmidt und Kohl.

Rudolf Bahro, einer ihrer frühen Anführer, sah sich als Eurokommunist. Der Eurokommunismus, der nicht zuletzt auf Antonio Gramsci zurückgeht, kannte die Probleme des Systems zweier Parteilager: Das Großkapital, konnte man bei Gramsci lesen, sorgt für die Spaltung der Wahlbevölkerung in zwei Hälften und spielt die beiden Lager gegeneinander aus. Das eine wird eher von Arbeitern, das andere mehr von Kleinbürgern gewählt; beide sind jedoch vom Großkapital abhängig. Indem dieses sich mal auf das eine, mal auf das andere Lager stützt, hält es einen "Wahlkampf" aufrecht, der auf die eigentliche Wahl - Kapitalmacht ja oder nein - niemals hinausläuft. Gegen ein solches System kann allenfalls eine Partei bestehen, die sich entschieden als dritte Kraft verhält.

Die Grünen saßen erst ein Jahr im Bundestag, als es ihnen schon gelang, das Zwei-Lager-System durcheinander zu wirbeln. Buschhaus, das niedersächsische Kohlekraftwerk, war wie die Atomkraftwerke im Zuge der Ölkrise der siebziger Jahre geplant worden. Kurz vor dem Netzanschluss kam es ins Gerede. Ein wissenschaftliches Gutachten warnte vor dem extrem hohen Schwefeldioxidausstoß. Die niedersächsischen Grünen hatten es in Auftrag gegeben. Die Öffentlichkeit erregte sich. Kanzler Kohl erwog einen Aufschub der Inbetriebnahme. Die FDP forderte, vor dem Netzanschluss müsse eine Rauchgas-Entschwefelungsanlage eingebaut werden. Die SPD allerdings sorgte sich mehr um die Arbeitsplätze der Buschhaus-Belegschaft. In dieser Situation, man schrieb den 28. Juni 1984, stellten die Grünen im Bundestag eine Resolution zur Abstimmung: Erstens, Buschhaus soll erst nach dem Einbau der Entschwefelungsanlage ans Netz; zweitens, die Beschäftigung der Arbeitnehmer ist sicherzustellen.

Wer sollte da widersprechen? Die Grünen zwangen SPD und FDP ins selbe Boot, und auch der Kanzler musste für den Moment seinem Koalitionspartner folgen. Wenig später freilich verabschiedete er sich von dem Beschluss und zwang seinerseits die FDP, sich zu entscheiden. Damals konnte die Öffentlichkeit etwas lernen: "Die Koalition ist zu wichtig, als dass sie am Streit um ein Kohlekraftwerk zerbrechen darf", sagte Bundeswirtschaftsminister Bangemann (FDP) am 30. Juli 1984. Die Enthüllung, dass Problemlösung nicht zählt, war der erste parlamentarische Erfolg der Grünen. Joschka Fischer führte ihn später darauf zurück, dass Buschhaus eine "so große Dreckschleuder" gewesen sei. Aber war nicht Tschernobyl eine viel größere Dreckschleuder?


Nach Tschernobyl lief alles ganz anders. Anfang 1985 hatten die Grünen ihre Bundestagsfraktion nach dem Rotationsverfahren ausgetauscht. Wenig später misslang der Versuch, in den Landtag von NRW einzuziehen. Die "Realos" der Partei meinten, das sei Folge der Perspektivlosigkeit einer Partei, die nicht mit der SPD koalieren wolle. Als ob man nicht gerade erst gelernt hätte, was Koalitionen sind. Ende 1985 wurde Joschka Fischer als hessischer Umweltminister unter Regierungschef Holger Börner (SPD) vereidigt. Als der GAU von Tschernobyl bekannt wurde, wiesen Umfragen auf eine Verdoppelung der grünen Wählerstimmen. Doch bei den niedersächsischen Landtagswahlen im Juni 1986 blieben die Grünen hinter den Erwartungen zurück. Ministerpräsident Albrecht (CDU), der über Buschhaus sagte, das sei "ein Popanz, an den sich menschliche Gefühle heften", konnte weiterregieren. Wieder einen Monat später waren die Grünen in bundesweiten Umfragen auf unsichere fünf Prozent Zustimmung gefallen. Da war seit dem GAU von Tschernobyl gerade einmal ein Vierteljahr vergangen.

Aufgrund dieser Prozesse wuchsen die Spannungen zwischen "Realos" und grünen Koalitionsgegnern so stark, dass man zeitweise die Spaltung der Partei befürchten musste. Bis 1990 blieben die Koalitionsgegner mächtiger; doch als den Grünen der Wiedereinzug in den Bundestag verwehrt blieb, konnte dem langen Marsch der Fischer-Freunde nichts mehr entgegengesetzt werden. Man versteht diese Entwicklung. Zwangsläufig war sie nicht.

Dass eine Strömung entstanden war, die sich ins System der zwei Lager einfügen wollte, war doch nicht so erstaunlich. Es wäre darauf angekommen, ihr ein konstruktives Konzept entgegenzustellen - das Konzept einer dritten Kraft, vielleicht gar eines dritten Parteilagers -, statt den "Realismus" der späteren Schröder-Claqueure nur einfach abstrakt zu negieren. Übrigens ist das nicht nur von historischem Interesse. Denn dass neue Parteien entstehen und nach ihrem originären Weg suchen, kommt immer noch vor. Im Streit um Buschhaus waren Ansätze eines dritten Wegs erkennbar geworden. Man hätte sie nur fortzuentwickeln brauchen.


Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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