Der Krieg rückt näher

MaerzMusik 2018 Auch ältere Kompositionen sind aktuell: Brian Ferneyhough und Yannis Xenakis neben Ashley Fure

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In den folgenden Tagen will ich, wie jedes Jahr zu dieser Zeit, über einige Konzerte des Festivals MaerzMusik berichten, das sich, seit Berno Odo Polzer die Leitung übernommen hat, als „Festival für Zeitfragen“ versteht. Das zugrundeliegende Konzept hat er im Vorwort des Programmhefts noch einmal verdeutlicht: „Ziel dieser zehn Tage“ vom 16. bis 25. 3. „ist es, die zeitbezogenen Kräfte, die auf uns einwirken, ausfindig zu machen, zu durchleben, zu bedenken – und ihnen gelegentlich zu entkommen: Der systematische Zeit-Krieg des Turbo-Kapitalismus; die Ausbreitung nicht-menschlicher, digitaler Zeitregime; die langsame Gewalt der Umweltzerstörung; die Tempi und Zeitspannen der Medienpräsenz; der permanente Ausnahmezustand; die enteigneten Zeitlichkeiten der freiwilligen und erzwungenen Migration.“

Schon mehrmals habe ich hier angemerkt, dass dies Konzept in zwei Richtungen, die entgegengesetzt sind, realisiert werden kann. Man kann Polzers Ziel einerseits als eine Gruppe außermusikalischer Fragen auffassen, die sich gar nicht auf musikalische Werke beziehen müssten, es hier aber tun. Dabei sind die Vorannahmen, die in den Fragen liegen, schon so bestimmt, dass man fürchtet, das Festival ziehe womöglich nur Kompositionen heran, die das vorab Gewusste – etwa dass die Umwelt zerstört wird – nur illustrieren und bestätigen. Wenn es so wäre, bestünde die Gefahr, dass Werke, die künstlerisch weniger gelungen sind, mehr zu den Vorannahmen passen als besser gelungene. Der umgekehrte Blick geht deshalb von Kompositionen aus, deren künstlerische Qualität gegeben zu sein scheint, enthält sich, soweit das möglich ist, irgendwelcher Vorannahmen und liest die „auf uns einwirkenden zeitbezogenen Kräfte“ nur dem Werk selber ab; eine solche Lektüre kann aus dem schlichten Grund erfolgversprechend sein, dass das Werk zu den aktuell komponierten gehört. Bei diesem Herangehen mag man in einer Musik Zeitbezogenes hören, auf das man noch gar nicht aufmerksam geworden war.

Polzer beruft sich auf beide Herangehensweisen. „Alle Projekte und Künstler*innen“, fährt er nämlich fort, „die diese vierte Ausgabe von MaerzMusik [als] Festival für Zeitfragen ausmachen, beziehen sich auf die genannten Fragen und Anliegen – jeweils auf ihre eigene Art, nicht immer in offensichtlicher oder direkter Weise.“ Das ist die erste Herangehensweise, es folgt die zweite: „Gleichzeitig bilden die im Festival präsentierten musikalischen Arbeiten jedoch ihre jeweils eigene Welt. Unabhängig von ihrer kuratorischen Kontextualisierung stehen und sprechen sie für sich selbst, offen für alle möglichen Wahrnehmungsweisen und Lesarten.“

Bereits das erste von mir besuchte Konzert verband die entgegengesetzten Richtungen. Unter dem Titel „Zeitgeist“ wurden am Samstag ältere Werke von Brian Ferneyhough und Yannis Xenakis, deren Bedeutung in der Musikgeschichte längst außer Zweifel steht, mit Werken der 1982 geborenen Komponistin Ashley Fure zusammengestellt, die schon mit etlichen Preisen aufwarten kann. Das Programmheft stellt fest, dass auch die älteren Werke – von Ferneyhough zwischen 1971 und 1977, von Xenakis zwischen 1957 und 1981 komponiert – immer noch aktuell sind oder jedenfalls „aktualisiert“ werden können, da sie „mit der Gegenwart korrespondier[en]“. In einem weiten, nicht leeren Sinn dürfte das ja für jede gute Musik gelten, die wann immer geschrieben wurde; es ist aber wahr, dass uns etwa Xenakis besonders nahe ist oder sein könnte, weil er den modernen Krieg thematisiert, so in Diamorphoses für Tonband (1957), einem Werk, das Bomben- oder Granatenexplosionen nacherleben lässt, oder in Pour la Paix, einer Art Oratorium über moderne Kriegsgräuel nach einem Text von Françoise Xenakis (1981).

Das letztere Werk wurde dadurch aktualisiert, dass ein immer wieder eingeblendetes Video Flüchtlinge zeigte, die an einem Tag des Jahres 2016 das Niemandsland zwischen Griechenland und Mazedonien durchquerten. Wo es Kriege gibt, gibt es Flüchtlinge, und sie gehen uns etwas an, auch wenn manche das nicht wahrhaben wollen. Dieses Video, für sich genommen außermusikalisch, und der Musik wegen war ich gekommen, hat mich trotzdem besonders bewegt. Die Kamera stand still und zeigte einen einzigen Ausschnitt. Man sah weit hinein in eine triste flächige Landschaft, in der Nähe eine vielleicht von Bulldozern geschaffene Sandstraße, davor noch Unkraut und kleine Grasbüschel als das Einzige, was sich im Wind bewegte. Dieser Ausschnitt wurde immer wieder von Einzelnen, Paaren oder ganzen Familien von rechts nach links durchquert. An ihrer Kleidung sah man, dass es kalt war. Sie trugen Rucksäcke, viele auch noch einen Sack an der Hand, manche eine Matratze auf dem Kopf. Alle ruhig und gefasst. Gelegentlich gingen welche, die von links kamen und kein Gepäck hatten, Einheimische offenbar, an ihnen vorbei. Mich hat das berührt, weil ich die Landschaft kenne. Als junger Student war ich in Begleitung einer Freundin von Jugoslawien aus, zu dem Mazedonien damals gehörte, mit vielen Autos, die wir angehalten hatten, bis zu dieser Grenze gelangt; keine Menschen sahen wir, nur Grenzposten in hinreichender Entfernung, so dass wir an Ort und Stelle unsere Schlafsäcke ausbreiten konnten.

Und sahen wir nicht genauso aus, mit unsern Jeans und Rucksäcken, wie jene Flüchtlinge? Die Landschaft war damals schon trist, quälte uns aber nicht im Geringsten. Wir hatten ja alles, was wir brauchten, und noch viel mehr. Eine friedliche Zeit war es auch damals nicht. Griechenland zum Beispiel wurde von einer faschistischen Militärjunta regiert. Der Vietnamkrieg eskalierte. Aber man wurde nicht festgenommen, wenn man in die Türkei reiste, sah unterwegs keinen Flüchtlingsstrom, konnte dafür einem glücklichen libanesischen Paar begegnen. Ich habe das Paar fotografiert, schöne Menschen, die per Anhalter reisten wie wir, und darf gar nicht daran denken, was aus ihm geworden sein mag. Griechenland ist längst nicht mehr faschistisch, doch die Kriegszonen rücken uns näher.

Dem Programmheft war vorab zu entnehmen, dass Xenakis, Ferneyhough und Fure für je besondere Aktualitäten standen: der erste für Faschismus und Krieg, der zweite für das „Maß an Reizen und Anforderungen“, von denen wir umgeben sind, und das „Diktat der Zeitknappheit und Effizienz“, mit dem wir uns auseinandersetzen, die dritte schließlich für „umweltbezogene[.] Ängste“. Ich habe das Letztere nicht herausgehört. Bei Ferneyhough habe ich zwar bewusst dargestellte Überreizung bemerkt, sie aber mehr als kühne Virtuosität wahrgenommen. Er gilt ja als Begründer einer „new complexity“, und es wird gesagt, viele seiner Kompositionen seien unspielbar. Von seinen drei Studies mit dem Titel Time and Motion, die aufgeführt wurden, war die zweite, eine Komposition „für singende Cellistin und Live-Elektronik“ (1973 – 1976), unglaublich bewegt, ja geradezu artistisch. Séverine Ballon zupfte in schwierigsten Rhythmen, immer sehr erregt, klopfte häufig, strich seltener, rief manchmal unartikuliert etwas aus, aber nie verlor das Werk seine Einheit oder hatte man das Hörgefühl, die Cellistin bewältige es nicht. Sie war brillant. (Am 19. 3. gab ich hier irrtümlich Cosima Gerhardt an, nach dem Programmheft.)

Eindrucksvoll schloss sich die dritte Study „für 16 Solostimmen mit Perkussion und Elektronik“ an (1974). Hier hörte man, wie der Komponist es anging, das Problematische zu transzendieren. Sein Chor bewegte sich im Übergang von Lauten, die auf irgendwelche Eindrücke, von denen die Solostimmen bedrängt wurden - jeder und jede anders -, unbeholfen genug reagierten, zu wenigstens kurzen Linien auf nur einer Tonhöhe. Auch diese Komposition war bei aller Komplexität hörbar gut organisiert. Und ist ermutigend. Dass jene Linien nüchtern bleiben, statt ihren kleinen Schritt über die Unbeholfenheit hinaus zu feiern, ist wunderbar. Die Unbeholfenheit – dass man sie nicht scheut – war ja das Wichtige, weil anders gar nichts in Gang käme. Von hier führte ein erstaunlicher Bogen schon zu Xenakis, in dessen Chören es mehr Ausrufe waren, die zu den Linien hinzutraten, und schließlich zu Ashley Fure. In Shiver Lung „für sieben Stimmen mit Perkussion und Live-Elektronik“ (2016), einer deutschen Erstaufführung, stellte sich das spontane „schaudernde, fröstelnde, zitternde“ (shiver) Reagieren in der äußerst reduzierten Form zweier Frauen dar, die einander anhauchten, dies aber mit Lautsprechern. In der Mitte des Saals, vom Publikum umgeben, standen sie sich gegenüber. Die ergänzende Musik war nicht nüchtern, eher esoterisch. Das Programmheft charakterisiert sie als ein Ringen „mit der beseelten Vitalität von Materie“. Bemerkenswert war das ungewöhnliche, oft sehr leise Schlagzeug. Über einer verdeckten Maschine wurden etwa Halsketten zum Vibrieren gebracht.

Das Ensemble PHØNIX16 unter der Leitung Timo Kreusers gestaltete über fast dreieinhalb Stunden einen interessanten, wenn auch anstrengenden Abend. Instrumentale Solist*innen waren neben Séverine Ballon Jonathan Boudevin, Perkussion, und Miguel Perez Iñesta, Bassklarinette, alle brillant.

Berichte zu Berliner Musikfestivals seit 2010 finden Sie hier.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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