Der Mensch wird nicht kleiner

Musikfest 2017 Am 17. September wurde Isang Yuns Geburtstag gefeiert. Obwohl seine Musik in kosmischem Vertrauen gründet, kann man einen Bogen zu Beethovens Revolutionsmusik schlagen

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Isan Yung im Jahr 1972 bei der Arbeit an seiner Oper für die Olympischen Spiele in München
Isan Yung im Jahr 1972 bei der Arbeit an seiner Oper für die Olympischen Spiele in München

Foto: Keystone/Getty Images

Auf den vorgestrigen Isang Yun-Tag des Berliner Musikfests, an dem er 100 Jahre alt geworden wäre, habe ich schon in einem Vorbericht hingewiesen und den südkoreanischen Komponisten ausführlich vorgestellt. Der Vorbericht ist vor anderthalb Wochen in der Printausgabe und am letzten Samstag auf Freitag-online erschienen. Ich bin da auch kurz auf eine der drei Kompositionen von Yun eingegangen, die am Sonntag zu hören waren, die Dimensionen für großes Orchester mit Orgel aus dem Jahr 1971. „In ihren Klangflächen“, schrieb ich, „bedeutet der Bereich der obersten Tonhöhen, gespielt von Orgel und Streichern, den Himmel: ‚Der Orgelklang‘, erläutert Yun, ‚ist in dem Stück immer sehr nah, zum Greifen nahe, aber er entzieht sich immer wieder. Immer ist er ein kleines Stück höher, als der Mensch greifen kann.‘“

Ich kannte das Stück schon länger von der CD, es ist aber wohl bei Neuer Musik immer so, dass selbst bessere HiFi-Anlagen kein Ersatz für das Hören im Konzertsaal sind. Ich hätte nicht gedacht, wie viel Zerrissenheit in dem Stück liegt, was von der Botschaft her aber gerade zu erwarten war. Es gibt ja in ihm ein Oben und ein Unten, eine erhoffte Zukunft und eine schwierige Gegenwart – ich wies im Vorbericht darauf hin, dass Yun selbst zweimal in seinem Leben gefoltert wurde, in Japan während des Zweiten Weltkriegs und dann noch einmal 1968, als ihn der Geheimdienst der südkoreanischen Militärdiktatur von Westberlin nach Seoul verschleppte, weil er vorher nach Nordkorea gereist war und dort geholfen hatte, eine musikalische Intrastruktur aufzubauen -, und auch der Eingriff des Menschen, der Individuen ist mitgestaltet als schon ziemlich hoch oben angesetzte, von der Flöte gespielte Mittellage.

Ein Erlebnis beim Hören im Konzertsaal war auch der Orgelklang, der in der CD-Einspielung nicht so gut zur Geltung kommt. Dieser Klang, der ja nicht mehr tonal komponiert ist, hörte sich fast so an, als werde elektronische Musik eingeblendet. Es gibt viele Kompositionen, in denen atonale Musik vom klassisch besetzten Orchester gespielt und elektronisch ergänzt wird. Das Gefühl, „kosmische Klänge“ zu hören, hat sich bei mir dann oft eingestellt. Ich habe dann an „fremde Welten im All“ gedacht oder einfach an die große Leere des Weltraums, die keine Botschaft enthält und trotzdem, oder soll man sagen deshalb, etwas Rätselhaftes hat. Die Orgel hat es aber insofern immer schon mit dem „Kosmos“ zu tun gehabt, als sie in der europäischen Musik bis hin zu Messiaen von „Gott“ handelte.

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Von hier aus will ich zunächst den Bogen zum Vormittagskonzert schlagen, obwohl die Dimensionen erst abends gegeben wurden. Zum Vormittagskonzert hat Toshio Hosokawa, geboren 1955, nicht nur eine Komposition beigesteuert, sondern auch im Konzertheft eine ausführliche Würdigung Yuns unter dem Titel „Die Klänge des Weltalls im Fluss“. Eine Äußerung Yuns ist dem Beitrag vorangestellt, beginnend mit den Sätzen: „Ich habe meine Musik nicht selbst geschaffen: Alle hörbaren und nicht-hörbaren Töne fließen durch den Kosmos, und ich habe nur eine Antenne, mit der ich Ausschnitte aus diesem großen Strom einfangen kann.“ Das Eingefangene zu ordnen sei eine Sache der Technik, „aber zuallererst – und das ist mir das Wichtigste – muss man den Klängen des Weltalls lauschen.“

Hosokawas Beitrag greift diese Position auf und wendet sie polemisch gegen das westliche Musikdenken: „[...] die westliche Musik war durch ihre Selbstbezogenheit und durch ihr teleologisches Geschichtsverständnis in eine Sackgasse geraten. Westliche Komponisten begannen deshalb, sich für asiatische oder afrikanische Musik zu interessieren, die sie für ‚wild‘ und ‚unzivilisiert‘ hielten. [...] Allerdings beschränkte sich das Interesse westlicher Komponisten an nicht-westlicher Musik darauf, die westliche Musik lediglich durch neue Klangfarben und Atmosphären zu erweitern und führte nicht etwa zu einer grundlegenden strukturellen Veränderung des westlichen Musikdenkens.“ Er nimmt nur Giacinto Scelsi aus. „In genau dieser Zeit entdeckte [...] Isang Yun seinen eigenen Weg zur musikalischen Komposition, der westliche Musiksprachen nicht mehr nur imitierte, sondern ein ganz eigenes musikalisches Idiom ausbildete.“

Diese Charakterisierung westlicher Musik ist, so scheint mir, auf interessante Weise überzogen oder lässt mindestens wichtige Unterschiede außer Acht. Vor allem zwischen tonaler und nachtonaler Musik müsste unterschieden werden. Von tonaler Musik kann doch auch gesagt werden, dass sie „den Klängen des Weltalls abgelauscht“ sei. Der „Harmonie“ der Sphären, der Himmelskörper. Schon für Pythagoras soll Musik einen kosmologischen Stellenwert gehabt haben, mindestens ein Teil der Forschung nimmt das immer noch an, und noch Goethes Faust gibt die Vorstellung weiter, wir müssten taub werden, könnten wir die gewaltigen kosmischen Klänge hören. Die Musik Johann Sebastian Bachs ist ohne die „kosmologische“ Dimension kaum angemessen zu verstehen. Noch seine verzweifeltsten Kantaten lassen einen Hintergrund der Geborgenheit mithören, die eben daher rührt, dass alles in einer übergreifenden Ordnung steht, auch wenn wir diese vorerst nur musikalisch ahnen, nicht intellektuell fassen können. Auch Beethovens Neunte ist von dieser Konzeption untrennbar. Wenn es da heißt, überm Sternenzelt müsse ein lieber Vater wohnen, ist das Sternenzelt auch musikalisch präsent, so dass man sagen könnte, es sei letztlich die Musik selber, die für den „Vater“ bürgen soll. Dass sie in der Tat teleologisch ist, ändert daran gar nichts.

Teleologisch ist auch noch die Neue westliche Musik, wenn auch oft oder meistens nur noch in der Weise, dass sie einen Unterschied von schlechter Gegenwart und „utopischer“ Zukunft evoziert; Adornos ästhetische Theorie kreist um diesen Punkt. Die Neue Musik ist nun in der Tat nicht mehr kosmologisch fundiert. Schief wird es aber, wenn man dies als einen naiven Mangel beschreibt, der sich auf „Selbstbezogenheit“ zurückführen lasse. Es hat doch vielmehr eine Entscheidung am Anfang gestanden: Schönbergs Zwölftonmethode hat mit der auf Grundtöne und damit auf vorgegebene Ordnungen sich stützenden Musik bewusst gebrochen. Und er hatte ja einen Grund, mit dem Grund zu brechen. Den, dass man ihn nicht wissen könne, weil er noch gar nicht vorhanden sei. Diese Position, die dazu führt, dass man Gründe zu konstruieren versucht, statt sie einem fix und fertig vorhandenen Gott abzulauschen, kann falsch sein, darüber kann und muss debattiert werden, aber einfach zu sagen, sie führe notwendig in eine „Sackgasse“ und die ältere, auch in Europa vormals herrschende Konzeption des Grundvertrauens tue das nicht, das ist zu wenig.

Es gelingt mir auch nicht recht, Hosokawas Sätze mit der hervorragenden Komposition in Einklang zu bringen, die von ihm aufgeführt wurde. Klage „für Sopran und Orchester nach Texten von Georg Trakl“ (2013): Er schreibt, ihn habe das „Photo einer Mutter, die nach dem Tohoku-Erdbeben und dem Tsunami vom 11. März 2011 den Körper ihres Kindes an der Küste sucht“, dazu gebracht, „dieses Stück zu komponieren, in dem eine Frau ihren tiefen Schmerz dadurch bewältigt, dass sie ihm singend Ausdruck verleiht“. Es ist gut, diese Mutter zu verewigen, so dass dem Stück von Hosokawa wahrlich nichts fehlt - aber was würde gegen eine Musik sprechen, die sich nicht darauf beschränkte, den Klängen des Erdbebens zu lauschen? Für den Komponisten spricht jedenfalls, dass er hier keinem Naturgrund gelauscht hat, sondern einem Naturgrund-Zerbrechen. (Den Sopran gab Yeree Suh.)

Noch viel mehr wäre zum Vormittagskonzert zu sagen, aber ich muss mich beschränken. Zwei Orchester-Kompositionen von Yun standen auf dem Programm, Réak (1966) und Muak (1978), außerdem Lontano (1967) von György Ligeti. Was Yun angeht, muss hervorgehoben werden, dass jedes seiner Stücke ganz anders klingt. Réak rekurriert auf traditionelle Ritualmusik, hört sich aber gar nicht so an; gerade hier hat man eher den Eindruck eines im Ganzen ruhigen Naturflusses, so dass diese Musik ahnen lässt, wie schon das Ritual selber als kosmisch eingebettet verstanden worden sein muss. Muak zeigt, dass Yun am Ende der 70er Jahre ganz anders komponiert hat als in den 60ern. Diese Musik klang in meinen Ohren wie eine atonal verschlüsselte tonale Komposition mit aller Dramatik, die einer solchen eigen gewesen wäre. An Ligetis Stück, das ich ganz gut kenne, fiel mir im Kontext dieses Konzertes auf, wie sehr es doch inmitten seiner Cluster die Linien hervorgehobener Einzeltöne thematisiert. Die Leistung des Gyeonggi Philharmonic Orchestra unter seiner jungen, aber international bekannten und bewährten Dirigentin Shiyeon Sung war eindrucksvoll.

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Mit dem Abendkonzert hat sich der neue Dirigent des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin, Vladimir Jurowski, eingeführt. Der Bogen dieses Konzerts war teleologisch im stärkstmöglichen Sinn, und es begann mit den Dimensionen, einer Komposition von Yun! Ich zitierte ja schon, dass es in ihr darum geht, etwas Oberes zu „greifen“. Yurowski hat daraus eine ganze Programmfolge gemacht. Auf die Dimensionen folgte Arnold Schönbergs Violinkonzert, entstanden 1934-36 und ein Ausdruck des Angelangtseins im amerikanischen Exil während der Naziherrschaft. Auch Yun hat im Exil gelebt, er aber fand selbst dort keinen sicheren Schutz, sondern wurde von den Schergen der südkoreanischen Militärdiktatur verschleppt, konnte dann allerdings wieder befreit werden. Nach der Pause ging es weiter mit einem unvollendeten Werk Luigi Nonos: „Fučik“ für zwei Rezitatoren und Orchester, entstanden 1951, uraufgeführt 2006 und sonst kaum jemals gespielt. Weshalb dann noch hinterher Beethovens fünfte Symphonie gegeben werden sollte, und auch noch in Gustav Mahlers Bearbeitung und Orchestrierung, konnte man, wenn man Nonos Stück nicht kannte, im Voraus kaum ahnen.

Julius Fučik war ein tschechischer Journalist und Schriftsteller, der sich als Mitglied der Kommunistischen Partei in Prag vor den Nazis zu verstecken versuchte, aber doch gefasst und im September 1943 im Gestapo-Gefängnis Berlin Plötzensee hingerichtet wurde. Er wurde geschlagen und gefoltert wie Yun, der ja auch im Gefängnis von Seoul seinem Tod entgegenzugehen glaubte, und verlor so wenig wie dieser den Mut. Nonos Komposition hat zunächst Anklänge an Schönbergs Ein Überlebender aus Warschau (op. 46), hier wie da sind auch die brutalen Nazis präsent (Sprecher Sven Philipp), „Fesselt ihn und schlagt’s aus ihm raus“ tönen sie bei Nono, der aber am Ende eine Passage aus Fučiks Abschiedsbrief an seine Familie sprechen lässt (hier durch Max Hopp). „Glaubt mir“, heißt es darin: „Nichts, gar nichts hat mir das von meiner Freude genommen, die in mir ist und sich täglich mit irgendeinem Motiv von Beethoven meldet. Der Mensch wird nicht kleiner, wenn er um einen Kopf kürzer wird.“ Am Ende schreibt er, die „Menschenpflicht endet nicht mit diesem Kampf, und ein Mensch zu sein wird auch weiterhin ein heldenhaftes Herz erfordern, solange die Menschen nicht ganz Menschen sind“. Da Fučik Beethoven nennt, war es möglich, diesen anschließend zu spielen.

Man könnte nun über die Musik sprechen. Schönbergs Violinkonzert ist für mich einer der Fälle, wo es mir schwerfällt, mit Genuss zuzuhören, und ich mich frage, ob Schönberg überhaupt vorhatte, „schöne“ Musik zu komponieren. Sagen wir, ob er es immer vorhatte. Dass er es konnte, egal ob in tonaler, frei atonaler oder Zwölftonmusik, steht ganz außer Frage. Er hat es gezeigt. Im Violinkonzert ist aber vielleicht mitzuhören, wovor er nach Amerika geflüchtet ist. Interessant ist dann wiederum, dass der Klang von Nonos Musik gerade in „Fučik“ dem Schönbergschen Idiom sehr nahe kommt, was angesichts des Themas Naziverfolgung auch nicht erstaunen kann, er aber doch etwas abweicht und um ein Weniges gefälliger wird. Schönberg lässt die Klänge der Einzelinstrumente rücksichtslos zusammenstoßen, Nono mildert durch besondere Gruppierungen etwas ab.

Was Mahlers Bearbeitung von Beethovens Fünfter angeht, kann man, wenn man sie isoliert nimmt, nicht sehr begeistert sein. Es heißt, er habe die Polyphonie und gelegentlich einzelne Stimmen besonders hörbar machen wollen und dafür, um die Proportion zu wahren, das ganze Orchester vergrößern müssen. Tatsächlich bietet er ein Riesenorchester auf. Dass es um seines Ziels willen nötig war, kann ich gar nicht nachvollziehen. Vielleicht stand ja doch der Wille zum Riesigen am Anfang. Da klingt dann alles ein wenig nach grober Plakatkunst. Weshalb aber Jurowski sich für diese Version entschied, leuchtet völlig ein: Die Fünfte sollte auf derselben Ebene wie Nonos „Fučik“ gehört werden können. Dazu wäre Beethovens kleineres Orchester zu schmächtig gewesen.

Jurowski ließ Nonos „Fučik“ in die Fünfte direkt übergehen, und die Wirkung war ungeheuerlich. Wer hätte das gedacht, dass man sich dieses Beethovensche Werk überhaupt noch einmal unbefangen, und dann erschüttert, würde anhören können! Es handelt von der Revolution, es hat Pathos, es ist noch immer unverbraucht! Denn die Revolution ist nicht beendet, sie hat noch gar nicht richtig angefangen. „... und ein Mensch zu sein wird auch weiterhin ein heldenhaftes Herz erfordern...“ Dass Jurowski sich so einführt, lässt wirklich aufhorchen.

Wie alle Jahre kann ich mich nur bedanken für die Anregungen des Musikfests, auch wenn ich diesmal etwas weniger Zeit hatte als sonst, mich ihm zu widmen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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