Bedeutet Gerhard Schröders Rückzug vom Parteivorsitz, dass er demnächst auch als Kanzler demissionieren will? Im ersten Moment konnte man sich das fragen. Reflexartig sah die Union den "Anfang vom Ende" der rot-grünen Regierung. An der Vorgeschichte einer so gravierenden Wende schien es nicht zu fehlen. In den vergangenen Wochen hatten erstmals nicht bloß Parteilinke, sondern die Spitzen mehrerer Landesverbände Schröders Politik massiv kritisiert und Veränderungen im Kabinett gefordert. Nach dem symbolträchtigen Erlebnis der Arztpraxisgebühr war die Zustimmung der Bürger zur SPD auf 24 Prozent gesunken. Musste Schröder da nicht einen Notkapitän bestellen für den Fall, dass er selbst vielleicht bald zum Aufgeben gezwungen war?
Aber es wäre nicht das erste Mal, dass er eine schlechte Gelegenheit nutzt, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Es wird erzählt, der Plan, den Parteivorsitz abzugeben, werde von Schröder seit dem letzten Parteitag verfolgt. Es sei ihm aber erst nach den jüngsten Bedrängnissen gelungen, Franz Müntefering zu überzeugen. Das könnte stimmen, weil er tatsächlich entschlossen scheint, seine Macht nicht nur zu behalten, sondern sogar noch auszubauen. So hat er Regelungen getroffen, die dem Kanzleramt noch mehr Kontrollrechte über die Ministerien einräumen.
Schröders Kalkül ist rational. Er weiß zum einen, dass die Macht sich stets besser behauptet, wenn sie auf zwei Pole verteilt ist, zwischen denen die Beherrschten dann hin- und herirren. Er folgte zum andern der bekannten Empfehlung, eine Regierung, die soziale Grausamkeiten plane, müsse diese gleich nach dem Regierungsantritt vollbringen, damit später noch Zeit sei, sie in Vergessenheit geraten zu lassen. Die beiden Maximen standen ein Jahr lang im Widerspruch zueinander, denn bei der nicht nur grausamen, sondern auch gänzlich unsozialdemokratischen Politik, wie Schröder sie betrieb, war die Einrichtung des zweiten Pols zu gefährlich. Doch als die "Agenda 2010" durchgesetzt war, begann Schröder auf Müntefering einzureden. Er hofft auf die zweieinhalb Jahre bis zur nächsten Bundestagswahl: viel Zeit, so scheint es, um für den dritten Kanzlersieg in Folge zu kämpfen.
Die Aussicht auf das beginnende Jahr der Landtagswahlkämpfe wirft Schröder noch nicht um. 2004 ist auch das Jahr, an dessen Ende die vom Bundesverfassungsgericht verlangte Föderalismusreform stehen soll. Das Thema beherrscht noch nicht die Schlagzeilen, doch die Arbeit ist im Gange und der Weg zeichnet sich ab. Eine Kommission, deren Vorsitzende Stoiber und Müntefering heißen, scheint einig, die Gesetzgebungskompetenz von Bund und Ländern weitgehend zu entflechten. Schröder hätte dann mehr Spielraum für Gesetze, die vom Bundesrat nicht zurückgewiesen werden können. Allerdings nützt ihm das nichts, wenn die Union alle anstehenden Landtagswahlen gewinnt - auch die in Nordrhein-Westfalen -, denn dann hat sie die Zweidrittelmehrheit im Bundesrat, mit der sich auch die sonst nicht zustimmungspflichtigen Gesetze des Bundestags stornieren lassen. In diesem Fall würde Schröders Bundestagsmehrheit den Namen "Regierungsmehrheit" nicht mehr verdienen; er müsste abtreten. Also darf die Wahl in Nordrhein-Westfalen auf keinen Fall verloren gehen: dem Bundesland, aus dem Müntefering nicht nur stammt, sondern das er in gewisser Weise verkörpert. Es ist im Augenblick schwer vorstellbar, wie Schröder und Müntefering diese Wahl bestehen wollen. Aber immerhin haben sie ein Jahr Zeit, es zu versuchen.
Schröders Kalkül ist rational; ob es auch aufgehen wird, ist eine andere Frage. Im Moment hat er in Müntefering zweifellos einen loyalen Mitarbeiter. Doch der wird als Partei- und Fraktionsvorsitzender ganz ungewöhnlich viel Macht haben. Und es gibt Reibungsflächen. Denn Müntefering ist zwar ein rechter, aber kein bloß nomineller Sozialdemokrat wie Schröder. Kaum zum Parteivorsitzenden designiert, ließ er öffentlich hören, er könne verstehen, dass eine Gewerkschaft allergisch reagiere, wenn man von ihr längere Arbeitszeiten ohne Lohnausgleich, also "faktisch eine Lohnkürzung", verlange. Die IG Metall kann nun gestärkt in den Arbeitskampf ziehen, während die Gegenseite glaubte, sie könne Schröder in diesen Wochen zur Abschaffung der Tarifhoheit veranlassen. Außerdem bedeutet Münteferings Nominierung eine herbe Niederlage für Wolfgang Clement, Schröders bisher engsten Verbündeten. Bundeswirtschaftsminister Clement, der von der Nominierungsentscheidung genauso überrascht wurde wie alle anderen auch, hatte sich noch jüngst gegen Münteferings Pläne ausgesprochen, Betrieben, die keine Jugendlichen ausbilden wollen, eine Ausbildungsplatzabgabe aufzuerlegen. Wer in diesem Streit der Sieger sein wird, steht nun fest.
Müntefering soll die Landesfürsten der SPD auf Schröders Seite ziehen. Er ist auch gewillt, es zu versuchen. Schröder jedoch erkennt durchaus die Gefahr, dass sie ihn vielmehr auf ihre Seite ziehen könnten. Die Bestellung Klaus Uwe Benneters zum Generalsekretär der SPD - eines Mannes, für den nichts spricht, als dass er Schröders Tennispartner ist - war ganz bestimmt nicht Münteferings Idee, auch wenn das jetzt behauptet wird. Wenn der Kanzler damit einen Fuß in der Tür des Parteiapparates hat, hat er zugleich Münteferings Misstrauen geweckt. Sein Rückzug vom Parteivorsitz bedeutet zwar nicht, dass er auch als Kanzler demissionieren will. Aber objektiv läuft es vielleicht doch auf etwas Derartiges hinaus. Es ist ein kleiner Lichtschimmer im großen selbstverschuldeten Unglück der SPD, dass nun tatsächlich einer an dem Platz steht, wo bald schon - vielleicht in einem Jahr - ein Notkapitän wird stehen müssen. Wenn Schröder versinkt, kann Müntefering den Tanker davor bewahren, im Mahlstrom mit unterzugehen.
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