Heute sind Arbeiterinnen in der Bundesrepublik Deutschland noch weit mehr „unten“, als das vor fünfzig, sechzig Jahren der Fall war. Das war die Zeit, in der ihre Partei, die SPD, allmählich immer stärker wurde und 1969 den Kanzler Willy Brandt wie auch den Bundespräsidenten stellen konnte. Um dahin zu kommen, war sie schon 1959 so selbstbewusst gewesen, sich in der „Godesberger Wende“ dem linken Bürgertum zu öffnen. Sie wusste nämlich, dass sie anders keine gesellschaftliche Mehrheit und also keine Regierungsgewalt hätte erlangen können.
Ihre Klassenpolitik mit dem zu vereinbaren, was man heute „Identitätspolitik“ nennt, war für die SPD damals kein Problem sondern ganz selbstverständlich. Es war nicht nur die FDP, Willy Brandts Koalitionspartner, der es am Herzen lag, bald nach dem Regierungsantritt die Strafbarkeit von Homosexualität abzuschaffen. Und wenn Brandts Friedenspolitik nicht besonders die Frauen überzeugt hätte, wäre die SPD-Regierung schon 1972 wieder abgewählt worden. Noch 1969 waren es die Männer gewesen, die Brandt zur Kanzlerschaft verholfen hatten. Erst seit der Brandt’schen Entspannungspolitik wählten die Frauen mehrheitlich links.
Identitätspolitik anno 1891
Man kann diese Politik nicht darauf zurückführen, dass die SPD sich ins Gefängnis der „Sozialpartnerschaft“ hatte einschließen lassen. Im Gegenteil, es war Bündnispolitik, wie sie sein soll. So hatte sie schon in ihrem Erfurter Programm von 1891 kundgetan, sie kämpfe zwar vor allem „für die Abschaffung der Klassenherrschaft und der Klassen selbst“, aber gerade deshalb – „von diesen Anschauungen ausgehend“ – bekämpfe sie „in der heutigen Gesellschaft nicht bloß die Ausbeutung und Unterdrückung der Lohnarbeiter, sondern jede Art der Ausbeutung und Unterdrückung, richte sie sich gegen eine Klasse, eine Partei, ein Geschlecht oder eine Rasse“.
Seit den achtziger Jahren und besonders nach 1990 ist alles ganz anders geworden. Dem Neoliberalismus gelang es, Errungenschaften von „1968“ ins Reaktionäre umzubiegen. Das selbstbewusste individualistische Leben, das damals etwa Frauen dazu trieb, eine neue Frauenbewegung anzustoßen, wurde ausgenutzt, Arbeiterinnen als Individuen möglichst zu vereinzeln, – bis dahin, dass nach Solidarität nicht einmal mehr gefragt werden konnte. Feministinnen wandten sich in den Jahren nach 1968 ebenso wie ihre männlichen Genossen an die Arbeiterinnen, um sie zum Kampf gegen das Kapital wie gegen das Patriarchat zu gewinnen. Heute sind sie manchmal unfähig, ihnen auch nur zuzuhören.
Eine gewerkschaftlich engagierte ältere Tischlerin meldet sich in einer Versammlung von Feministinnen zu Wort und nennt die heutigen Arbeitsbedingungen asozial – eine sprachempfindliche Frau ruft dazwischen, „asozial sagt man nicht!“, und von da an sagt sie selbst nichts mehr. Dies berichtet Katja Barthold, Gewerkschaftssekretärin aus Jena, in einem Sammelband über Neue Klassenpolitik und deren Verhältnis zur Identitätspolitik, an dem auch Frigga Haug, Silvia Federici, Klaus Dörre, Hans-Jürgen Urban und andere mitgeschrieben haben (hg. von Sebastian Friedrich und der Redaktion analyse & kritik, Berlin 2018).
Hätte sich die Empfindliche lieber angehört, was heute die Arbeitsbedingungen sind. Von dem, was noch 1968 als „Normalarbeitsverhältnis“ bestand, ist im Neoliberalismus wenig übrig geblieben. Wenn ich an meinen Vater denke, einen einfachen Monteur: Bei Siemens angestellt, hatte er Aufstiegschancen und nutzte sie; die Firma schickte ihn schließlich in ganz Europa herum, einmal sogar nach Montevideo, wo er den Bau von Förderbandanlagen in Postämtern anleitete. Auf manche dieser Arbeitsreisen konnte er die Familie mitnehmen, und so auch mich; auf die Weltoffenheit, die sie dadurch gewann, ist es sicher zurückzuführen, dass ich als Erster der Familie das Abitur ablegen konnte. Irgendwann brauchte die Firma meinen Vater nicht mehr. Aber da wurde er nicht entlassen, sondern in ein Büro gesetzt, wo er praktisch nichts mehr zu tun hatte.
Von so einem Arbeitsverhältnis können Arbeiterinnen heute nur träumen. Aufstiegschancen? Damit es den Kindern besser geht? Wer heute in den Niedriglohnsektor gerät, kommt schwer wieder heraus. Diesen Sektor haben die Unternehmen aus der Arbeit herausgeschnitten, die früher von Stammbelegschaften geleistet wurde. Befristete Arbeit, Leiharbeit, Werkverträge können weit schlechter bezahlt werden. Viele müssen den geringen Lohn dann durch Hartz IV aufstocken. Die Stammbelegschaft weiß von den sozialen Löchern, in die sie selbst fallen kann. Sie wird sich viel gefallen lassen.
Und ihre Partei, die SPD? Im vorigen Jahr hat Arbeitsministerin Andrea Nahles ein Gesetz vorgelegt, das den Missbrauch von Leiharbeit eindämmen sollte. Wer neun oder maximal 18 Monate Leiharbeit in derselben Firma geleistet hat, soll von da an wie die Stammbelegschaft bezahlt werden. Das Problem ist nur, dass die meisten Firmen ihre Leiharbeiterinnen alle drei Monate austauschen. Für Bernd Riexinger, den früheren Gewerkschaftsführer und jetzigen Linkspartei-Vorsitzenden, der das in seinem Buch berichtet – es heißt ebenfalls Neue Klassenpolitik (Hamburg 2018) –, sind Werkverträge, befristete und Leiharbeit selber der „Missbrauch“, den es abzuschaffen gilt. Zusammen mit Lia Becker hat er das Kampfziel eines Neuen Normalarbeitsverhältnisses ausgearbeitet, das Arbeiterinnen dieselbe Lebenssicherheit verschaffen würde, wie mein Vater sie noch hatte. Das heißt nicht, dass Riexinger neue Bedingungen nicht mitbedenkt. Heute werden wenige ihr Arbeitsleben in ein und derselben Firma verbringen können, auch nicht wollen. Deshalb in ein „Prekariat“ zu stürzen, ist aber nicht hinnehmbar.
Wo nicht linke Parteien für Lebenssicherheit kämpfen, bemächtigt sich die selber neoliberale AfD des Themas. Mit welcher „Erzählung“ manche Arbeiterinnen in den rechtspopulistischen Sog geraten, haben Sozialwissenschaftlerinnen weitererzählt: In der Schlange vor dem Berg des Aufstiegs sehen sie sich stehen, immerzu wartend, und nun kommen noch Migranten dazu, sodass die Schlange noch länger, der Aufstieg noch unwahrscheinlicher wird. Dass sie mit oder ohne Migranten umsonst warten, kommt bei ihnen nicht an. Ihre Chance, die Urheber des neuen prekären Lebens niederzuringen, wächst aber in dem Maß, wie Migranten mitkämpfen.
Auf allen Ebenen gilt es der Spaltung entgegenzuwirken. Der Niedriglohnsektor wurde auch um der Spaltung willen eingerichtet, führt er doch dazu, dass Lohnabhängige, die am selben Produkt arbeiten, sich nicht mehr zu Gesicht bekommen. Wie es von Leiharbeiterinnen zum Kunden getragen wird, scheint die Stammbelegschaft nichts anzugehen. Und doch haben die verschiedenen Fraktionen der Arbeiterinnenklasse dasselbe Interesse. Früher schrieb man der Klasse Kampfkraft zu, weil sie am selben Ort, der Firma, versammelt war. Aber war es nicht schon damals wichtiger, dass sie, ob am selben Ort oder nicht, am selben Produkt arbeitete? Die Orientierung des Kampfes am Produkt würde auch den nötigen Bogen zur Ökologie schlagen. Denn nur wer sich für gute Produkte einsetzt statt für ein böses, wie es heute etwa die Kohle geworden ist, hat für sich und seine Kinder Partei ergriffen.
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