Der Übergang vom zweiten zum dritten Satz

Musikfest 2012 Die Vierte von Ives

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Die 4. Sinfonie von Charles Ives, aufgeführt am vorigen Wochenende von den Berliner Philharmonikern, dirigiert von Ingo Metzmacher, entstand zwischen 1910 und 1916. Was ich über die Sinfonie Holidays schrieb, gilt auch hier: Eine Komposition, die sich aus vielen Liedzitaten zusammensetzt, eine Zitierweise, die als eine Art "Materialkunst" beschrieben werden kann. Zitiert wird der Höreindruck, den man hätte, hörte man die Melodien an ihrem gewohnten Aufführungsort auf der Straße, in der Kirche oder wo immer. Um die Melodien zu einem Ganzen zusammenzufügen, nutzt Ives ihre melodiösen und Strukturähnlichkeiten.


Der zweite Satz der Vierten ist besonders dichtgefügt: In den Takten 1-5 sind zwei Melodien verarbeitet, 6-16 drei andere, 17-35a eine andere, 35b-37 fünf andere, 38-42 zwei andere, 43-51 sechs andere, 52-54 drei andere, 55-58 sechs andere und so fort bis zum 238. und letzten Takt. Wir lesen, dass die Liedzitate sich "in Hymnen, populäre und patriotisch-militärische Melodien und 'Fiddle'-Melodien einteilen [lassen]", ferner dass Ives in der Partitur "die Lautstärke der einzelnen Stimmen mit Buchstaben [kennzeichnet]"; es gibt also mehrere Lautstärken gleichzeitig und daher eine Scheidung des Höreindrucks in Vorder- und Hintergrund, ja sogar von einem Mittelgrund oder mehreren kann gesprochen werden. (Dorothea Gail, Die 4. Symphonie von Charles Ives. Hermeneutik zwischen Programmusik und absoluter Musik, in Musik-Konzepte 123 (2004), S. 73-87, hier S. 78 f.).


Wie Holidays folgt auch die Vierte nicht dem üblichen Ablaufverständnis einer europäischen Sinfonie. Ihre vier Sätze sind so zu verstehen, dass der erste eine Frage aufwirft, auf welche die folgenden antworten. Zwar schließen sich die Antworten nicht aus, sind aber doch sehr verschieden und haben auf den ersten Blick keine weitere Beziehung zueinander, als dass sie eben Antworten auf dieselbe Frage sind. Ich will dazu aus dem Konzertprogramm der Uraufführung 1927 zitieren (vgl. S. 73 f.): Die Vierte


"besteht aus vier Sätzen - einem Prelude, einem zweiten Satz komödiantischer Art, einer majestätischen Fuge und einem Finale von transzendent-spirituellem Inhalt. Das ästhetische Programm des Werks ist das von vielen der größten literarischen und musikalischen Meisterwerke der Welt - die suchende Frage des Was? und Warum?, die der Geist des Menschen dem Leben stellt. Dies ist vor allem der Sinn des Prelude. Die drei folgenden Sätze sind die verschiedenen Antworten, mit denen die Existenz erwidert. (...) Das Prelude ist kurz, und seine grübelnden introspektiven Takte haben eine suchend wehmütige Qualität. Es scheint, als leite es sich von der Stille einer Sabbatstunde ab, in der die Seele, bedrängt und müde von weltlichem Ärger, sich zum Unendlichen wendet, zum Leben und darin zu sich selbst mit Fragen nach der letztgültigen Bedeutung von Existenz."


"Der folgende Satz [...] ist kein Scherzo in einem überkommenen Sinn des Wortes, sondern er ist eine 'comedy'. Es ist eine Komödie in der Hinsicht, in der Hawthores Celestial Railroad eine Komödie ist. In der Tat kann dieses Werk Hawthornes als eine Art Schlüsselprogramm betrachtet werden, in dem ein aufregender, leichter und weltlicher Weg durchs Leben mit den Unannehmlichkeiten der Pilger bei ihrer Reise durch den Sumpf konstrastiert wird. Die gelegentlichen langsamen Episoden - Hymnen der Pilger - werden ständig von ersteren [weltlichen Episoden] weggedrängt und überwältigt. Der Traum, oder die Phantasie, endet mit dem Einbruch der Realität - der vierte Juli in Concord - Blaskapellen, Schlagzeugcorps usw. Hier erscheinen alte populäre Melodien, Kriegslieder und dergleichen. (...) Dieser Ausdruck dionysischer Raserei [...] ist eine eigenartig passende Darstellung von zeitgenössischer mentaler und moralischer Erregtheit." Auf diesen zweiten Satz folgt die "majestätische Fuge" als "Ausdruck der Zuflucht des Lebens in Formalismus und Ritualismus".


Der Autor, Henry Bellamann, hatte den zweiten und dritten Satz irrümlich vertauscht, was ich hier stillschweigend korrigiert habe. Über den vierten Satz schreibt er zwei Jahre später, er sei "eine Apotheose des Vorausgegangenen", d.h. der vorausgegangenen Sätze, "in Formulierungen, die etwas zu tun haben mit der Realität der Existenz und ihrer religiösen Erfahrung".


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Von zweiten Satz, der "Comedy", ist nun in formaler Hinsicht (Überlagerung vieler Melodien) und inhaltlicher (weltlicher und geistlicher Weg durchs Leben; Aufgeregtheit des US-amerikanischen öffentlichen Lebens in den 1920er Jahren) die Rede gewesen. Fügen wir noch hinzu, dass man sich die weltliche Reise als eine mit der Eisenbahn vorzustellen hat und dass weltliche wie geistliche Reise nach New York führen, der "himmlischen Stadt": dies die Übersetzung des indigenen Worts "Manhattan". Selbst hier noch, in dieser Puritaner-Geschichte, die das Erweckungsgrundbuch der englischen religiösen Literatur, The Pilgrims' Progress from This World to That Which Is to Come des Baptistenpredigers John Bunyan (1678) US-amerikanisch variiert, ist die Erinnerung an die Ureinwohner des Landes nicht ganz ausgelöscht. Im Programmheft zum Konzert am vorigen Wochenende war zu lesen, dass Leonard Bernstein, der im Musikleben der USA eine beherrschende Stellung hatte, nur solche Komponisten förderte, und Ives gehörte für ihn dazu, deren Musik auf die indigene Kultur keinen Bezug nahm und dadurch erst, wie er meinte, wirklich US-amerikanisch eigenständig war. Wir sahen aber schon den Bezug, den Ives in seiner 1. Sinfonie auf Dvoraks Sinfonie Aus der Neuen Welt und darüber vermittelt auf einen Indianermythos herstellte.


Nun sind die vier Sätze der Vierten so beziehungslos, wie Bellamann meint, wohl doch nicht, wenn man ihm auch recht geben wird, dass alle auf den ersten antworten, auch dass ihre Verschiedenartigkeit sehr groß ist. Genauer gesagt steht der dritte Satz, der lange Zeit rein harmonisch im europäischen Stil dahinfließt, im deutlichsten Kontrast zu den umgebenden Sätzen, die sich so "wild" anhören, dass ein Konzertbesucher am Samstag seiner Gattin zuraunte, diese Musik sei gewöhnungsbedürftig. Es ist aber einleuchtend, was Metzbacher im Programmheft dazu schreibt: Der Übergang vom zweiten zum dritten Satz sei so, als trete man aus der Straße in die Kirche und damit vom Lärm in die Stille. Dieser dritte Satz, die Fuge, wirkt zunächst wirklich wie ein Fremdkörper, es ist auch tatsächlich die Einfügung eines früher komponierten Stücks in eine Sinfonie mit vollkommen gewandeltem Stil. Er unterstreicht aber auf seine Weise die Errungenschaft dieses Stils, vom dem ich geschrieben habe, er mache sich vom Außenraum europäischer Tonalität frei, indem er sich nur auf eigene Melodien zu stützen suche und aus ihrem Zusammenklang den Raum nur genau dieser Melodien erzeuge. Scheint es nicht, als verdanke sich schon die europäische Idee der Fuge einer ähnlichen Konzeption? Das ist nur e i n e Melodie, die sich schrittweise vervielfältigt, und man kann zusehen oder vielmehr -hören, wie sich dabei der Raum weitet. Er weitet sich aber nicht über die zusammenklingenden Fugenstimmen hinaus.


Hat Ives hier also etwas eingebaut, was sich von Ferne mit seiner eigenen reifen Konzeption verträgt, so übersetzt er es doch auch ins Amerikanische. Denn eigentlich hat die Melodie des dritten Satzes überhaupt nichts von einem Fugenthema, das man in der Kirche zu hören erwartet. Genauer gesagt hat der Gestus des Themas nichts davon. Es klingt nach einem Lied, das nicht einmal religiös sein muss, wenn es auch besinnlich ist. Das Raffinierte ist nun aber, dass dies Thema zugleich dem Eröffnungsmotiv des Parsifal-Vorspiels von Richard Wagner ganz nahe ist, das seinerseits das Thema der Kunst der Fuge von Johann Sebastian Bach umkehrt. Mehr kann man sich auf Europa kaum einlassen. Fast wäre von einem leicht variierten Wagner-Zitat zu sprechen - wenn es da nicht den gravierenden Unterschied gäbe, dass die tragische Zerrissenheit, die Wagner seinem Thema einschreibt, bei Ives der größten Seelenruhe und inneren Aufgeräumtheit weicht. Wagners Thema handelt vom Zusammenbruch der Kirche, bei Ives ist die Welt oder jedenfalls die Kirche in Ordnung.


Ich muss die Betrachtung hier unterbrechen, da das Abendkonzert bald beginnt, führe sie aber morgen zuende und schreibe dann auch über John Cage, der heute abend auf dem Programm steht. Ich werde zu erwähnen haben, dass es zwischen Ives und Cage bemerkenswerte Parallelen gibt.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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