Der Vorhang Nun

Maerzmusik 2017 Catherine Christer Hennix philosophiert musikalisch über das Weltall

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„Jede Musik ist Vibration. Der ganze Kosmos ist eine einzig vibrierende Unendlichkeit“
„Jede Musik ist Vibration. Der ganze Kosmos ist eine einzig vibrierende Unendlichkeit“

Bild: Nicolas Asfouri/AFP/Getty Images

Mit zwei Versionen von Minimal Music begann die MaerzMusik 2017. The Electric Harpsichord for Keyboard and Live-Electronics von Catherine Christer Hennix, aufgeführt am Donnerstag, mein heutiges Thema, wird in der Programmvorschau als „das unbekannte Meisterwerk des frühen amerikanischen Minimalismus“ bezeichnet; es wurde zuerst 1976 realisiert und für das diesjährige Berliner Festival erneuert. Hennix ist eine schwedische Mathematikerin und philosophierende Künstlerin, die seit sechs Jahren in Berlin lebt. Als Professorin für Mathematik war sie Ko-Autorin des Buches Beware of the Gödel-Wette Paradox (2001), das sie zusammen mit Alexander Esenin-Volpin schrieb, dem russischen Mathematiker, der ebenfalls auch Poet ist und als bekanntester Repräsentant des Ultrafinitismus gilt – und damit sind wir schon mitten im Rätsel; jedenfalls wenn man das Buch nicht gelesen hat und auch sonst keine mathematischen Schriften von Hennix, ist es ein Rätsel.

„Ultrafinitismus“ ist nämlich die Lehre, nach der über mathematische Objekte nur sinnvoll gesprochen werden kann, wenn sie in einer endlichen Anzahl von Schritten, die zudem noch physikalisch-möglich sind, aus natürlichen Zahlen abgeleitet werden können – eine in mathematischer Perspektive extreme Theorie der Endlichkeit also -, während sich Hennix, wenn sie über ihre Kunst spricht, gerade vom Unendlichen begeistert zeigt: „Jede Musik ist Vibration. Der ganze Kosmos ist eine einzig vibrierende Unendlichkeit“, antwortet sie auf die Bemerkung des Zitty-Interviewers Tobias Schwartz, ihre Musik scheine den ganzen Körper in Vibration zu versetzen. Da sie auch auf das Verhältnis zu sprechen kommt, das Musik und Mathematik im mittelalterlichen Studium unterhielten, und da sie sich offenbar für Theologie interessiert – für indische und vor allem islamische mehr als für christliche -, denkt sie vielleicht an die spätscholastische Ansicht, der mathematische Unendlichkeitsbegriff sei nur die Art des beschränkten Menschenkopfs, Gottes Unendlichkeit gleichsam bildhaft zu bezeichnen, wodurch deren eigenes Wesen aber durchaus nicht erschlossen werden könne; „ultrafinitistische“ Mathematik würde den Graben zwischen Abbild und Urbild, ja vielleicht ihre Beziehungslosigkeit nur noch stärker betonen. Das Urbild wäre bei Hennix der „Kosmos“, also, wenn man es wörtlich nimmt, ein als musikalisch geordnet vorgestellte Weltall. Musik, so scheint es, kann „das Unendliche“ besser andeuten als Mathematik.

Wenn man am Donnerstag die Kuppelhalle des silent green Kulturquartiers in Berlin-Wedding betrat, stand man einem großen Vorhang gegenüber, der nicht dazu gedacht war aufzugehen - man sah keine Tastatur und niemanden, der sie spielte, sondern hörte nur elektronisch verarbeitete Musik aus Lautsprechern. Auf dem Vorhang aber stand sehr groß der 25. Buchstabe des arabischen Alphabets, Nun. Warum gerade Nun? Ein Gedicht von Hennix, AN-NUR AN-NUN AND THE EMERALD MIRROR, behandelt diesen Buchstaben, bleibt aber auch rätselhaft: „From all the / Points of ALIF“, heißt es in ihm – Alif ist der erste Buchstabe -,

„to all of the
Points of the
Dot under the
Letter BX“

- das ist der zweite Buchstabe –

„This mapping is the
Opening for which there is no
Closing beyond which ponts begin the
Red Glow of the
Dot suspended above the
Letter NUN above which
Nur-Samad is balancing the
Ether“

Nur-Samad ist ein Vorname, der mit dem Buchstaben NUN beginnt. Ich kann diese „Fluten des Vor-Wortes“, um mit Lacan zu sprechen, nicht aufschlüsseln. Aber dass sich auch diese Worte im Unendlichen verlieren – Buchstaben, die sich vom Anfang entfernen, ein bestimmter Buchstabe dann, der sich davon entfernt, nur ein Buchstabe zu sein -, kommt bei mir an. Ums Verlieren, Verschwinden geht es wörtlich am Ende des Gedichts:

„Emerald Mirror in which every
Reflexion disappears irreversibly
Absorbed and never again
Emitted“

Auch von der Musik, die zu hören war, kann ich nur rätselnd sprechen. Hennix‘ Art, an der Minimal Music teilzuhaben, ist die sogenannte Drone Music, die von ihrem Pionier La Monte Young als „the sustained tone branch of minimalism“ definiert wurde. Sie kommt damit einer Eigenschaft von Minimal Music besonders nahe, die manchmal geradezu als deren wesentliches Charakteristikum beschrieben wird, nämlich dass ihre „Reduktion des Tonhöhenmaterials in Richtung Ein-Ton-Tendenz“ gehe (so Hanns-Werner Heister, Vereinfachungen. Ritualismus und Minimalismus, in Geschichte der Musik im 20. Jahrhundert: 1945-1975, Laaber 2005, S. 278-284, hier S. 279). Tatsächlich ist es der erste Eindruck, wenn man Hennix oder La Monte Young hört (der letzere war vor ein paar Jahren in der MaerzMusik musikalisch und persönlich präsent), dass praktisch nur eine Tonschneise zu hören ist oder, im Fall von Hennix, über einem Gewirr von Mikrotönen und sich überlagernden –rhythmen schwebt; und so glaubte ich zunächst auch in The Electric Harpsichord nur einen Cantus firmus-Ton, einen hohen, zu hören, dann wurde zunehmend deutlich, dass es ein begrenztes Spektrum von Tönen war.

Dem Artikel von Steffen Greiner in der taz, der sich mit Hennix unterhalten hat, entnahm ich dann, dass es sich um einen Tetrachord handelt, der die Formel für Wasserstoff wiedergibt; „das erste Element, das sich im Weltall gebildet hat“, sagt sie, und „der einzige Tetrachord, den wir im Universum kennen“. Zugleich, wie man hinzufügen könnte, der Anfang europäischer Philosophie: Wasser sei der Ursprung aller Dinge, wird ja von Thales überliefert. Wenn man dafür die Formel für Wasserstoff gibt, ist es ein endlicher Ursprung und der Cantus firmus würde das Endliche bezeichnen – aber man denke an das zitierte Gedicht, wo der Anfangsbuchstabe Alif nur die Eröffnung eines Weges ist, der sich nicht schließen wird. Er könnte auf dem Vorhang stehen, wie stattdessen Nun auf ihm steht: dem Vorhang, der ein Ende ist, hinter dem sich die Unendlichkeit verbirgt. Was sich da verbirgt, wissen wir aber gar nicht, denn „Unendlichkeit“ ist ja selbst weiter nichts, wenn man sie wörtlich nimmt, als das Ende selber als überschreitbares, das Un-Ende. Wohin die Überschreitung führt, bleibt offen.

All die durcheinanderwirrenden Mikrotöne und –rhythmen, die unter dem Cantus firmus mitspielen, gehören, so scheint es, zum Vorhang und seiner Funktion, auf ein Dahinter zu weisen. Sie ermöglichen es, anderthalb Stunden zuzuhören, ohne dass es langweilig wird, obwohl man im Grunde immer dasselbe hört. Und auch wieder nicht dasselbe: Was man hört, sind „unendlich“ viele kleinste Verschiebungen. (Ein entferntes Analogon in gewohnter „tonaler“ Musik wäre Vieles von Schubert, der auf seine Art ebenfalls die Kleinstverschiebungen liebte, man höre etwa sein Streichquintett.) Und es kommt manchmal zu erstaunlichen Veränderungen mindestens in der Wahrnehmung. So hörte ich das Haupttonspektrum, den „Cantus firmus“, überwiegend als eine Art Tonika, doch die Verschiebungen im Untergrund bewirkten, dass er sich plötzlich auch einmal wie eine Dominante anhörte. Mal also schien es eine Musik des Endgültigen, soweit dieses eben angedeutet werden kann, mal auch wieder eine der Spannung und des Noch-nicht.

In dem, was ich „Durcheinanderwirren“ nannte, zeigt sich ein weiterer Hauptzug vieler, aber nicht aller Arten von Minimal Music, nämlich dass sie von außereuropäischer Musik zehrt; darauf komme ich in der nächsten Ausgabe meines Berichts (wahrscheinlich Montag Abend) zu sprechen. Hennix hat auch islamisch-afrikanische Musik studiert. Vielleicht übernahm sie von dort, wie viele es getan haben, die sich überlagernden mikrorhythmischen Muster. Es sind die bildlosen Ornamente auf dem Vorhang Nun.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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