Einer der interessantesten Begriffe, die der Philosoph Immanuel Kant (1724 – 1804) geprägt hat, ist der des Geschichtszeichens. Das Geschichtszeichen soll Geschehnisse bezeichnen, die empirisch belegen, dass die Menschheit zum Besseren fortschreite. An so etwas zu glauben, fehlt uns heute ein wenig der Optimismus. Es ist aber dennoch nützlich, den Begriff auf die Geschehnisse in Belarus anzuwenden. Wir sehen dann deren starke Geschichtsmächtigkeit. Was hat sich ereignet? Kurz gesagt eine etwas neuartige Frauenbewegung.
Eine Frau, Swetlana Tichanowskaja, hat um die Präsidentschaft kandidiert. Sie ist für ihren Ehemann eingesprungen, den Blogger Sergej Tichanow, der nach seiner Ankündigung, kandidieren zu wollen, in Haft genommen worden war. Ihm wurde eine nicht genehmigte Kundgebung vorgeworfen. Auch Tichanowskajas engste Mitarbeiterinnen im Wahlkampf waren weiblich: Veronika Zepkalo, deren Ehemann ebenfalls nicht zur Wahl zugelassen wurde, und Maria Kolesnikowa, die das Wahlkampfteam eines weiteren nicht zugelassenen Kandidaten geleitet hatte. Tichanowskajas eigene Wahlkampfleiterin Maria Moros wurde dann auch festgenommen, und damit waren die Repressalien, wenn man sie alle aufzählen wollte, noch längst nicht erschöpft. In Belarus stehen übrigens auch JournalistInnen schnell vor Gericht und müssen dann mindestens hohe Geldstrafen zahlen, weil ihnen etwa vorgeworfen wird, sie würden auch für ausländische Medien arbeiten oder hätten auf Inhalte der staatlichen Nachrichtenagentur zugegriffen, ohne zu zahlen.
Dass aus der Konstellation der Präsidentschaftswahl eine Frauenbewegung hervorgehen würde, hätte man nicht sofort voraussagen können. Denn von Tichanowskajas inhaftiertem Mann war zu hören gewesen, die Rolle seiner Frau werde nominell sein, er selbst spiele nach wie vor die Hauptrolle und werde zusammen mit einigen Männern, deren Namen er nannte, auch das Wahlkampfteam leiten. Doch diese Frau musste sich schon deshalb von der Instrumentalisierung befreien, weil auch Alexander Lukaschenko, der Amtsinhaber seit 26 Jahren, ihre Rolle herabsetzte: Sie habe gerade erst ihre Kinder gefüttert, sagte er im Wahlkampf, was solle er als Politiker mit ihr besprechen? Vielleicht nur halb beabsichtigt, wurde da ihre Selbstherabsetzung, sie wolle ja nur zu den Kindern zurück „und wieder Bouletten braten“, zum Spiegel, den sie Lukaschenko verächtlich vorhielt – einem Mann, der sich öffentlich über hosentragende Frauen erregt.
Der Wahlkampf und die Proteste danach zeigten ein zunehmend weibliches Gesicht. Nachdem die Sicherheitskräfte gegen protestierende Männer mit der üblichen Brutalität vorgegangen waren, bekundeten Frauen im ganzen Land mit Menschenketten und anderen Demos, oft in weißen Kleidern, ihre Solidarität. Manche glaubten eine neue Friedensbewegung zu sehen, die sich gegen die Gewalt des eigenen Staates richtet, und wenn man es so sieht, fallen einem gleich historische Parallelen ein. So hat zwar die Bundesrepublik Deutschland mit Belarus gar keine Ähnlichkeit, aber ihre ersten zwanzig Jahre unter der Herrschaft einer CDU, die das Kanzleramt auf ewig gepachtet zu haben glaubte, waren doch auch von ziemlich viel Repression geprägt. Dass es der SPD gelang, eine normale parlamentarische Demokratie mit Regierungswechseln herbeizuführen, war vor allem den Frauen zu verdanken, deren deutliche Mehrheit zwischen 1918, als sie erstmals mitwählen durften, und 1969 immer rechts gewählt hatte. Willy Brandt verdankte seinen ersten Wahlsieg den Männern, den zweiten aber, 1972, den Frauen, die sich nun dauerhaft umorientierten, veranlasst offenbar durch Brandts Friedenspolitik.
Kritisierte Umarmung
Frauen für den Frieden, Männer für den Krieg ist eine uralte Gender-Zuschreibung, die man schon in der Antike (Lysistrata), ja schon in den ältesten vorstaatlichen Gesellschaften findet. Man denkt auch an die Rolle von Frauen in der Französischen oder Russischen Revolution, wo sie ihre zugeschriebene Friedlichkeit einsetzten, die Disziplin der von den alten Mächten aufgebotenen Soldaten zu untergraben. Wenn man nun liest, dass gepanzerte belarussische Sonderpolizisten, die gerade Demonstranten zusammengeschlagen haben, von ebenfalls protestierenden Frauen umarmt werden, denkt man, da wiederhole sich diese revolutionäre Tradition. Aber es zeigt sich auch etwas Neues. Eine belarussische Feministin wird zitiert, Vika Biran: Viele Feministinnen, sagt sie, hätten diese Umarmungen kritisiert, wie auch dass die Perspektive queerer Menschen in den Reden der Oppositionskandidatinnen nicht angesprochen worden sei. Sie sieht nicht die revolutionäre Herkunft der Umarmungen. Und damit sieht sie nicht, was in Belarus geschieht, ohne dass jemand es geplant hätte: eine Erweiterung des feministischen zum gesamtgesellschaftlichen politischen Anspruch von Frauen. Zum Führungsanspruch sogar.
Nicht gänzlich, aber großenteils ist auch das nur eine Neuauflage, denn schon in den Revolutionen von 1789, 1871 (Pariser Commune), 1917 und 1968 sind feministische Kämpfe zunehmend auch allgemeinpolitische geworden. In letzter Zeit konnte man allerdings nicht den Eindruck haben, als ob sich daran noch jemand erinnerte. Und für die weibliche Führungsrolle finden wir überhaupt gar kein Vorbild.
Ein „Geschichtszeichen“ hat Kant nicht in der Französischen Revolution selber gesehen, sondern in der „enthusiastischen“ Reaktion, mit der sie von vielen in den deutschen Ländern begrüßt wurde. Über die Revolution als solche spricht er mit sehr viel Distanz. Mit ihren Schrecknissen, auch Irrwegen will er sich keinesfalls identifizieren. Es soll auch keine Rolle spielen, vorerst jedenfalls nicht, ob so eine Revolution gelingt oder scheitert. Für ihn zählt nur, dass die enthusiastischen Zuschauer dem Ziel der Revolution, der Republik, offenbar zugestimmt haben. Würde überall auf der Welt die Republik eingeführt, wäre das der Fortschritt. Er wäre es deshalb in seinen Augen, weil er Republiken für friedlich statt kriegerisch hält. Dass er nicht die Revolution heraushebt, sondern nur die zustimmende Reaktion, erklärt er damit, dass die Verwirklichung des revolutionären Ziels wünschenswert sei. Zu ihr komme es genau dann, früher oder später, wenn es festgehalten werde, was sich eben im Enthusiasmus der Zuschauer zeige. Zu Ende gedacht heißt das natürlich doch, dass schon die Revolution selber ein Geschichtszeichen ist. Denn sie wurde ja wegen des Ziels unternommen. Das Ziel war nicht neu, sondern hatte seine Vorgeschichte. Da waren schon Menschen gewesen, die es festgehalten hatten.
Es braucht Veränderung
Was in Belarus geschieht, ist vor Irrwegen wahrlich nicht sicher. Vielleicht werden sie längst beschritten. Nach der Orangen Revolution in der Ukraine nun eine weiße? Wie weit hat der Westen seine Hand im Spiel? Und wenn nicht, spekulieren die Frauen nicht auf ihn? Die Bestimmtheit, mit der sich die Tichanowskaja zur „eigentlichen Wahlsiegerin“ erklärt, gibt zu denken. Woher will sie es wissen, oder was meint sie genau? Dass Lukaschenko zwar nicht 80, aber sage 60 Prozent reale Zustimmung erhält, ist so unwahrscheinlich nicht. Denn auch in Belarus tickt die Provinz anders als die Hauptstadt, ein Zustand, den die staatlichen Repressalien konservieren. Wenn die EU jetzt Sanktionen über „ranghohe Unterstützer“ Lukaschenkos verhängt, ist das nur kontraproduktiv. Der Präsident droht nun Litauen mit Gegenmaßnahmen. Es verschärft die Situation, ohne dass die Frauen im Land davon etwas haben. Sie selbst fühlen sich wahrscheinlich noch unterstützt. Das alles vorausgesetzt, wecken sie dennoch unsere Sympathie. Denn ihre Ziele sind gut, die feministischen wie auch die allgemeinpolitischen. Ja, sie sollen in mehr als einem Wortsinn „die Hosen anhaben“!
Das aber führt zu der Frage, was man denn zu ihrer Beobachtung durch uns hier in Deutschland sagen soll. Wäre es nicht wünschenswert, dass die belarussischen Frauen nicht nur bewundert, sondern auch nachgeahmt werden? Die derzeitigen feministischen Kämpfe zielen auf Gleichberechtigung in einer Gesellschaft, die insgesamt der Veränderung bedarf. Ihre regierenden männlichen Wölfe, mit denen eine Angela Merkel heult, rennen tatenlos in die ökologische Katastrophe. Die im Durchschnitt größere Besonnenheit von Frauen in Katastrophensituationen ist längst bekannt, zum Beispiel aus Studien über Afrika. Sie sind auch hierzulande zur revolutionären Führung berufen.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.