Destruktiver Lichteinfall

Musikfest 2018 Werke von Pierre Boulez und Bernd Alois Zimmermann

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Pierre Boulez
Pierre Boulez

Foto: Jean-Pierre Muller/AFP/Getty Images

Ich habe noch drei Konzertabende nachzutragen. Das „Eröffnungskonzert“ am 1. September trug den Titel „Merci à Pierre Boulez“ und wurde von der Staatskapelle Berlin unter Daniel Barenboim bestritten. Sicher hat Barenboim, der seine Freundschaft mit dem Anfang 2016 verstorbenen großen Franzosen oft herausgestellt hat, für den Titel gesorgt, zu dem das Programm auch passte. Vor der Konzertpause erklang das Rituel in memoriam Bruno Maderna für Orchester in acht Gruppen (1974/75/87) von Boulez, nach ihr Le Sacre du printemps (1913) von Igor Strawinsky. Der Sacre war für Boulez ein prägendes Erlebnis gewesen. Er schreibt, er habe ihn während der Besatzung durch deutsche Truppen im Radio gehört. Etwas später in seinem Unterricht bei Olivier Messiaen ging es nicht zuletzt um Rhythmen und da hat ihn besonders die „Introduktion“ des ersten Teils, der „Anbetung der Erde“, vom Sacre interessiert. Deren komplexe Rhythmik, die sich bei durchsichtiger Wiedergabe gut nachvollziehen lässt, weil es noch eher leise zugeht, wurde von Barenboim präzise herausgearbeitet. Das Rituel wiederum, das Boulez „in Erinnerung“ an seinen 1973 verstorbenen Freund, den venezianischen Komponisten, geschrieben hatte, stand an diesem Abend wohl auch für seinen eigenen Tod.

Leider hat Barenboim dem Eindruck, den der Abend hätte machen können, unfreiwillig eher entgegengearbeitet. Er glaubte dem Publikum durch eine lange Einführung ins Rituel nützlich zu sein. Dabei suchte er nur die Kompositionstechnik zu erläutern. Jedesmal, wenn der Gong ertönt, fängt ein neuer Abschnitt an. Das war die Hauptbotschaft. Auf Boulez‘ Beziehung zum Sacre ging er gar nicht ein, behauptete stattdessen, die für den folgenden Tag angekündigte Sinfonie in einem Satz von Zimmermann stünde Strawinskys Sinfonie in drei Sätzen nahe. Auf mich hatte all das die Wirkung, dass ich zerstreut wurde, vor allem aber, dass ich das Rituel in seine Teile zerstückelt hörte. Ich kenne das Werk recht gut; erstens war es schon 2010 in der Philharmonie aufgeführt worden, zweitens habe ich oft die CD-Version gehört, in der Boulez das Rituel selbst dirigiert und zwar recht bald nach dessen Entstehung (1976, bei SONY). Diese Einspielung ist von unmittelbar erschütternder Wirkung, was man bei einer seriellen Komposition nicht unbedingt erwarten kann. Diese hier ist freilich auch vergleichsweise einfach oder hört sich jedenfalls so an. Ein sehr plastisches Motiv, Auftakt, langgezogener Akkord und Abklang aus zwischen einem und fünf Einzeltönen, wird in Varianten immerzu wiederholt. Manchmal sehr laut und an Schreie erinnernd. Martin Wilkening spricht im Programmheft von „Rufen, die das ganze Stück zu einer kollektiven Anrufung machen“.

Das Werk fängt aber leise an, mit einer Solo-Oboe begleitet von einem Schlagzeuger, bei deren Kantilene ich an den Anfang des dritten Aufzugs von Wagners Tristan und Isolde gedacht habe, obwohl der dortige Hirtenreigen vom Englisch Horn geblasen wird; natürlich soll vor allem, wie Barenboim in Erinnerung rief, an Maderna gedacht werden, der drei Oboenkonzerte komponiert hatte. Der Höreindruck beim Ablauf des Werks ist, dass die „Rufe“ anfangs vereinzelt erscheinen; haben sie sofort schon „rituellen“ Charakter, setzen sie sich doch erst allmählich zu einem einzigen Kondukt zusammen. Zur Wirkung des Rituellen trägt die Gestaltung als „fortwährender Wechsel“ von „Sang und Gegengesang“ bei, wie von Boulez selber ausgeführt; eine Zeitlang stellte er es frei, ob das Werk allein vom Podium aus dargeboten wurde oder die Instrumentalgruppen sich über den ganzen Konzertsaal verteilten; dann schrieb er vor, dass nur von der zweiten Möglichkeit Gebrauch gemacht dürfe. Ich weiß nicht, ob das eine gute Entscheidung war. Der Charakter des Antiphonen kommt so sicher gut heraus, vielleicht wird dem Werk aber etwas von seiner Wucht genommen. Man kann es allerdings jederzeit auch frontal auf sich wirken lassen, indem man die CD auflegt.

Was mir auch wieder aufgefallen ist: Es kommt bei der Avantgardemusik wohl noch mehr als bei der tonalen darauf an, ob und wie die Dirigenten aus dem Akkordverlauf, den die Partitur aufzeichnet, akzentuierend bestimmte Linien mehr und andere weniger herausheben. Ich glaube, dass Boulez, als er selber dirigierte, es getan und das Rituel dadurch zugänglicher gemacht hat.

Nun zu den beiden anderen Konzerten, in denen beidemale Werke von Bernd Alois Zimmermann (neben anderen, auf die ich hier nicht eingehe) auf dem Programm standen. Über sein musikalisches Konzept der „Kugelgestalt der Zeit“ und dessen Niederschlag in der bedeutenden 1968 entstandenen Komposition Photoptosis gab es in diesem Jahr schon einmal einen ausführlichen Beitrag von mir. Ich zitiere davon jetzt nur einen Teil - den Anfang und das Ende der damaligen Ausführungen -, das Andere möge man bei Interesse an Ort und Stelle nachlesen:

„‚Kugelgestalt der Zeit‘ soll heißen, dass Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft ineinanderfließen, was man im Sinn des salomonischen Predigers verstehen kann – ‚Es gibt nichts Neues unter der Sonne‘ -, aber auch im Sinn Augustins, für den gerade der musikalische Zeitablauf am besten veranschaulicht, was Ewigkeit sei: ein Ablauf von seinem Ende her betrachtet, so dass man in jedem Moment des Nachvollzugs weiß, wo das Moment hergekommen ist und wohinein es münden wird. Zimmermanns Musik steht für das eine wie für das andere.
Photoptosis, zu Deutsch ‚Lichteinfall‘, verläuft in langen Klangflächen, die leise und zerfasert beginnen und sich zur größten wirbelnden Dichte und Lautstärke am Ende entwickeln, wobei das Ende ein bloßer Abbruch ist; zuhörend weiß man, es geht in Wahrheit weiter. Die Mitte des Stücks ist eine Collage von teils aufdringlich hörbaren, teils eher versteckten Zitaten tonaler Musik, aber auch anderer Stücke von Zimmermann selbst. Ihr ist insgesamt ‚der liturgische Hymnus Veni creator spiritus zugrundegelegt‘ (Irmgard Brockmann). [...]
Interessant [...] der Unterschied der Steigerungen vor und nach dem Mittelteil: Vorher liegen über den sich steigernden Flächen klare lange Blechbläserfanfaren, die im Zusammenklang selbst schon wie ein sich allmählich zusammenballender Septimakkord wirken, obwohl die Musik noch vollkommen atonal bleibt, so dass der Mittelteil mit seinen direkt tonalen Zitaten wie deren Ziel und Auflösung klingt; und das ist er auch. Aber diese Auflösung der Spannung ist wieder nur eine andere Version derselben Spannung! Und im Schlussteil ändert sich an der Spannung nur, dass sie sich anderer, nun nicht mehr auf Tonales anspielender Mittel bedient. Man sagt sich zuletzt, dass auch diese Schluss-Spannung eine Auflösung ankündigt, für eine imaginäre Fortsetzung des Werks, die keine sein wird.
Das ist die ‚Kugelgestalt der Zeit‘: Es geschieht nichts Neues, aber das, was sich da immerzu wiederholt, so dass niemals Neues geschieht, ist der ständige Versuch, Neues geschehen zu lassen. Das ist Zimmermanns Interpretation von ‚1968‘: Was da geschah, gehörte zu den geschichtlichen Höhepunkten des Drangs zum Aufbruch. Auch er hat die Mauer nicht durchstoßen, wie man ja ohnehin weiß. Dass der Versuch aber ein für allemal widerlegt worden sei, kann man auch nicht mit gutem Grund behaupten. Denn letztlich bleibt unklar, ob die ‚Kugelgestalt‘ die Menschheitsgeschichte im Ganzen abbildet oder nur denjenigen Teil von ihr, den Marx als Vorgeschichte bezeichnet hat.“

Ich schrieb das im Januar nach einer von Heinz Holliger dirigierten Aufführung und habe auch hier den Eindruck, dass der Dirigent den Höreindruck wesentlich mitbestimmt hat, damals in dem Sinn, dass sich das Werk von seinem Mittelteil her auslegte. Diesmal – am Mittwoch dieser Woche – stand Donald Runnicles am Pult, der das Orchester der Deutschen Oper Berlin dirigierte. In seiner Interpretation dominierte die Steigerung der Dichte und Lautstärke der Klangflächen und die Bedeutung des Mittelteils trat daher etwas zurück. Ich weiß nicht, ob es ein Zufall ist, dass die Beschreibung des Werks im Programmheft entsprechend ausfiel: Das Ziel der Steigerung und „Verdichtung“ schon ersten Teil, schreibt Sebastian Hanusa, „ist ein Maximum an ‚Licht‘ und damit an Klangfarbe, das, ebenfalls in einer nochmals zunehmenden Verdichtung und Steigerung der Intensität, im dritten, finalen Abschnitt von ‚Photoptosis‘ ausgestaltet wird. [...] Zwischen diesen beiden Abschnitten ist eine Collage verschiedenster Zitate eingefügt. [...] Wie eine Traumsequenz unterbricht dieser Collageabschnitt das stringent sich steigernde Klangfarben-Crescendo der beiden anderen Teile und spinnte ein Netz inhaltlicher Bezüge, durch die nochmals auf einer völlig andersgearteten Ebene das umgebende Klanggeschehen kommentiert wird.“

Dass das Stück „wie abgeschnitten“ endet, hebt auch Hanusa hervor, fügt aber hinzu, es sei dann „ein Zustand kaum mehr zu ertragender Intensität“ erreicht. In der Tat, so hörte es sich an. Wesentlich war die Steigerung, an der ein bloßer „Traum“ in der Mitte natürlich nichts ändert, und eine Steigerung, wenn sie immer fortläuft, wirkt sich irgendwann zerstörerisch aus. Sie bereitet nichts vor, keinen Umschlag, sondern ist an sich selbst alle Wirklichkeit. Wir kennen andere Versionen des „Lichteinfalls“, etwa die von Carpaccio – ich ziehe jetzt Bildversionen heran, Gemälde -, wo das Licht gerade so durchs Fenster fällt, dass der heilige Hieronymus seine Schreibarbeit ausführen kann. Bei Vermeer zweifelt man schon sehr, ob ein Gott das Licht ausgesandt hat, das da etwa die Freude eines Mädchens über ihren Schmuck beleuchtet, den es wahrscheinlich ohne niederländischen Kolonialismus nicht besäße; doch leuchtet es gefällig, man kommt gar nicht auf den Gedanken, dass es anders sein könnte. Edward Hoppers Lichteinfall hat aber bereits etwas Brutales, manchmal jedenfalls. Die junge Frau, die auf dem Bild „Sommer“ vor die Tür ihres Hauses tritt, setzt sie sich nicht einer zumindest unfreundlichen Macht aus? Aber alle Sonnenstrahlen, die in solchen Beispielen ins oder aufs Haus leuchten, haben nach ein paar Stunden den Höhepunkt ihrer Intensität erreicht und werden dann schwächer; nicht so bei Zimmermann.

Man kann die Photoptosis ganz gewiss so auffassen, obwohl mir die andere Auffassung näher ist. Wahrscheinlich muss man auch sagen, die zerstörerische Version ist die „authentische“, von Zimmermann her gedachte, der ein grundpessimistischer Komponist war. Nur gilt auch hier, dass der Schöpfer eines Kunstwerks in dessen Interpretation nicht über anderen Interpreten steht. Man kann das Werk so deuten, dass es vor dem Hintergrund von „1968“ entstanden ist, wo selbst ein solcher Pessimist, weil er so offen für Eindrücke war wie jeder andere Künstler auch, den Aufbruchsversuch hat registrieren müssen. Ob er ein bloßer „Traum“ war oder eins der Vorspiele des irgendwann gelingenden Durchbruchs, entscheidet nicht Zimmermann.

Zimmermann nahm sich im August 1970 das Leben. Seine vorletzt Komposition, Stille und Umkehr (1970), gilt als mit der Photoptosis zusammengehörend und wurde von Runnicles im Anschluss daran aufgeführt. Hier haben wir eine ganz kleine, fast kammermusikalische Orchesterbesetzung und hören durchgehend fast nur die ständige Wiederholung eines einzigen Tons. Man kann sich des Gedankens nicht entschlagen, dass da einer seine Unlust, am Leben noch teilzunehmen, dokumentiert.

Von höchster Verzweiflung ist schon Zimmermanns Sinfonie in einem Satz erfasst, die am vorigen Sonntag vom Rotterdam Philharmonic Orchestra unter Yannick Nézet-Séguin in der selten gespielten ersten Fassung mit Orgel aus dem Jahr 1951 aufgeführt wurde. Man kann sie gewiss in eine Linie mit Strawinskys Sinfonie in drei Sätzen stellen, nur so aber, wie man sie auch mit Arthur Honeggers Symphonie liturgique (1946) vergleichen kann, weil das alles Werke sind, in denen sich das Entsetzen über den Zweiten Weltkrieg artikuliert. Zimmermanns Sinfonie ist ganz eigenständig. Er selbst schrieb 1956 über sie: „Die Sinfonie entstand in der Nachkriegszeit, in einer Zeit der Niederbrüche, in einer Zeit, die wohl wie kaum ein andere geartet war. Es gab kein Entrinnen; Ungeborgenheit, Unsicherheit, Angst: Symptome, die nicht zu übersehen waren, all das drängte zur Darstellung, zur Aussage. Stil war zwar nicht Nebensache, aber sekundär. Die Sinfonie stellt einen Abschluss in meinem Schaffen dar.“ Mit dem letzten Satz ist wohl mehr gesagt als nur dies, dass er weiter keine Sinfonien schrieb.

Man hörte es so, wie von Zimmermann entworfen; der Funke sprang über, obwohl das Werk avantgardistisch – nicht seriell aber – komponiert ist; das Orchester erhielt viel Beifall, sicher nicht nur deshalb, weil es erstmals bei den Festwochen auftrat. Als ein kleines Detail fand ich es interessant, in dieser Komposition das Motiv zu entdecken, das Allan Petterssons 7. Sinfonie (1966-67) beherrscht. - Am Montag folgt wahrscheinlich mein nächster Bericht.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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