Dialog mit der Gesellschaft

Musikfest Berlin Eine Umgebung, die es nicht gibt, Reaktionen, die es nicht gibt - Lutoslawski und Ligeti lassen sich von ihrer Darstellung nicht abhalten

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Pierre-Laurent Aimard
Pierre-Laurent Aimard

Foto: Fred Dufour/ AFP/ Getty Images

Ich fahre fort, die Konzerte vom Wochenende zu erörtern – immer unter der Frage, "wie sich das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft musikalisch abspiegelt". Drei Stücke hebe ich noch heraus, zunächst Chain II. Dialog für Violine und Orchester von Witold Lutoslawski. Es stand wie die schon besprochene Tondichtung Ein Heldenleben von Richard Strauss auf dem Programm des Eröffnungskonzerts am Samstag. Wie ich sagte, gilt Lutoslawski mein besonderes Interesse. Ich will später auch zur "technischen" Seite seiner Kompositionsweise etwas sagen. Sie ist übrigens in den wieder sehr guten Programmheften des Musikfests hinreichend dargelegt. Hier aber gehe ich von dem aus, was man im Heft zum Eröffnungskonzert liest, dass nämlich in Chain II der "affektive Gehalt hervortritt". Will sagen, man braucht eigentlich nicht zu wissen, wie es gemacht ist, da man die Musik auch ohne das versteht.

Es ist wichtiger, darauf hinzuweisen, wieder mit dem Programmheft, dass, "als 'Chain 2' 1984/85 entstand, [...] in Polen zwar das Kriegsrecht formal schon wieder aufgehoben, ein Ausweg aus der Konfrontation von Staatsmacht und Bevölkerung aber noch lange nicht in Sicht [war]". Diese Situation war durch die Unterdrückung der Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc entstanden. "Für Lutoslawski blieb es eine Zeit der inneren Emigration, er nahm an keinen öffentlichen Ereignissen mehr teil und lehnte alle staatlichen Ehrungen ab. Der 'Dialog', in den der Einzelne und seine Umgebung in 'Chain 2' eintreten, existierte um ihn herum nicht." In dieser Situation ging es Lutoslaswski nicht mehr darum, kompositorisch zu experimentieren, sich um eine neue musikalische Sprache zu bemühen und dergleichen mehr. Die "Wende" von 1989/90 warf schon Schatten voraus. Das war eine Zeit der Reflexion, welche man mit Worten beziehungsweise musikalischen Verfahren durchführte, die nun eben bis dahin gelernt oder erreicht waren, ja die eher noch vereinfacht wurden um der Deutlichkeit willen. Man kann dies Phänomen etwa auch bei Ligeti beobachten, worüber ich schon einmal geschrieben habe. Von Lutoslawski lesen wir, er habe sich "spätestens um 1980 auf stärker hervortretende Linearität" orientiert, "die mit einer Reduktion der harmonischen Dichte einhergeht".

Jedenfalls geht es um den Einzelnen und seine gesellschaftliche Umgebung, und das ist ja unser Thema. Das Stück wird als "Dialog" bezeichnet und so hört es sich an. Als Konzept für ein Solokonzert ist das schon etwas ungewöhnlich, man fragt sich auch gleich, wie das denn gehen soll: Spricht da ein Individuum mit der ganzen Gesellschaft? oder nur mit irgendwelchen anderen, die zufällig herumstehen? Das Zweite wäre möglich, aber uninteressant, das Erste interessant, aber unmöglich. Es geht aber doch. "Dialog" muss nicht wörtlich genommen werden. Es ist ja wahr, dass sich mir verschiedenste Situationen zum Allgemeinbegriff oder -gefühl eines gesellschaftlichen "Klimas", in das ich mich geworfen sehe, verdichten können. Wenn ich zum Beispiel Situationen von der Art häufiger erlebe, dass ein Bus die Tür schließt und losfährt, obwohl ich gerannt bin und vor ihr stehe, oder dass ich im Fachgeschäft ein Ersatzteil genau bezeichne und kaufe, ohne noch mal draufzuschauen, und zuhause feststelle, man hat mir einfach irgendwas verkauft, dann male ich mir den "Dialog" aus, der zwischen mir und "der Gesellschaft" stattfindet.

Ich muss es nicht tun. Ich kann es auch so abbilden, dass ich als Egomane auf andere Egomanen stoße und sich dann irgendwelche Kampfszenen ereignen. Nach dem Motto "There is no such thing as society". Aber wahrscheinlich ist es doch richtiger, zwischen den Einzelnen und der Gesellschaft zu unterscheiden. Die Gesellschaft, schreibt Marx irgendwo, ist nicht die Summe der Individuen, sondern besteht aus den Verhältnissen, die sie untereinander eingehen. "Die Verhältnisse" sind es, die sich mir mitteilen.

In Chain 2 teilt sich eine Gesellschaft mit, wie man sie sich wünscht. Sie ist nicht der Gegenpol zum Individuum, dergestalt dass beide Verschiedenes fordern oder verteidigen und sich dann erst einigen müssen auf einer Linie, die angesichts des Kräfteverhältnisses kaum in der Nähe des Individuums verlaufen würde. Sie ist eher ein Resonanzraum, doch ein aktiver. Eine aktive ausgedehnte Substanz. Je nachdem, was ich sage und tue, fühlt sich der Raum an der oder jener Stelle angesprochen: setzt sich zu mir ins Verhältnis, oder mit mir auseinander, indem er sich dort stärker faltet. Er verdeutlicht sich insgesamt, doch mit Hervorhebung der Lokalität, die ich berührt habe. Er bleibt fremd und, natürlich, überlegen. Doch ohne mich zu bedrohen. Sein Grundgestus ist, mir nicht zu nahe zu kommen, auch dort nicht, wo ich ihn berühre und er sich faltet: damit ich auch selbst meinen Raum habe. Dabei signalisiert er, dass er mir zuhört. Er will aber auch, dass ich ihm zuhöre, denn er selbst kann sehr wohl bedroht sein. Wenn er mir das mitteilt, ist klar, dass nicht ich es bin, der ihn bedrohen könnte. Schwach wie ich bin! Aber wenn es darum geht, die Bedrohung abzuwenden, wen sonst sollte er um Hilfe bitten? Und natürlich helfe ich, denn wenn er der Bedrohung erliegt, bin ich selbst an der Reihe.

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Am Sonntag wurde Wolfgang Amadeus Mozarts Konzert für Klavier und Orchester G-Dur KV 453 aus dem Jahr 1784 aufgeführt. Pierre-Laurent Aimard spielte am Flügel und leitete zugleich das Chamber Orchestra of Europe. Mozarts Musik ist "galant" und geht darin wie auch in den musikalischen Formen, die sie beachtet, das heißt einhält, vom Gesellschaftlichen zum Individuellen statt umgekehrt. Doch das Individuelle zeigt sich, wie es ist, und bestimmt den Charakter des Ganzen. Es "färbt" die Substanz, in der es sich bewegt. Seltsame Melancholie bricht immer wieder aus dem heiteren Himmel hervor. Die stille Feierlichkeit des Andantes hat fast etwas Erschreckendes. Seltsam ist vor allem, dass man das Nebeneinander von Melancholie und galanter Heiterkeit nicht als Widerspruch empfindet. Es ist übrigens nicht auf Solopart und Orchester verteilt.

Außerdem stand György Sándor Ligetis Kammerkonzert für 13 Instrumentalisten (1969/70) auf dem Programm. Ligetis Sound ist in der Entstehungszeit ziemlich bekannt geworden, weil Stanley Kubrik ihn in seinem epochalen Film 2001 - Odyssee im Weltraum ausgiebig zitiert. Charakteristisch ist eine Polyphonie ganz dicht beieinander liegender Linien, aus deren Zusammenklang nicht, wie man denken könnte, Kakophonie resultiert, sondern eher der Eindruck, in eine fremde zukünftige Welt versetzt zu sein und von dort aus gleichsam in die gegenwärtige zurückzuschweben. Mit andern Worten ist das eine Musik, die zu evozieren scheint, nicht was möglich wäre, denn sie bleibt vollkommen unbestimmt, wohl aber dass es Möglichkeiten gibt. Man könnte sagen, sie übersetzt den elektronischen Sound in den Klang des Zusammenspiels herkömmlicher Instrumente. Mit einer Engführung von Linien beginnt auch das Kammerkonzert. Der erste der vier Sätze ist "Corrente (Fließend)" überschrieben. Hier spricht sich kein Individuum, doch auch nicht die Gesellschaft aus. Was man hört, sind laute Ereignisse, die unerwartet aus dem Fluss emportauchen, um gleich wieder zu versinken.

Der Eindruck, dass diese Musik gar nicht "subjektiv" ist, verstärkt sich im dritten Satz, dessen Überschrift schon, "Movimento preciso e mecanico", an eine Maschine denken lässt. Wie ein Tanz taumelnder Maschinen hört es sich auch an. Sie ist aber doch "subjektiv", denn es gibt ja noch den zweiten und vierten Satz. Der zweite Satz reagiert auf den ersten mit so viel Ausdruck und Gefühl, wie man nur wünschen kann: Dessen ist auch Ligetis Musiksprache fähig. Ebenso reagiert der vierte Satz auf den dritten mit einem "Presto", aus dem der menschliche Zuhörer seine Leidenschaft heraushört. Das Ganze ist eine bemerkenswerte Adaption der klassischen Satzreihenfolge von Symphonien oder eben Konzerten. Den menschlichen Titanenkampf, der sich im ersten Satz äußerte, gibt es nicht mehr. An dessen Stelle ist etwas getreten, das man gar nicht beeinflussen kann. Hier geht es ums Hinhören. Darauf folgt aber im zweiten Satz die Reflexion. Der dritte Satz war klassisch das Scherzo, das vom Muster des Gesellschaftstanzes ausging. Hier tanzen stattdessen Maschinen. Auch das muss man sich erst einmal anhören und kann dann erst reagieren. Man kann es aber wirklich. Der vierte Satz bleibt die "subjektive" Antwort nicht schuldig, indem er kein bloßer Ausklang ist. Er stellt die ganze Sache, die kopfgestanden hat, vom Seins- und Maschinenkopf auf die menschlichen Füße zurück.

Hier stehen sich nicht Individuum und Gesellschaft gegenüber, sondern das gesellschaftliche Individuum, oder die individualisierte Gesellschaft, schaut ihren Objektivationen ins Auge, damit keine schlimme "Entfremdung" eintritt. Je mehr Individuum und Gesellschaft getrennt wären, desto mehr könnte sich das Individuum schon den bloßen Versuch sparen. Insgesamt eine schwierige Gemengelage. Ligetis Komposition legt nahe, dass Individuum und Gesellschaft im gesellschaftlichen Individuum dasselbe sein müssen, wenn es gilt, der "Entfremdung" standzuhalten. Lutoslawskis Komposition hat unterstrichen, dass es schlimm wäre oder ist, wenn individueller Raum und gesellschaftlicher Raum sich nicht deutlich voneinander unterscheiden. Es ist zweifellos beides wahr.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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