Die abgeworfenen Worte

Ultraschall 2020 Warum eine Gesellschaft ändern, die sowieso schon „alles“ ermöglicht? Musikalische Spurensuche

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Jörg Widmann (Archivbild)
Jörg Widmann (Archivbild)

Foto: imago images/Stefan M Prager

Ultraschall ist ein Berliner „Festival für neue Musik“, das sich „[s]eit über zwanzig Jahren [...] als ein Forum [versteht], zentrale Strömungen und wesentliche Entwicklungen dieses Teils der Gegenwartskultur abzubilden, zu befragen und in neue Zusammenhänge zu stellen“. Interessant wird es, wenn neue Musik dann ihrerseits zentrale außermusikalische Strömungen befragt. In gewisser Weise tut sie wohl nie etwas anderes, wenn auch noch so indirekt, doch kann sie es auch ganz unmittelbar tun, in der Oper zum Beispiel. In diesem Jahr bietet Ultraschall das „Elektronische Musiktheater Also sprach Golem nach Motiven von Stanislaw Lem“, in dem sich, so lesen wir weiter im Vorwort des Programmbuchs, „Kaj Duncan David und Thomas Fiedler mit der Herausforderung durch eine übermächtige Künstliche Intelligenz auseinandersetzen – also mit einer für unsere Zukunft und den gesellschaftlichen Zusammenhalt fundamentalen Frage“. Die Uraufführung am Samstag ist schon vollkommen überbucht, wahrscheinlich ist auch die Aufführung am Sonntag nahezu ausverkauft. Ich werde von ihr am kommenden Donnerstag in der Printausgabe des Freitag berichten. Von drei weiteren Konzertabenden berichte ich hier. Das Festival endet am Sonntag mit vier Veranstaltungen, am Mittwoch hat es mit dreien begonnen.

Darunter dem Eröffnungskonzert im Großen Sendesaal des rbb, auf dem Programm standen Werke von Dieter Ammann, Sarah Nemtsov und Jörg Widmann. Leider kamen dann nur Nemtsov und Widmann zum Zuge, weil Marc Albrecht als Dirigent des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin kurzzeitig erkrankt war, Johannes Kalitzke von einem Tag zum nächsten einsprang und die Probezeit dann nicht ausreichte. Schade, ich hätte gern auch Ammann gehört, von dessen Stück glut für Orchester (2014-16) er selbst sagt, es gehe um „Leidenschaft des Suchenden vs. Flut der Klangmöglichkeiten“. Wir sehen uns auch da an eine zentrale außermusikalische Strömung erinnert, ist es doch geradezu ein Grundzug unserer Gesellschaften, immer mehr „Möglichkeiten“ vorgelegt zu bekommen, ohne dass man noch weiß, was man mit ihnen denn anfangen soll. Schauen Sie auf Ihr Smartphone: Zu jedem Winkel der Welt und ihrer Geschichte hätten Sie Zugang, aber was werden Sie wählen? Die Kriterien dafür wachsen nicht mit. Schon Herbert Marcuse hat davon gesprochen. Es scheint unmöglich, weil in jedem Wortsinn überflüssig, eine Gesellschaft zu ändern, die sich selbst das Gesicht gibt, nur aus Möglichkeit zu bestehen.

Vielleicht war es die disponierte Nähe zu diesem unaufgeführten Stück, dass ich dessen Problematik in Widmanns Violinkonzert Nr. 2 (2018) wiederfand und es geradezu als Illustration erlebte. Er hatte es für seine Schwester geschrieben, Carolin Widmann, die bei der Uraufführung in Tokyo und auch jetzt wieder in Berlin die Solistin war. Vor der Aufführung befragt, wie es bei Ultraschall gute Tradition ist, berichtete sie von den Komponierproblemen des Bruders. Wenn kaum noch Zeit bleibe, komme er in Fahrt und so sei es auch hier gewesen. Begonnen habe er mit dem mittleren der drei Sätze, das Übrige habe sich dann ergeben. Nun, den Ablauf konnte man anschließend gut nachvollziehen. Die erste Hälfte des Mittelsatzes, überschrieben „Romanze“, ist wunderbar. Die Violine beginnt allein mit einer Melodie, die tatsächlich etwas von einem Kinderlied hat, wie Carolin Widmann sie charakterisierte. Sie hat es wundervoll gespielt. Ich saß in der zweiten Reihe nicht mehr als zehn Meter von ihr entfernt, und doch gelang ihr ein brüchiger Sound, der mich wie aus ganz weiter Ferne erreichte. Wie man das so spielen kann, keine Ahnung. Die Melodie war tonal und auch die Orchesterbegleitung, die dann einsetzte, fügte tonale Gesten be- und verfremdend ineinander. Nicht mehr akustisch, aber vom Gehalt her war auch das weit weg, Schatten einer verlorenen Vergangenheit. Ich habe es als apokalyptisch empfunden.

Das war Inspiration, aber wie mir schien, konnte Jörg Widmann nichts weiter damit anfangen. Der nach dem zweiten Satz komponierte erste, gut, das war Hinführung, „[e]ine Suche nach Klängen, Gesten, Gestalten, Zusammenhängen“, wie der Komponist sagt. Doch der zweite, nach seinem großartig-erschreckenden Beginn, verflachte dann zunehmend, und der dritte gar war ein ziemlich konventionelles Kehraus, auch in der Linienführung sogar, Läufe aufwärts bildeten das Thema und wurden von Läufen abwärts beantwortet. Gewiss konnte die Solistin ihre Kunst entfalten, sie wurde dann auch gebührend gefeiert, aber schon wie dieser Satz einsetzte, mit einer Virtuosität ihres Instruments, das an Zigeunermusik à la Sarasate nicht nur erinnerte, sondern ihr direkt hätte entnommen sein können, da fragte man sich schon, was das denn sollte. Und so konnte ich auch die wenigen Buhrufer, die sich in den allgemeinen Beifall mischten, ganz gut verstehen.

Ratlos, indessen, sind wir ja alle. Warum soll es einem Komponisten anders gehen als uns?

Ein richtig gutes Stück war Nemtsovs „dropped.drowned für großes Orchester und [elektronisches] Zuspiel“ (2017). In nur 18 Minuten wurden ganz verschiedene Charaktere markant umrissen und präzise ineinandergefügt. Federnde Rhythmik musikalischer Tupfer am Anfang, dann der flächige Mittelteil mit vielfältigem Untergrund, über dessen radikale, direkt zu Herzen gehende Leidenschaft ich erstaunt war. Erstaunt, weil diese Musik an Tonalität gar keine Konzession machte. Leidenschaft kann eben auch jenseits, oder diesseits, der ontologischen Tradition entstehen und ist dann eine andere. Es muss keine „Suche“ sein wie bei Ammann. Nemtsov stellt gleichsam nur fest: nicht Möglichkeiten sondern Tatsachen. Im dritten Teil ihres kurzen Stücks kommt es nach und nach zu etwas wie einem rhythmischen Klatschen der Streicher und des ganzen Orchesters. Das ist wie eine Aufforderung ans Publikum. Dabei geht es nicht um Übermut, im Gegenteil. Das Stück bezieht sich auf einen Text der neuseeländischen Schriftstellerin Janet Frame, in dem es heißt: „Die Menschen fürchten die Stille, weil sie transparent ist; wie klares Wasser, das jedes Hindernis offenbart – das Benutzte, die Toten, die Ertrunkenen, die Stille offenbart die abgeworfenen Worte und Gedanken, die hereingekommen sind, um ihren klaren Strom zu verdecken.“

Wie Nemtsov vor der Aufführung erzählte, wurde Frame fälschlich für verrückt angesehen. Man wollte ihr eine Gehirnoperation aufzwingen. Bei Wikipedia kann man nachlesen, dass sie acht Jahre in Nervenheilanstalten verbrachte und dort „mit 200 qualvollen Elektroschocks ‚therapiert‘ wurde“. Der Operation entging sie nur, weil sie noch rechtzeitig einen Literaturpreis erhielt.

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Das Konzert wurde live übertragen, es wird nochmals ausgestrahlt am 1. 2. 20.04 Uhr in rbb Kultur.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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