Die Aus-dem-Nichts-Sage (3)

Habermas Bevor Aussagen empirisch bewährt und logisch verknüpft werden können, müssen sie erst einmal überhaupt vorhanden sein
Aussagen 'verstellen' etwas, behauptet Heidegger
Aussagen 'verstellen' etwas, behauptet Heidegger

Foto: imago images/sepp spiegl

Die wissenschaftliche Beobachtung, erinnerte ich im zweiten Teil meiner kleinen Serie, kommt „nicht aus dem nowhere, sondern aus der Theorie im engeren oder weiteren Sinn, wir können auch formulieren, aus einer Suche oder Frage“. Habermas schreibt im Gegenteil, „jeder Wissenschaftler“ müsse sein jeweiliges Objekt aus dem „fiktive[n] Nirgendwo [...] betrachten“. Ich habe unterstrichen, wie ungern er es tut, und will das noch deutlicher machen. Auf den eben zitierten Satz auf Seite 472 des ersten Bandes folgt bereits der Versuch einer Distanzierung: Man müsse, anders als der „Szientismus“, im Auge behalten, dass die Wissenschaft trotz ihres ortlosen Blicks „im sozialen Raum und in der historischen Zeit“ verankert sei. Diese Passage ist widersprüchlich, denn es kann doch nur entweder von einem Ort bzw. „Raum“ her oder ortlos geblickt werden, tertium non datur. Habermas scheint das einzuräumen, denn auf Seite 746 f. des zweiten Bandes lesen wir, dass es in der Perspektive des Pragmatismus, der philosophischen Strömung, der er selbst sich zurechnet, „sinnlos ist, für die Objektivität der Erkenntnis einen ortlosen Standpunkt oder Blick von nirgendwo zu postulieren. Vielmehr gehört es zum Begriff der Erkenntnis, dass sie ‚unsere‘ Erkenntnis ist.“ Doch gleich fügt er hinzu, dies sei das „Naturalismusproblem“ und es bleibe ungelöst. Das Postulat wird von seiner Sinnlosigkeit nicht ungeschehen gemacht.

Wie kann es aber sein, dass vom Nichts-Ort her zu blicken sinnlos ist und er dennoch eingenommen werden muss? Wir bewegen uns in einem blinden Fleck. Er ist nicht Habermas vorzuwerfen. Es ist vielmehr sein Verdienst, ihn umkreist und damit doch erhellt zu haben. Ich will ihn auch von einer andern Seite noch kennzeichnen. Wir haben mit Habermas auf die „Achsenzeit“ zurückgeblickt. In ihr begegneten wir Sokrates, mit dem für Habermas die Philosophiegeschichte beginnt. Sokrates hat fragend philosophiert. Mein Beispiel war der Gorgias-Dialog. Wenn wir nun feststellen, dass in jeder wissenschaftlichen Beobachtung Theorie steckt und sie also nicht nur sinnliche Wahrnehmung, sondern immer auch rationales Fragen ist, was Habermas natürlich weiß, fragen wir uns auch, warum er nicht den Bogen vom sokratischen Fragen zur fragenden wissenschaftlichen Beobachtung geschlagen hat. Diese hätte er dann nicht im Nichts situieren müssen und statt eines „Naturalismusproblems“ gäbe es nur das Problem einer Ideologie, gegen deren Vereinnahmung der Naturwissenschaft man sich wehren würde.

Mehr noch, der ganze Dualismus von wissenschaftlichem „Betrachten“ und „lebensweltlicher“ Kommunikation fiele in sich zusammen. Von der letzteren heißt es am Ende des zweiten Bandes, Intersubjektivität setze die Fähigkeit und Bereitschaft voraus, sich in die oder den jeweils andere(n) hineinzuversetzen – wechselseitige Perspektivenübernahme. Was ist das, wenn nicht die Berücksichtigung der Fragen des Gegenübers, seiner Fragestellung? Aber auch jede Wissenschaft bewegt sich in einer solchen. Jede „Normalwissenschaft“, wie ein Begriff dafür lautet. Der Wissenschaftshistoriker Thomas S. Kuhn hat ihn geprägt, als er zeigte, dass sie immer auch eine Kehrseite hat, die „wissenschaftlichen Revolution“. Eine Normalwissenschaft wird revolutionär begründet, indem eine andere, die vorausging, ihr Ansehen verliert. Wie Kuhn zeigt, geschieht das, indem wissenschaftliche Revolutionäre andere Fragen stellen, als bis dahin gestellt wurden. Galilei zum Beispiel fragt nicht mehr nach dem „natürlichen Ort“, zu dem die Bewegung eines Körpers hinstrebe. Das hatten seine aristotelischen Vorgänger getan. Von Kuhn könnte gelernt werden, wie sich sokratische Methode und neuzeitliche Naturwissenschaft vereinbaren.

Indem die neuen revolutionären Fragen sich durchsetzen, beginnt die neue normalwissenschaftliche Formation. Wer in sie eintritt, hat sich in ihre Fragestellung hineinzuversetzen, die gemeinsamen Fragen des ganzen wissenschaftlichen Intersubjekts. Das aber wird meistens gar nicht bewusst, denn der Novize findet gleich die Vielzahl der Antworten vor, die wiederum als solche nicht mehr erscheinen, weil die Etablierung des gültigen Fragens längst geschehen ist; dieses ist so selbstverständlich geworden, dass es für alle Beteiligten Zeitverschwendung wäre, sich mit ihm noch eigens zu befassen. Was aber sind Antworten, die nur noch Antworten sind, ohne dass die Fragen, auf die sie Bezug nehmen, noch mitgedacht werden? Es sind „Aussagen“.

Jetzt beginnen wir der Sache auf den Grund zu kommen. Eine Aussage für sich genommen, oder ein ganzes Aussagen-System – eine Theorie -, ist als Satz oder Satzgefüge nur dadurch charakterisiert, dass sie bewährt oder unbewährt ist oder der Bewährung noch harrt. Dieser Kontext ist es gerade, in der die Beobachtung, die nach Meinung mancher aus dem Nichts kommt, ihre so wichtige Rolle spielt. Was beobachtet wird, entscheidet nämlich über den Bewährungsgrad. Wenn es sich um eine Theorie handelt, brauchen nur einige ihrer Aussagen bewährt zu sein, die andern müssen dann logisch zwingend mit ihnen zusammenhängen. Davon handelt die Aussagenlogik. Auch wenn in einer „Normalwissenschaft“ eine neue Theorie entsteht, geschieht das überwiegend so, dass sie aus schon vorhandenen Aussagen anderer Theorien erschlossen wird. Schon Descartes hat das formuliert: Da „alle Dinge, die unter die Erkenntnis der Menschen fallen können, untereinander in derselben Beziehung stehen“, könne es, „wenn man nur [...] die Ordnung beibehält, die erforderlich ist, um die einen von den anderen abzuleiten, [...] keine noch so entfernten Erkenntnisse geben [...], zu denen man nicht gelangte, noch auch so verborgende, die man nicht entdeckte“. Das ist alles begreiflich, ja zwingend, doch darf man Eins eben nicht vergessen - dass die Aussagen, bevor sie empirisch bewährt und logisch verknüpft werden können, erst einmal überhaupt vorhanden sein müssen.

Wo kommen sie denn her? Wenn man nur sagt, aus anderen Aussagen durch logische Ableitung, ist das nur eine Problemverschiebung. Nein, sie gehen letztlich auf „erste Aussagen“ einer normalwissenschaftlichen Formation zurück, die ihrerseits Antworten auf die neuen Fragen sind, die in einer wissenschaftlichen Revolution gefunden wurden und sich durchgesetzt haben.

Der unhinterfragte Hintergrund

Man kann das alles abkürzen und grundsätzlich formulieren, dass Aussagen Antworten sind. Sie fallen nicht vom Himmel! Doch ist das Konsens? Es gibt eine Mentalität, die sie behandelt, als fielen sie vom Himmel. Ich denke an die berühmte Wissenschaftstheorie Karl R. Poppers, auf die sich einst ein Bundeskanzler berief, Helmut Schmidt, SPD. (Der den seinerzeitigen Jusos vorwarf, sie hätten eine „Krise des Gehirns“, weil sie den Kapitalismus hinterfragten; ein Schelm, wer da einen Zusammenhang sieht.) Wie Aussagen zustande kämen, sei völlig gleichgültig, behauptete Popper, nur wie wahr sie seien, müsse streng geprüft werden. Kuhn, der von der wissenschaftlichen Revolution sprach, trat auf, als Poppers Ansehen auf dem Zenit stand. Da hatte der einen schweren Stand. Es kam zu einer großen Debatte zwischen seinen und Kuhns Anhängern, in der es insbesondere um die Frage ging, ob, wenn wirklich eine Wissenschaft in einer wissenschaftlichen Revolution gründe, das nicht heiße, dass sie „irrational“ fundiert sei und diese „Irrationalität“ sich womöglich irgendwie auf sie selbst übertrage.

Ich lasse die Debatte auf sich beruhen, zumal Habermas kein Interesse für sie aufbringt („das Kuhn’sche Bild vom kontingenten Auf und Ab der wissenschaftlichen Paradigmen“, heißt es knapp und falsch in der Einleitung), will aber darauf hinweisen, dass sich hier von neuem zeigt, dass es in der Wissenschaft nicht grundsätzlich anders zugeht als im „lebensweltlichen“ Alltag. In unserm politischen Verhalten zum Beispiel tauschen wir oft Aussagen aus, bewegen uns in ihnen, stellen sie gegeneinander, ohne mitzudenken, dass es Antworten auf Fragen sind, die vielleicht revolutioniert werden sollten. Eine von der CDU geführte Koalition soll regieren! Nein, von der SPD geführt! Dabei wäre vielleicht die Frage „CDU oder SPD?“ als solche zurückzuweisen. Sie blieb lange verdeckt, weil es so selbstverständlich schien, dass sie gestellt werden musste. Habermas‘ Begriff der „Lebenswelt“ fokussiert gerade diesen Umstand: Es gibt einen unhinterfragten „Hintergrund“ unseres alltäglichen Denkens, Sprechens und Handelns; wir könnten ihn thematisieren, tun es aber in der Regel nicht. In der Wissenschaft, abgesehen davon, dass sie nicht alltäglich ist, geht es exakt genauso zu. Habermas aber blendet das aus. Oft spricht er vom Verhältnis der Lebenswelt zu ihrem „fraglosen“ Hintergrund, doch davon, dass auch jede Wissenschaft einen hat, außer es findet gerade eine wissenschaftliche Revolution statt, ist keine Rede. Denn Wissenschaft ist für Habermas nur Aussagenlogik, Kohärenz von Aussagen oder, wenn sie unvereinbar sind, Streit zwischen solchen, in welchem Fall sie mit Gründen verteidigt oder angegriffen werden.

An der Achsenzeit hätte er entdecken können, dass Aussagen Antworten sind. Es ist ihm nicht gelungen. Am Gorgias-Dialog zum Beispiel: In der Aussage „Ich bin mächtig, weil ich ein guter Redner bin“ sieht Sokrates eine Antwort auf die verhüllte, dem Aussagenden unbewusste oder von ihm verdrängte Frage, was gut ist. Habermas ignoriert vollkommen, dass die platonischen Dialoge, in deren frühesten noch Sokrates zu Wort kommt, aus Fragen und Antworten bestehen; für ihn läuft schon hier nichts weiter ab als Aussagenlogik. Dabei hat er doch selbst das Engagement, das heißt die suchende, fragende Haltung der Exponenten der Achsenzeit hervorgehoben. Was sind Antworten, habe ich oben gefragt, die nur noch Antworten sind, ohne dass die Fragen, auf die sie Bezug nehmen, noch mitgedacht werden? Es sind Aussagen, war die Antwort. Aber was sind umgekehrt Aussagen, die nur noch Aussagen sind? Sie sind einfach da, so dass man meinen könnte, sie kämen nicht aus Fragen, auf die sie die Antwort sind, sondern – aus dem Nichts.

Dem view from nowhere entspricht die Aus-dem-Nichts-Sage. Man kann sich das vorstellen wie die Kapitalformel bei Marx: G-W-G‘, das heißt der Kapitalist nimmt G(eld) auf, kauft damit die zur Produktion erforderlichen W(aren), also Maschinen, Rohstoffe, Arbeitskraft; diese Produktionsfaktoren multiplizieren sich zu Konsumwaren, aus deren Verkauf er mehr (G)eld zieht, als er anfangs aufnahm: G‘. Dies Mehr erklärt Marx aus dem Überschuss des von der Arbeitskraft geschaffenen Werts über ihren eigenen. In der Formel G-W-G` wird es nicht sichtbar; die scheint widerzuspiegeln, dass der Kapitalist gleichsam eine Multiplikationsaufgabe gekauft hat, die sich von selbst löst, und daher auch Eigentümer dieser Lösung ist; um aber sichtbar zu machen, was wirklich passiert, schreibt Marx G-W..W-G‘. Das heißt, in der Mitte der Formel ist etwas verborgen. Die Punkte sind die Spur davon, was die Arbeitskraft im Produktionsprozess bewirkt. Und nun sehen wir, dass auch die „Aussage“ etwas verbirgt. Wir sollten eigentlich Aus..sage schreiben. Die Punkte stünden für die Antwort, als welche eine Aussage in die Existenz tritt. Diese Genese einzuräumen ist aber offenbar schwierig. Ich habe es oben an Popper gezeigt und will es nun an Habermas zeigen. Für Habermas ist die Aussage nicht Aus-der-Antwort- sondern Aus-dem-Nichts-Sage, ganz wie er in der wissenschaftlichen Beobachtung den view from nowhere meint sehen zu müssen.

Der Unterschied ist, dass er letzteres ungern tut, das Erste aber mit vollem Einsatz. Von der Aussage und ihrer Logik darf es keine Abweichung geben, da ist Habermas kompromisslos, kann sogar intolerant sein. Deshalb muss er den davon untrennbaren View ja hinnehmen, obwohl ihm, anders als der Aussage, die Falschheit auf die Stirn geschrieben steht. Aber man darf das alles nicht falsch verstehen. Denn wir sehen Habermas bei der Arbeit, seine Ausgangsfrage zu beantworten, ob es noch „uns selbst“ betreffende Inhalte des „Glaubens“ geben könnte, die ins säkulare „Wissen“ zu übersetzen wären. Es ist nun mal so, die Wissenschaft, besonders die hegemoniale Naturwissenschaft blickt über den Tellerrand der Aussage nicht hinaus: Da muss auch Habermas von dort her blicken. Dass er trotzdem auf den „Glauben“ blickt, ist die Arbeit, an die er sich macht. Eine paradoxe Arbeit! - da der „Glaube“ kein Aussagen-System ist, vielmehr ein Akzeptieren von Antworten, die sich in Aussagen gar nicht verwandeln lassen. Das gilt sogar auch für die „Dogmen“, die ohnehin kaum zeigen, was „Glauben“ ausmacht - sind sie doch nur ein Versuch, es zu sichern -, aber unabhängig davon können sie nicht Aussagen sein aus dem einfachen Grund, dass ihre Wahrheit nicht geprüft werden kann, nicht wissenschaftlich jedenfalls. Habermas hält, sehr nachvollziehbarerweise, den Anspruch der wissenschaftlichen Aussage aufrecht, bezieht ihn aber trotzdem auf Antworten, die der Umwandlung in Aussagen unfähig sind, was er auch weiß. Dies Paradox zu wagen ist schon eine Leistung. Dass er dann nicht selten gereizt auf die Grenzen der Aussagenlogik pocht, ja sich hinter sie zurückzieht, wen wird es wundern? Er zieht sich aber erst zurück, nachdem er sich zuvor ins fremde Land hinausgewagt hat.

Wie man mögliche Erkenntnisse entfaltet

Für den Leser bedeutet es Gewinn. Und nicht nur für den religiös gestimmten, da ja keineswegs nur die Religion Antworten hervorbringt, die sich in wissenschaftliche Aussagen nicht umwandeln lassen. Hat man nicht auch von der Philosophie gesagt, sie bewege sich am Rand des Sagbaren, ja sei dazu da, es zu tun? Es ist nicht jedermanns Ansicht, aber sie gehört dazu. So gesehen kann auch jemand, der sich für Religion gar nicht interessiert, von Habermas lernen, wie man Antworten, die nicht aussagefähig sind, trotzdem ernst nehmen und ihren Gehalt erwägen kann. Wer verfolgen will, wie Habermas seine selbstgestellten Fragen auf mehr als eintausendsiebenhundert Seiten beantwortet, kann sicher sein, dass man ihn oder sie nicht hinter die Grenzen der Aus-dem-Nichts-Sage wegsperrt, auch wenn solche errichtet werden. Denn Habermas referiert oder zitiert immer auch, was außerhalb ihrer liegt. Ich will dafür ein paar Beispiele geben. Den Gang seiner philosophiegeschichtlichen Argumentation nachzuzeichnen habe ich mir nicht vorgenommen; das muss der Leser, die Leserin schon selbst versuchen. Nur wie man mit Gewinn liest, wollte ich erörtern und musste mich dafür soweit möglich in seine Fragestellung hineinversetzen.

Das erste Beispiel ist gleich ein philosophisches – Parmenides. Habermas zitiert (auf deutsch) dessen Ausdruck „Denken“, schreibt ihn begründungslos in „Aussagen“ um. Als wäre es selbstverständlich, dass man in Aussagen denkt, sie logisch verknüpfend und kohärent machend. Ich denke, so wird meistens gerade nicht gedacht. Und gerade wenn Philosophen denken, darf man es nicht umstandslos unterstellen. Lyotard zum Beispiel sagt über sich, er sei „ein Philosoph und kein Experte [...]. Dieser weiß, was er weiß und er weiß, was er nicht weiß, jener weiß es nicht.“ (Eine Präzisierung des bekannten sokratischen Ausspruchs.) „Der eine folgert, der andere fragt, das sind zweierlei Sprachspiele.“

Thomas von Aquin wird von Habermas mit dem Satz „Glauben bedeutet eine Überlegung mit Zustimmung“ zitiert, credere est cum assensione cogitare: Umstandslos paraphrasiert er, es sei vom „begründete[n] ‚Ja‘ zu einer Aussage“ die Rede. Vom Ja zweifellos, das stimmt; aber kann Bejahung mit Beweis, Bewährung, Begründung, wie es im Kontext der Aussage allerdings der Fall ist, einfach gleichgesetzt werden? Ich kann gefragt werden, ob ich komme, und kann „Ja“ sagen: Wenn ich dann doch nicht komme, ist mein Ja dennoch gültig geantwortet, wenn auch keine gültige Aussage gewesen. Denn während eine Aussage nur gültig ist, wenn sich ihre Wahrheit prüfen lässt, ist es eine Antwort schon dann, wenn sie sich nur genau auf die Frage bezieht, der sie erteilt wird.

Und noch ein Philosoph - Heidegger. (Morgen in der vierten und letzten Folge sehen wir noch, wie Habermas auf Augustin und Duns Scotus eingeht.) Mit dem Konzept von „Seinsgeschichte“, lesen wir, behaupte Heidegger „eine Abhängigkeit von geschichtlichen Kontexten nicht mehr nur direkt für die Wahrheit von Aussagen und Theorien, sondern auch für die Rationalitätsstandards der geschichtlich wechselnden, sich ‚ereignenden‘ Ontologien, nach denen sich die Wahrheit jeweils bemisst“. Das ist ihm indiskutabel, obwohl Foucaults Diskursbegriff, das Konzept einer Diskursgeschichte davon zehrt. Nein, ein Denken, das über die Frage der Aussagenwahrheit, oder kurz über die Aussage, hinausgeht, kann er nicht dulden. Jedenfalls nicht, wenn Heidegger denkt; wenn er in religiösen Kontexten darauf stößt, ist er toleranter. Dabei weiß er, dass Heidegger sich mit „Aussagen“ ausdrücklich befasst hat; er referiert ihn auf seine Art: „Denn bereits mit einfachen prädikativen Aussagen, mit denen die diskursive Entfaltung möglicher Erkenntnisse überhaupt beginnt, wird das nur performativ zugängliche vorprädikative ‚Wissen-Wie‘ objektivistisch ‚verstellt‘.“ Er behauptet einfach, die „Entfaltung möglicher Erkenntnisse“ beginne mit Aussagen, und setzt sich darüber, dass sein Kontrahent nun eben etwas anderes behauptet – es gebe ein „vorprädikative[s] ‚Wissen-Wie‘“ („vorprädikativ“ heißt vor der Aussage, deren Struktur ja aus Subjekt / Nomen und Prädikat besteht) – hinweg wie ein Polizist über eine Ordnungswidrigkeit. Wie wir aber gesehen haben, geht dem Prädikativen tatsächlich das Vorprädikative, der Aussage nämlich die Antwort, der „Normalwissenschaft“ die wissenschaftliche Revolution voraus; es ist ganz unbezweifelbar. Wie sollen sich denn „mögliche“ Erkenntnisse „entfalten“, wenn die „Entfaltung“ nicht mit dem Fächer möglicher Antworten beginnt, den eine Frage erschließt? Dass eine Aussage stattdessen, als Aus-dem-Nichts-Sage, von Himmel fällt, ist nicht „möglich“.

Und was für ein Selbstwiderspruch auch. Denn an anderer Stelle schreibt Habermas: „Natürlich muss die Philosophie auf ihrem Verständnis von Aussagenwahrheit und ihrer Kategorie von Wahrheitsbedingungen bestehen. Aber die religiösen Glaubensmächte sind als Konkurrenten um die Wahrheit erst entwertet, wenn sie sich in ihren potentiellen Wahrheitsgehalten, die auch noch aus nachmetaphysischer Sicht als solche zählen dürfen, erschöpft haben.“ Das gerade ist ja der Grund, weshalb er ein Buch über „Glauben und Wissen“ geschrieben hat. Wenn er schon anerkennt, dass es womöglich „Wahrheitsgehalte“ jenseits der Aussage gibt, warum geht er nicht einen Schritt weiter und räumt ein, dass sie vielleicht auch eine eigene Form haben? Dann wäre die Antwort in seinem Blickfeld und damit auch die Frage. Er selbst sagt doch, aus der Sicht von „nichtreligiösen Bürgern, die auf ihre Vernunftautonomie pochen“, hätten religiöse Lehren „die zweifelhafte Qualität, im üblichen Sinne propositionaler Wahrheit weder wahr noch falsch sein zu können.“ Er weiß es! Das ist eben eine Eigenschaft der Antwort: Sie ist Antwort, wenn sie sich auf eine Frage bezieht und in deren Raum situiert, und ist es ungeachtet ihrer Wahrheit oder Falschheit, von der gar nicht die Rede sein kann, weil das nur möglich wäre, wenn man sie schon in eine Aussage umgewandelt hätte.

Mindestens müsste Habermas sehen, dass die „möglichen Wahrheitsgehalte“, wenn sie die Aussagen-Form nicht haben, dann doch „vorprädikativ“ sind, und dass er also hier etwas bewundert, was er, wenn sich ein Heidegger dessen erfrecht, wütend zurückgewiesen hat. Aber noch einmal, es bringt uns weiter, dass er den Widerspruch nicht verbirgt. Weil er ihm nicht privat gehört, sondern unserer Zeit, uns allen. Andere überspielen ihn mit glatter Rede, davon haben wir nichts.

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Hier geht es zum vierten Teil.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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