Die Aus-dem-Nichts-Sage (4)

Habermas Wo Duns Scotus faktisch vom Fragen spricht, wirft Habermas ihm „Dezisionismus“ vor. Frage-Antwort und Demokratie
Habermas meint, die Spaltung von Glauben und Wissen habe sich schon bei Augustin angebahnt
Habermas meint, die Spaltung von Glauben und Wissen habe sich schon bei Augustin angebahnt

Bild: Hulton Archive/Getty Images

Wie angekündigt wollen wir noch zusehen, wie Habermas auf Augustin und Duns Scotus eingeht. Wenn er Augustin würdigt, kommt er dem Verhältnis des Prädikativen zum Vorprädikativen, wie es gerade im Glauben besteht, und damit dem Jenseits, das die Aussage in der Antwort hat, am nächsten. Wenn Heidegger über jenes Verhältnis spricht, ist es ihm ärgerlich, hier lässt er sich darauf ein.

„Befänden sich“, hatte Augustin geschrieben, „in der Schrift und in den Glaubenssymbolen keine Zeichen, die auf eine Wahrheit hindeuteten, entbehrte die Glaubenshandlung offenkundig jedes kognitiven Gehalts“; Habermas kommentiert, der Kirchenvater berufe sich „auf den Unterschied zwischen dem performativ gegenwärtigen Sinn und dessen Explikation in Aussageform“. Das ist richtig und er sieht also mit Augustin, dass eine Äußerung „Sinn“ haben kann, ohne schon gleich Aussage zu sein, bei der es nicht ausreichte, wie allerdings bei der Antwort, dass sie auf Wahrheit nur „hindeutet“, sondern die auf sie müsste geprüft werden können. Aber es blitzt ihm nur auf, er kann es nicht festhalten. Wovon er hier spricht, sieht er nicht, von dem nämlich, was für sein Thema „Glauben und Wissen“ entscheidend wäre: der „Offenbarung“. Wenn sich, wie wir später lesen, Martin Luthers „Appelle an die Vernunft innerhalb der dogmatischen Grenzen der durch die Bibel bezeugten Offenbarung“ bewegen, begreift er das als eine „einschränkende[.] Prämisse“. „Dogmatische Grenzen“ – sie anzuerkennen wäre allerdings unvernünftig. Aber heißt das, die „Offenbarung“ als solche sei „dogmatisch“? Diese Frage wirft Habermas nicht auf.

„Offenbarung“ ist ein altmodisches Wort, an dem die ganze Last der langen Geschichte kirchlicher Verbrechen hängt; dass man es blind abwehrt, ist sehr verständlich. Man könnte es aber auch übersetzen und dann kommt einfach heraus, es ist die Antwort, oder die Gesamtheit der Antworten, die die Bibel erteilt, und auf Fragen meistens, die gewöhnliche Menschen einst an die Religion herantrugen, heute anderswohin tragen. Und zwar ist es „Gottes“ Antwort, da aber wiederum könnte man wissen, sowohl aus der Bibel selbst wie auch aus der Philosophie der Gegenwart – Emmanuel Levinas -, dass dieses absolut Andere, als welches man sich das „Gott“ Genannte vorzustellen hätte, uns in jedem anderen Menschen begegnet. Sagt doch Jesus, der „Sohn Gottes“, im Mathäusevangelium, „was ihr dem geringsten meiner Brüder tut, das habt ihr mir getan“, die Schwestern sind natürlich mitgemeint, es gab damals die feministische Sprechreform noch nicht, und wenn ihr also, sagt Jesus, der Schwester oder dem Bruder Gutes tut, habt ihr den „Himmel“, wenn aber Schlechtes, die „Hölle“. Das ist eine Äußerung, der niemand absprechen wird, dass sie einen Sinn hat, es ist aber keine Aussage, denn man kann kein strenges Verfahren der Wahrheitsprüfung, wie Popper es fordert, auf sie anwenden - auch dann nicht, wenn man unterstellt, dass Himmel und Hölle sich natürlich nur zu Lebzeiten erleben lassen. Es ist „nur“ eine Antwort! - auf die Frage, wie es uns selbst gut gehen könnte; eine „Offenbarung“ insofern, als jemand anders sie ausgesprochen hat (wer ohne Hilfe selbst darauf kommt, für den oder die ist es keine); ob sie wissenschaftlich wahr ist, kann unmöglich festgestellt werden, das heißt aber nicht, dass es irrational wäre, ihr zu vertrauen. („Vertrauen“ ist eine der Bedeutungen des altgriechischen Wortes pistis, das wir mit „Glauben“ übersetzen.) Und diese Antwort, die Jesus gibt, schließt keineswegs aus, dass wir ihr nur versuchsweise, also gar nicht „dogmatisch“ vertrauen.

Kontingenz in Gott

Habermas meint, die Spaltung von Glauben und Wissen habe sich schon bei Augustin angebahnt. Denn während der christliche Impuls ihn dazu anregte, das Verhältnis des Menschen zu seinem Jenseits als ein kommunikatives zu begreifen, Gespräch mit „Gott“ im Gebet, habe er zugleich als Platonist versuchen müssen, die Welt ontologisch zu fassen. Das ist eine hochinteressante Erörterung, zu der ich hier nichts weiter anmerken will. Auf der Linie meines Einwands gegen Habermas will ich vielmehr erinnern, dass Augustin in Antworten, statt Aussagen, geradezu aufdringlich sichtbar gedacht hat. Denn was ist sein Gebet (man kann auch sagen seine Meditation)? In den Confessiones führt er es vor: Durchgängig als Gespräch mit Gott angelegt, sind die „Bekenntnisse“ eine Folge ausformulierter Fragen und darauf erfolgter Antworten, von denen er hofft, der Geist Gottes habe ihm bei der Findung geholfen. Dass diese Antworten sich durchaus auf Ontologisches erstrecken – wo es also nicht allein um Glauben sondern auch Wissen geht -, zeigt gerade die Passage, die am meisten fesselt und bis heute am bekanntesten ist, jene, in der er die Frage, was die Zeit sei, zu beantworten sucht.

Neben vielen Detailantworten, die unmittelbar verständlich und teils überholt, teils aber auch „einleuchtend“ sind, wie dass eine Melodie, die man sich eingeprägt hat und wiederholt hört, als Ablauf in der Zeit zugleich ein Bild von „Ewigkeit“ sei, da man sie in jedem Augenblick vom Anfang wie von Ende her wahrnimmt, was buchstäblich einen Standpunkt auch „über“ der Zeit impliziert, ist vor allem dieser rätselhafte Satz berühmt: „Wenn du mich fragst, was die Zeit ist, weiß ich es nicht, wenn du es mich nicht fragst, weiß ich es.“ Da hier vom Wissen explizit gesprochen und mit dem „du“, das Gott als Gesprächspartner meint, der Glaube, hätte man sich gewünscht, Habermas wäre darauf eingegangen. Denn gerade weil Augustin vom Wissen spricht, um zu sagen, er habe es nicht, liegt es nahe zu sagen: Hier ist tatsächlich von einer Aussage die Rede, in der Form, dass sie unmöglich sei. Und doch „weiß“ Augustin etwas! Aber was er „weiß“, ist unsagbar. Und dann sagt er doch Vieles. Allerdings können Äußerungen wie die erwähnte, dass eine gekannte Melodie ahnen lasse, was „Ewigkeit“ sei, nicht definiert oder argumentativ begründet werden. Sie werfen die Frage auf, ob es zwischen Wissen und Nichtwissen nicht vielleicht ein Drittes gibt. Dieses Dritte wäre der Gehalt nicht einer Aussage, aber doch einer Antwort. Wenn das so wäre und ein Begriff dafür (noch) fehlte, müsste man so paradox sprechen, wie Augustin es tut.

All das wird von Habermas so wenig in Betracht gezogen wie jener andere Satz, den Hannah Arendt herausstreicht (über den „Liebesbegriff bei Augustin“ hat sie promoviert, Karl Jaspers war ihr Doktorvater): Er, Augustin, sei „sich selbst zur Frage geworden“. Habermas‘ Auseinandersetzung mit ihm ist dennoch von höchstem Interesse, ich springe aber gleich in ein viel späteres Stadium der Geschichte von „Glauben und Wissen“, jenes, wo sie sich wirklich zu scheiden beginnen. Das geschieht am Ende des Mittelalters, wenn Wilhelm von Ockham die Lehre des Duns Scotus weiterdenkt. Ockham hört zwar noch nicht auf zu glauben, oder es mindestens zu behaupten, was ja noch Kant und Hegel tun; doch ist er der Erste, der die Welt, und den Kosmos überhaupt, dem unbeteiligten Beobachterblick auszuliefern beginnt, obwohl man nicht sagen kann, er hätte es gewollt, und auch nicht, es sei schon die Weichenstellung zum view from nowhere gewesen. Paradoxer-, aber vielleicht auch natürlicherweise entsteht sein Neuansatz in Reaktion darauf, dass zuvor Scotus ein historischer Schritt in der Erhellung dessen, was es mit dem Fragen und Antworten auf sich hat, gelungen war. Die ganz ungewöhnliche Qualität der Habermasschen Darstellung zeigt sich darin, dass er dies Verhältnis begreifen lässt – ich wüsste nicht, in welcher andern es möglich wäre -, obwohl er selbst weit entfernt ist, es in Sprachspiel-Begriffen zu sehen. Das Scotus-Kapitel ist eins der spannendsten, mich jedenfalls hat es dazu gebracht, den Spätscholastiker zu lesen.

Dabei muss sich Habermas auch hier hinter die Grenze der Aus-dem-Nichts-Sage zurückziehen. Auf besonders exemplarische Art sogar. Wo nämlich Scotus faktisch vom Fragen spricht, wirft Habermas ihm „Dezisionismus“ vor. Uns Lesern wird zunächst mitgeteilt, nicht erst Leibniz, den er wie gesagt gar nicht behandelt, sondern schon Scotus lasse Gott zwischen möglichen Welten wählen. Nur dass es bei Scotus nicht die beste ist, die denkbar wäre; er ist da realistischer als Leibniz, zugleich aber dem wirklichen menschlichen Denken näher, das natürlich auch dieser auf Gott projizierten Überlegung zugrunde liegt. Die Wahl, die Gott da trifft, ist eine zwischen möglichen Antworten auf eine selbstgestellte Frage. Scotus erörtert sie. Er ist überhaupt der Erste, der als Philosoph, statt nur in einer Glaubensbehauptung, in Gott „Kontingenz“ zulässt. Wenn es aber tatsächlich der Mensch ist, der fragt, ist ja klar, dass er nicht das Beste antwortet, sondern nur was ihm so erscheint. Nicht aus Habermas‘ Buch, aber aus der Scotus-Lektüre weiß ich inzwischen, es wird tatsächlich, und ganz offen, vom Menschen auf Gott geschlossen.

Dass Habermas da unruhig wird, ist symptomatisch. Gäbe es nur Aussagen(logik) statt auch Fragen und Antworten, wäre ein Gott, der sich im Notwendigen erschöpft, ein sehr viel besserer Anknüpfungspunkt. Bei Scotus aber ist zu fragen gerade die oberste Notwendigkeit, die nun eben Kontingenz zur Folge hat, und damit Freiheit. An der ist Habermas selbst gelegen, weshalb er sehr viel später seinerseits unterstreicht, dass man zum Beispiel keinen Toleranzbegriff haben könnte ohne die „Einsicht, dass es relevante, aber vernünftigerweise umstrittene Überzeugungen gibt“. Das hebt er selbst mit Kursivdruck hervor, sieht nur nicht, dass es unvereinbar ist mit dem Dezisionismus-Vorwurf. So ist es nun mal: Zu antworten heißt nicht, die wahre, insofern beste Antwort zu finden – da nur Aussagen wahrheitsfähig sind -, sondern sich für die bestscheinende zu entscheiden. Und was am besten scheint, ist Streitgegenstand. Zwischen mehreren Menschen wie auch, wenn sich nur in mir selbst die möglichen Antworten streiten. Das geht noch weiter: Die Frage begründet die Antwort, die Antwort entscheidet über die Frage, weist sie nämlich gegebenenfalls als „falsch gestellt“ zurück. Wo immer das mit Gründen geschieht, kann von Dezisionismus überhaupt keine Rede sein. Denn wie Habermas richtig unterstreicht, könnte es Demokratie nicht geben, ließe man keine „vernünftigerweise umstrittenen Überzeugungen“ zu.

Zerfall der demokratischen Infrastruktur

Mit einem kurzen Verweis auf die Demokratiefrage will ich schließen. Bei Habermas läuft alles auf sie hinaus, und das ist natürlich gut so. Beim Rückblick auf die Achsenzeit sahen wir, dass eine neue Moralbegründung versucht wurde, und mit Habermas, dass Moral soziologisch gesehen der Kitt ist, der eine Gesellschaft zusammenhält. Sie konnte das vorher nur tun, indem sie sich auf einen sakralen Komplex stützte, der mit Ökonomie noch identisch war. Weil diese Klammer auseinandergebrochen war, versuchten die Lehrer der Achsenzeit, sie vielmehr auf ein weltjenseitiges Außen zu stützen. Der Mangel dieser Lösung war von Anbeginn klar. Die ganze Bibel zum Beispiel handelt nur davon, dass und wie Gott nicht gehorcht wird. Habermas zeichnet von da an nach, nicht nur wie die Philosophen die Weltordnung begreifen, sondern daneben mit gleicher Ausführlichkeit, welche Vorstellungen von Moral, speziell auch von Recht dem jeweils entsprechen. Das nicht zuletzt geht über die meisten gängigen Darstellungen der Philosophiegeschichte hinaus und macht sein Werk besonders wertvoll. Am Ende lesen wir, das Recht der Demokratie sei die Lösung. Die Moral kann nicht weltjenseitig begründet sein, wohl aber durch die Menschen, wenn sie sich intersubjektiv verständigen, in der Form der Demokratie. Ich füge gleich hinzu, dass Habermas, wollte man sein Werk auf diese Aussage reduzieren, ganz einfach gescheitert wäre. Denn er selbst muss am Ende einräumen:

„Die soziale Ungleichheit, die politisch unregulierte Märkte regelmäßig erzeugen, und die repressive Gleichsetzung nationaler Mehrheitskulturen mit einer politischen Kultur, in der sich auch die Bürger anderer kultureller Herkunft müssten wiedererkennen können, gehören zu den greifbarsten Ursachen einer faktischen Aushöhlung formal bestehender demokratischer Institutionen. Ohne das Entgegenkommen einer ermächtigenden kulturellen und einer ermöglichenden gesellschaftlichen Infrastruktur können die für eine demokratische Legitimation der Herrschaft wesentlichen Voraussetzungen der Deliberation keinen Halt in der Realität finden. Den Zerfall dieser Infrastruktur beobachten wir heute auf den wirtschaftlich und machtpolitisch absteigenden Kontinenten selbst in den ältesten Demokratien. Die vielfältigen Ursachen sind nicht leicht auf einen Nenner zu bringen. Aber die Fragilität einer Staatsform, die auf beidem freien Flottieren von Gründen basiert, ist kein Rätsel.“

Das sind seine letzten Worte vor dem „Postscriptum“. Freies Flottieren von Gründen – es ist wahrscheinlich noch wichtiger, dass diese Staatsform auch die Dekonstruktion von Fragestellungen, die sich in ihr etabliert haben, zulässt, so derjenigen, in deren Perspektive der Kapitalismus sich breit machen konnte. Habermas hat Feuerbach auf die Achsenzeit angewandt, er hätte auch Marx auf sie anwenden sollen. Ließe sich doch Marx‘ kombinierte Religions- und Kapitalismuskritik als Wegweisung lesen, wie wieder, und mehr als je, eine Ökonomie zu gründen wäre, auf die sich Moral, das heißt gesellschaftlicher Zusammenhalt, wirklich einmal stützen könnte. Besser gesagt eine menschliche im emphatischen Sinn; denn dass die Moral, die wir haben, prekär wäre, gar dass wir keine hätten, ist nicht unsere Erfahrung. Nein, der gesellschaftliche Zusammenhalt wird gerade vom Kapitalismus in einer Weise festgezurrt, die man sich effizienter kaum vorgestellen kann, nur dass sie unerträglich ist. Es ist immer noch die Rachegerechtigkeit, die jedermann tagtäglich am Warentausch einübt. So gesehen dauert die Achsenzeit noch an. Deren Mittel, das Moralproblem zu lösen, sind nicht ausreichend gewesen. Doch sich in ein Außen zu stellen, nicht um es als „nichts“ zu imaginieren, sondern um von dort aus nach allem, auch nach uns selbst, zu fragen, das führt weiter; noch heute. Antworten heißt wählen, sollte nicht auch eine demokratisch gewählte statt „systemische“ Ökonomie denkbar sein?

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Hier geht es zum ersten Teil.

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Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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