Die Spendenaffäre Kohl wird von Woche zu Woche abgründiger. In ihrem Schatten ist mehr verborgen als das Machtnetz eines Mannes, mehr als das Gebaren einer Partei, mehr sogar als der Zustand oder die Anfälligkeit eines ganzen parteipolitischen Systems. Die Spendenaffäre Kohl lässt Erschreckendes weit über die Politik hinaus erahnen, die ja nur ein gesellschaftliches "Subsystem" ist, wie die Soziologen sagen. Es lohnt sich, auf Niklas Luhmanns Beobachtungen zur Rolle der Moral in der modernen Gesellschaft zurückzugreifen, denn sie erlauben eine ungemütlich genaue Lokalisierung des Skandals.
Wir gehen von Kohls Äußerungen aus, die, was ja nicht selbstverständlich ist, zu erkennen geben, dass seine Affäre tatsächlich moralische Fragen aufwirft. Man könnte ja meinen, es handle sich nur um Fragen des Verhältnisses von Macht und Recht: Akten sind verschwunden, Kohl will die Spender nicht nennen, klarer Fall von Rechtsbeugung früher und jetzt, ihm wird daher Beugehaft angedroht. Aber Kohl rechtfertigt sich auch, und das kann er nur, indem er sich auf eine Moral beruft. Man muss das eine Moral nennen. Die Meinung, die jetzt nur Kohls Amoral oder sein erstaunliches "Weltbild" sieht, verhält sich naiv, weil sie nicht nach der moderneren Moral fragt, die in der "Amoral" womöglich schlummert. Das eben kann man von Luhmann lernen. In Kohls Rechtfertigung fallen drei Argumente besonders auf. Erstens, er habe sich nicht persönlich bereichert. Zweitens, die CDU habe das Geld gebraucht, um die PDS bekämpfen zu können. Drittens, die Spendernamen könne er nicht offenbaren, weil er den Spendern gegenüber im Wort stehe. Auf den ersten Blick glauben wir, das sei eine ganz archaische Argumentation. Dahinter steht die Annahme, modern sei eine Gesellschaft, die sich über objektiv gesetztes Recht statt über subjektives Freund-Feind-Denken reguliere. Doch dieser Gesellschaftsbegriff ist zu schön - zu normativ -, um wahr zu sein.
Bei Luhmann besteht die Gesellschaft aus Funktionssystemen, von denen die Politik nur eines, das Recht ein anderes, die Moral ein drittes unter vielen ist. Jedes System folgt nur seiner eigenen Logik. In der vormodernen Gesellschaft schrieb man der Moral noch die Leistung der gesellschaftlichen "Spitzenintegration" zu. Aber eben diese Stellung hat sie verloren, seit die Gesellschaft sich "ausdifferenzierte" zu einer Vielzahl von Systemen, die relativ unabhängig voneinander sind. Politik zum Beispiel ist zwar an Recht "gekoppelt", was dazu führt, dass aus beiden Systemen heraus eine staatliche Verfassung erarbeitet wird, auf deren Basis man dann die Rechtsgrenzen der Machtausübung einzeln festlegt. Aber innerhalb der Grenzen kann die Macht sich nun vollkommen hemmungslos entfalten, wie sich auch innerhalb der Grenzen der Macht das Recht pur rechtslogisch entfalten kann. Und weiter: da die Moral neben diesen beiden Systemen ein drittes bildet, kann der Fall vorkommen, dass die Ausübung politischer Macht zwar rechtens, aber zugleich offen amoralisch ist.
Was ist denn aber die Logik der Moral, des Rechts, der Politik? Mit dieser Frage wird Luhmanns Soziologie spannend, denn nun stellt sich heraus, dass diese Systeme, so sehr ihre Verschiedenheit und relative Autonomie betont wird, doch auch alle grundsätzlich nur ein und derselben Logik folgen. Jedes System folgt nämlich einem "Code", der "Haben" und "Nichthaben" unterscheidet: Macht haben oder nicht haben (Regierung oder Opposition), Geld haben im Fall des ökonomischen Systems, recht haben im Rechtssystem und so weiter - diese nackte Unterscheidung von Haben (1) und Nichthaben (0) als einziges Prinzip, egal um welches System es sich handelt, ist das eigentlich "Moderne" an der von Luhmann beschriebenen Gesellschaft. Deshalb ist auch an der Moral nicht nur neu, dass sie die Leistung der gesellschaftlichen "Spitzenintegration" nicht mehr erbringt, sondern sie ist nun ebenfalls eine Sache von 1 und 0 geworden. Die moralische Frage war immer, ob eine Handlung gut oder böse sei. Erst in der modernen Gesellschaft fällt beides so radikal auseinander, wie Luhmann es beschreibt: dass die gute Handlung Achtung, die böse Verachtung auf sich ziehe. Wer achtet, spricht Sein (1) zu, wer verachtet wird, erlebt sich als Nichts (0).
Zunächst mag man denken, dass Luhmann mit dieser Bestimmung nur Kant wiederholt, der ja bereits die Fähigkeit, die Handlung eines anderen zu achten, als das "moralische Gefühl" ausgezeichnet hatte. Es ist, Kant zufolge, ein Gefühl, das nicht von der Neigung zum Handelnden bestochen, sondern nur aus Pflichtbewusstsein geboren ist. Aber um die moderne Gesellschaft beschreiben zu können, muss Luhmann Kant auf den Kopf stellen: bei diesem reagiert die Achtung auf gute Handlungen, während jener diejenigen Handlungen gut nennt, die Achtung auf sich ziehen. Man muss fragen, was denn faktisch geachtet wird: das Funktionieren der Codes. Luhmann kann das gerade an Korruptions-Skandalen illustrieren, denn in ihnen wird aufgedeckt, dass die Logik mehrerer Systeme wirr durcheinanderläuft. Ob ein Politiker Macht oder Geld haben will, ist nicht mehr zu trennen. Das eben wird moralisch verurteilt. Die Moral erhält eine neue Funktion, sie integriert die Gesellschaft nicht mehr, sondern spürt Funktionsprobleme auf. Eine weitere Schlussfolgerung lässt sich ziehen, die Luhmann nicht ausspricht. Die Differenz Achtung / Verachtung ist also dazu da, auf die Differenz das Gute Haben / nicht Haben zu reagieren. Folgt daraus nicht auch, das man Handelnde achtet, wenn sie "haben", und verachtet, wenn sie "nicht haben" - Geld, Macht, den Sieg vor Gericht oder was immer?
Wenn nicht mehr das Gute geachtet, sondern das Geachtete als gut angesehen wird - weil es funktionstüchtig ist -, dann haben wir es nur noch mit der Moral derer zu tun, die mit gutem Gewissen die Funktionsuntüchtigen ausgrenzen. Das gute Gewissen erkennt sich nun eben am Gefühl der Verachtung für andere. Womit wir auf Kohl zurückkommen können. Warum hat er ein gutes Gewissen? Nicht weil er archaisch denkt. Seine Moralvorstellungen sind höchst modern! Zentral ist sein Argument, er habe Geld gebraucht, um die PDS zu bekämpfen. Es geht an der Rechtslage vorbei, zeigt aber, dass der Exkanzler entschlossen war, nach dem "Code" des politischen Systems zu handeln. Macht haben oder nicht haben, Regierung oder Opposition war die Frage. Um die Macht zu halten, wollte er Koalitionen zwischen PDS und SPD verhindern und zugleich als böse Wahrscheinlichkeit hinstellen. Die Ausführung überließ er dem Generalsekretär Hintze, dessen Moral darin bestand, die PDS und ineins damit die Wahrheitsliebe auszugrenzen. Hintze war lange erfolgreich auf der Haben-Seite der Macht, also lange moralisch gut. Kohl, wenn er mit Spendengeld half, doch ebenfalls. Solange er Erfolg hatte, war es gut.
Sein Hinweis, er habe sich nicht persönlich bereichert, bedeutet, dass er nur der Funktionslogik gefolgt ist, was seinen Sinn für moderne Moral noch mehr unterstreicht. Er, der das Recht beugt, tut als Funktionär seine Systempflicht. Und dann appelliert er auch noch an die Moral der kleinen Leute, indem er die Namen der Vertrauten, der Spender nicht nennt. Das ist nun wirklich, Luhmann zufolge, eine archaische Moral - Moral der "Nachbarschaft" bei "Freigabe" (moralischer Unempfindlichkeit) "des Verhaltens nach außen" -, die aber, wie der Soziologe ergänzt, das Moralverhalten der meisten Menschen "bis weit in die Neuzeit hinein" (sagen wir ruhig: bis heute) prägt. Es ist nicht dumm, sondern klug, wenn Kohl versucht, sich auf die kleinen Leute zu stützen, um sein rechtswidrig modernes Moralgefühl zu etablieren. Ich will damit sagen, dass Kohl sich gar nicht nur ins Abseits stellt, sondern mit "gutem" Grund auf breite, wenn auch parteigebunden breite Zustimmung spekulieren darf.
Freilich kann es nicht einfach die CDU sein, die ihm zustimmt. Hier wird die Sache über Kohls Person hinaus spannend. Im Spiegel dieser Woche lesen wir: "Bringe man Kohl zum Reden, so ein CDU-Bundestagsabgeordneter" - man wird ihn wohl, notfalls durch Beugehaft, dazu bringen -, "drohe Âdie Gefahr, dass auch Schäuble und andere hopsgehen. Dann implodiert die ParteiÂ." Was würde eine solche Implosion bedeuten? Wo verläuft die Linie, an der sich die Partei in Teile auflösen kann? Es würde doch ein Teil erkennen müssen, dass Kohls Moral genau demselben Prinzip der Deregulierung folgt, dem auch seine Wirtschafts- und Sozialpolitik verpflichtet war. Deregulierung bedeutet, das ökonomische System soll möglichst unbehelligt von Politik seiner eigenen Funktionslogik folgen dürfen. Was ist moralisch anders, wenn Kohl dann auch unbehelligt vom Recht die Funktionslogik der Machtausübung entfaltet? Alles ist aufeinander abgestimmt: Politik, Ökonomie und Moral des Neoliberalismus. Die CDU stand und steht unter neoliberaler Hegemonie. Wenn es einen Teil der Partei gibt, der davon genug hat bis zur Bereitschaft der Parteiauflösung, kann es wohl nur der christliche sein.
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