Die EU verteidigen

Europaparteitag Der Bund früherer Kriegsgegner könnte besser verfasst sein. Aber das ist kein Grund, ihn abzulehnen, entscheidet die Linkspartei
Hört auf die Internationale
Hört auf die Internationale

Foto: imago/Udo Gottschalk

Wer war am radikalsten auf dem Europaparteitag der Linkspartei? Waren es jene, von denen die EU als „militaristisch, antidemokratisch und neoliberal“ beschrieben wird? Mit dem Versuch, diese Beschreibung in den Programmentwurf aufnehmen zu lassen, konnte sich die Antikapitalistische Linke nicht durchsetzen. Umgekehrt gelang es dem Forum Demokratischer Sozialismus nicht, das Ziel einer „Republik Europa“ festschreiben zu lassen. Hier fiel allerdings vor allem auf, dass der Antrag fast die Mehrheit bekommen hätte, 45 Prozent waren ihm gefolgt. War dieser Antrag des „Reformer-Flügels“, wie er immer noch genannt wird, reformistisch statt revolutionär? Er ging jedenfalls nicht mit dem Ansinnen einher, die EU erst einmal hundertprozentig abzulehnen, sie womöglich gar zu verlassen, um dann noch einmal ganz neu beginnen und einen wirklich guten Staatenbund schaffen zu können. Das Ziel soll vielmehr aus der EU heraus, wie sie vorhanden ist, erreicht werden – in Form eines „Neustarts“. Die Antikapitalisten sagen jedoch, diese EU sei „nicht zu reformieren“.

Es ist die Frage, ob der Reformbegriff hier überhaupt passt. Wenn man einschätzt, dass die EU, ihre Vorläufer seit den 1950er Jahren mit eingerechnet, ein bereits historisches Gewicht erlangt hat, wird man sie verneinen müssen. Wenn eine in diesem Sinn „historische“ Formation radikal verändert wird, kann das doch gar nicht anders als von innen heraus geschehen. Nehmen wir die Formation namens Kapitalismus: Niemand hat sich je vorgestellt, dass man sie erst einmal verlassen könnte, um derart einen neuen Nullpunkt zu gewinnen. Vielmehr musste man an seiner Verfassung anknüpfen, besonders an der Tatsache, die man gerade bekämpfte, dass er nämlich eine Klassengesellschaft war. Man musste hinnehmen, dass es, ganz kapitalismusimmanent, eine Arbeiterklasse in ihr gab: Ihr gerade traute man zu, den Ausweg zu finden. Das war nicht reformistisch, es war revolutionär.

Militarismus lässt sich nur mit der EU bekämpfen

Was an der EU „historisch“ ist, wurde auch auf diesem Parteitag in Erinnerung gerufen. Sie ist ein Bund ehemaliger Kriegsgegner. Über viele Jahrhunderte haben sich die europäischen Staaten gegenseitig zerfleischt, und wenn auch die Theorie übertrieben sein mag, dass aus solchen europäischen Kriegen der Kapitalismus hervorgegangen sei, so haben sie doch zweifellos die Rolle eines Geburtshelfers gespielt. Das ist inzwischen vorbei, und es ist in der Form der Verfassungen vorbei, die sich die EU nun einmal gegeben hat im Lauf ihrer bisherigen Entwicklung. Kann man sie von ihrer historischen Grundlage trennen, der Beendigung des innereuropäischen Krieges? Wer das versucht, beschwört nur neue nationalistische Konflikte herauf. Die jetzige EU ist militaristisch, ja, aber wenn es sie nicht gäbe, wäre der Militarismus um ein Vielfaches noch gesteigert. Er lässt sich aus diesem Grund nur mit ihr, nicht gegen sie bekämpfen.

Das Kriterium für den „historischen“ Charakter einer Formation liegt eben darin, dass es unmöglich geworden ist oder wenigstens selbstzerstörerisch wäre, aus ihr auszutreten. Wie noch die entschiedensten Antikapitalisten an der Reproduktion des Kapitalismus teilhaben, indem sie auf Märkten einkaufen, genauso reproduziert man mit der guten Grundlage der EU deren böse Seiten. Und umgekehrt mit den bösen Seiten die gute Grundlage. Wie sinnlos es ist, sich in toto distanzieren zu wollen, zeigt das Gedankenspiel eines deutschen Austritts. Käme man mit ihm in einen Zustand, der nicht mehr „militaristisch, antidemokratisch und neoliberal“ wäre? Nein, man wäre dann in Deutschland, wo der Neoliberalismus am heftigsten wütet. Und Europa wäre noch undemokratischer, weil noch die geringen verfassungsmäßigen Hürden, die der EU-Vertrag dem deutschen Kapital zumutet, wegfallen würden. Gerade wer in Deutschland den Neoliberalismus bekämpft, muss dafür sein, dass die deutsche Hegemonie in ganz Europa von innen heraus, also innerhalb der EU, bekämpft werden kann.

Stefan Liebich vom „Reformer-Flügel“ hat sich in seiner Parteitagsrede auf die Internationale berufen, das große Lied der Arbeiterbewegung. Da werde nicht „Die Nationale erkämpft das Menschenrecht“ gesungen, sagte er. Dieser Hinweis von Stefan Liebich dürfte das Revolutionärste und Radikalste sein, was sich zum Thema beitragen lässt.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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