Polnische Soldaten präsentieren die Flagge der NATO während einer militärischen Übung
Foto: Omar Marques/Getty Images
Wie der italienische Rechtspopulist Silvio Berlusconi behaupten auch die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot und der Publizist Hauke Ritz, dass Russland in den Ukrainekrieg „gedrängt wurde“, ja dass die Ukraine ihn begonnen und Russland nur reagiert habe. Sie führen freilich Informationen an, die in den deutschen Zeitungen nur am Rande vorkamen. Kann es diese Unzahl von Nato-Manövern voriges Jahr in der Ukraine, auf die sie hinweisen, wirklich gegeben haben? Wer’s nicht glaubt, lese bei Wikipedia nach: Im Januar 2021 beschloss das ukrainische Parlament, dass sich Nato-Streitkräfte für Gefechtsübungen im Land aufhalten dürfen. Im März bestätigte Präsident Selenskyj eine Strategie der Wiedereingliederung der Krim. En
Ende März begann Russland seine Truppenstärke an der Grenze zur Ukraine zu erhöhen. Das war die Reihenfolge. In unseren Zeitungen las ich von Vertragsentwürfen, die Russland am Jahresende vorlegte und in denen es ganz unerfüllbare Maximalforderungen stellte. Russland hatte aber nur verlangt, die Nato solle alle Truppen zurückziehen, die nach 1997 in Osteuropa stationiert worden waren, und sich dabei auf die Nato-Russland-Grundakte von 1997 berufen. Die Nato soll das Forderung verstanden haben, sich an die Oder-Neiße-Grenze zurückzuziehen. Es ist schon eine verrückte Welt, in der wir leben.Aber zeigt dieser Verlauf nur, dass Russland Grund hatte, sich bedroht zu fühlen? Nein, nachvollziehbar genug sind auch die Maßnahmen der ukrainischen Regierung. Es war die klassische kriegsschwangere Situation, wie wir sie aus den Geschichtsbüchern kennen. Wenn es auch Grund gibt, irritiert zu sein, dann wegen des doch recht schwachen Willens des Westens, diesen Prozess zum Krieg hin – an dem er, wie man sieht, zentral beteiligt war – noch rechtzeitig zu stoppen.Was will der Westen? Genauer, was wollen die USA, was will die EU und was sollte sie wollen? Das sind die Fragen von Ulrike Guérot und Hauke Ritz. In ihrer Rekonstruktion der atlantischen Beziehungen zeigt sich eine fundamentale Veränderung in den Jahren nach 2000. Die 1990er-Jahre hindurch arbeitete die EU noch am Bundesstaat, zu dem sie hatte werden wollen, und die US-Regierung tat nichts und hatte nichts dagegen. Das wurde anders nach 2003, als sie mit der falschen Behauptung, im Irak lagerten Massenvernichtungswaffen, gegen dieses Land Krieg führte. Wir erinnern uns: Gerhard Schröder, der deutsche Kanzler, kritisierte den Überfall, in Osteuropa jedoch fand US-Präsident George W. Bush „willige“ Partner für seine Kriegs-Koalition. Von dieser Spaltung sollte sich Europa nie mehr erholen. Schwerwiegend war sie auch deshalb, weil sie genau im Moment der Osterweiterung der EU geschah. Denn im selben Jahr 2003 war auch der Vertrag von Nizza vorgeschlagen worden, der die Osterweiterung 2004 flankieren und in den längerfristigen Weg der EU einfügen sollte. Das Letztere erwies sich in den Jahren danach als Makulatur.Schröder kritisierte aber nicht nur den Irakkrieg, sondern vereinbarte auch Nord Stream 1 mit Russland und bereitete Nord Stream 2 vor, und so wurde Deutschland in den Augen der US-Regierung zum Sorgenkind, wenn nicht zum Gegner. In der Darstellung von Guérot und Ritz erscheint die US-Regierung oft übermächtig: Sie scheinen ihr die Macht zuzutrauen, überall in Europa die Medien zu steuern, und darüber vermittelt die Regierungen. Und Barack Obama, das können sie zitieren, hat nach seiner US-Präsidentschaft wirklich geäußert: „Unsere Fähigkeit, die weltweite öffentliche Meinung zu formen, hat geholfen, Russland völlig zu isolieren.“ Doch sie zitieren auch, was der US-Stratege George Friedman 2015 schrieb: „Wer immer mir sagen kann, was die Deutschen machen werden, wird die nächsten 40 Jahre Geschichte vorhersagen.“ Damit nicht deutsches Kapital und russische Ressourcen „eine kombinierte Macht“ bilden, so Friedman, müsse in Europa „ein neuer Eiserner Vorhang entstehen“; er zweifelt aber, dass es gelingt.Russland ja, Amerika nein?Guérot und Ritz zufolge müssten die Deutschen darauf hinwirken, dass die EU aus der Nato austritt und stattdessen eine eurasische „Konföderation“ mit Russland bildet. Dem ist keineswegs zuzustimmen, zumal sie sich selbst widersprechen, denn vorher hatten sie geschrieben, mit nur einem Flügel, dem US-amerikanischen, könne die EU nicht fliegen. Russland ja, Amerika nein wäre auch nur ein Flügel! Und es könnte die Weltkriegsgefahr nur steigern! Richtig bleibt aber der Appell von Guérot und Ritz, die EU müsse sich, damit sie eine Friedensmacht zwischen den Blöcken sein kann, auf die Idee der politischen Union zurückbesinnen. Nur, wem sage ich das? Um vermitteln zu können, müsste die EU unabhängig sein; um unabhängig zu sein, müsste sie über eigenes Militär verfügen. Auch dieser Weg wäre ohne Aufrüstung nicht gangbar. Eine demokratische Partei, die Augen für ihn hätte, sehe ich in Deutschland nicht.Placeholder infobox-1
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.