Die Farbe Lila (II)

L'amica geniale Elena Ferrantes weiblicher Blick richtet sich auf das Kapitalverhältnis so sehr wie auf das Mann-Frau-Verhältnis. Es geht gerade um die Konfundierung beider Verhältnisse

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Realismus? Beim ersten Lesen fällt man auf Ferrante herein. Weil alles so spannend ist
Realismus? Beim ersten Lesen fällt man auf Ferrante herein. Weil alles so spannend ist

Fotos: Andrea Artz/Laif, Mario de Biasi/Mondadori Portfolio/Getty Images (rechts)

[Beginnen mit Teil I hier.]

Die weibliche Autorposition nach Ferrante ist ein komplexes Gefüge und wird doch nirgends als solche dargelegt. Um sie identifizieren zu können, muss man gezielt nach ihr fragen. Dann aber erweist sich ihre Durchdachtheit und Konsequenz, wie auch dass sie weiterführt. Das Erste ist, dass man begreift: So jedenfalls, wie Max Frisch und auch Ingeborg Bachmann nach der Autorposition fragen, ist die Frage nicht gut gestellt.

Für Bachmann nimmt Frisch eine pure Beobachterposition ein, und sie hat wohl auch recht. Er sieht Bilder, sieht sich auch selbst in solchen. Man kann durchaus nicht sagen, er zeige sich selbstzufrieden, selbstkritisch aber ebenso wenig, obwohl es den Anschein hat und er es sicher ehrlich glaubt. Was wie Selbstkritik aussieht, ist in Wahrheit nur Distanz. Sein Blick distanziert sich von allem und so auch von sich, das geschieht aber wertfrei. Die Folge ist eben, dass ihm sehr genaue Bilder gelingen, unter denen er unter Umständen, man glaubt es ihm, auch leidet. Gerade im Zusammensein mit Bachmann hat er bis zur Krankheit gelitten. Es scheint aber alles wie ein Naturprozess abzurollen, auch die eigenen Taten, für die er kaum verantwortlich scheint. Noch den eigenen Schmerz erträgt die abgetrennt kalte Selbstbeobachtung besser. Das Problem ist nun, auch Bachmann denkt über eine Autorposition, die weiter nichts als Beobachterposition wäre, nicht hinaus, wenn es auch eine ganz andere sein soll. Aber worin soll sie bestehen? Darauf findet Bachmann keine Antwort. Gudrun Kohn-Waechter (Das Verschwinden in der Wand, a.a.O.) stellt dar, wie der Roman, der ihr weiteres Schreiben begründen sollte, es vielmehr zum Abbruch bringt und die schlimme letzte Lebensphase der Dichterin einleitet.

Schockstarre des Ich

Was wäre ein „weiblicher Blick“ im Unterschied zum männlichen, den Frisch oder, in Bachmanns Roman, Malina auf die Menschen und Dinge wirft? Die Behauptung, es gebe einen solchen, wird bis heute gern erhoben, ohne dass dann angegeben werden kann, was ihn ausmachen soll. Doch die Frage, was eine Alternative zum beschriebenen männlichen Blick wäre, muss gar nicht mit dem „weiblichen Blick“ beantwortet werden – dann jedenfalls nicht, wenn eine abstrakte weibliche Fähigkeit des Beobachtens gemeint ist. Das alternative Beobachten könnte doch eine Fähigkeit sein, die prinzipiell beiden Geschlechtern möglich ist, obgleich sie in unserer Gegenwart, aus Gründen der Gendergeschichte, viel mehr Frauen näher liegen mag als Männern. Wenn es trotzdem eine exklusive Autorinnenposition gibt, läge sie nicht in einer Beobachtungsweise, die nur Frauen offenstünde, sondern in dem, was für Frauen das Beobachtbare ist. Zu fragen wäre also nicht allein wie, sondern mehr noch was sie beobachten und was Männer nicht beobachten.

Folgt man Ferrantes Hinweisen, muss es sich so verhalten. Lenù, die von ihr dargestellte Romanautorin, gibt in den Passagen, in denen sie ihre bewusste aber ungewollte Aneignung des „männlichen Verstands“ beklagt und nach der Alternative fragt, zwar keine Antwort. In ganz verschiedenen Kontexten hebt sie aber immer wieder ihre und auch Lilas „Übung darin“ hervor, „eine Ordnung zu finden, indem ich einen Zusammenhang zwischen weit auseinanderliegenden Elementen herstellte“. Auch ihr zeitweiliger Ehemann Pietro, ein Universitätsprofessor, „konnte weit voneinander entfernte Texte in einen Zusammenhang bringen“. Wenigstens wenn es sich um Dinge handelt, die mit ihm selbst wenig zu tun haben, hat er die Fähigkeit. Lenù aber hat sie in ihren Romanen, die stets ihr eigenes heftiges Erleben zum Gegenstand haben. Diese Kraft, weiträumig zu kombinieren, deutet noch auf eine bloße Beobachtungsweise. Sie gehört eindeutig zum Blick, nicht zum Erblickten oder einem naiven Erlebnisstrom, der die Unterscheidung gar nicht kennt. Das ist aber ein Blick, der stets schon auf dem Sprung zum deutenden Eingreifen ist; bevor er es tut, sucht er seine sachdienlichen Kenntnisse und Ahnungen zusammen - lässt sich dabei vom Erblickten leiten: von der Sache selbst - und geht mit ihnen bewaffnet in diese über.

Kurzum, es ist ein fragender Blick. Und wenn er es wirklich sein kann, wird er das ganze Ich mobilisieren, von dem dann mit Augustin und Hannah Arendt gesagt werden kann, es sei „sich selbst zur Frage geworden“. Dann gerade kann jene Kraft vorhanden sein oder kultiviert werden, alles, aber auch wirklich alles Erinnerte sekundenschnell hervorzukramen – auch aus dem Unbewussten im Fall des Kunstschaffens -, das geeignet sein könnte, die Sache im Gegenüber zu entschlüsseln. Dass dies, wenn vorhanden, eine Kraft des vom Beobachteten getrennten Ichs ist, wird am besten in einer Formel des Begründers der Psychoanalyse zum Ausdruck gebracht: „gleichschwebende Aufmerksamkeit“. „Man halte alle bewussten Einwirkungen von seiner Merkfähigkeit ferne und überlasse sich völlig seinem ‚unbewussten Gedächtnisse‘“, fordert Freud vom Analytiker in der Kur. Da dieser „Gleichheit“ des Merkens keine gleichen Objekte gegenüberstehen, sondern es gerade umgekehrt darum geht, deren Vielfalt und vielleicht Konfusion zu entschlüsseln, ist sie nur unter der Bedingung der Getrenntheit beider möglich. Es gibt eben zwei Arten, vom Erblickten oder Gehörten getrennt zu sein. Wenn Frisch es ist, sieht er Bilder: Das ist die Getrenntheit der Kamera vom „Motiv“, wie man denn gesagt hat, die Wahrnehmung sei eine „Aufzeichnungsfläche“. Die „Fläche“ fragt nicht, sondern spiegelt wider. Sie wird als leer vorgestellt.

Und die Leere als kalt, weil unbeteiligt. Wiederum bei Freud finden wir die Erklärung für diese Kälte, die gar keine ist, vielmehr ein Unglück und eine Behinderung. Das Wahrnehmenkönnen hat Grenzen: Wenn das Wahrgenommene sie überschreitet, kommt es zur Schockstarre des Ich und dann zu dessen Selbst- und auch Fremdwahrnehmung, es sei leer und kalt. So kann, was an Lila als Kälte erscheint und es in ihrem Agieren als Kapitalistin auch ist, auf den Schock ihrer Hochzeit zurückgeführt werden, wo sich Stefano, den sie gewählt hat, von einem Tag auf den andern als Betrüger entpuppt.

Zum mehr fragenden als bloß widerspiegelnden Blick ist, wie gesagt, im Prinzip jedermann fähig. Wenn er aber bei Unterworfenen eher als bei Herrschenden angetroffen wird, kann das damit erklärt werden, dass er für sie einen Evolutionsvorteil darstellt. Sie können es sich nicht leisten, die Menschen und Dinge bloß hinzunehmen; sie müssen einzugreifen versuchen. Als unterworfen muss sich auch ein Mann wie Freud gefühlt haben. Wie es aber nicht anders sein kann, ist seine Lehre vor allem hinsichtlich des männlichen Schicksals kompetent. Er hatte den fragenden Blick, aber wenn Mann und Frau verschiedene Schicksale haben, aus historisch bestimmten Gründen, sieht eine Frau, wenn sie fragt, nicht dieselben Antworten wie ein Mann. Ihr sind Dinge wichtig, die er gar nicht bemerkt oder von denen er nichts weiß. Wenn eine Frau einen Roman schreibt, kann das ihre Position als Autorin sein: darzustellen, wie sich die Welt in weiblicher Perspektive ausnimmt. Ferrante tut das so ausführlich und genau, so konsequent, ja auch konfrontativ, und so ehrlich, wie es wohl niemals zuvor geschehen ist.

Eintauchen ins Konfuse

Das heißt nun gerade nicht, dass sie „Frauenprobleme“ isoliert von anderen Problemen sähe. Es gibt vielmehr zwei große Problemkomplexe in ihrem Roman, die gleichsam ineinandergewickelt sind: das patriarchalisch dominierte Mann-Frau-Verhältnis und den Kapitalismus, der in Italien so offen kriminelle Züge trägt wie sonst selten in Europa, zumal in einer süditalienischen Stadt wie Neapel. Man kann es auch so ausdrücken, dass die von Ferrante dargestellten Freundinnen der „68er“ Generation angehören – ihr gemeinsames Geburtsdatum ist 1944 – und als solche nicht umhin können noch wollen, sich als Frauen und Antikapitalistinnen wahrzunehmen. Es ist ganz klar, dass „1968“ das Leben Lenùs wie Lilas geprägt hat. Besonders im dritten Buch erfahren wir, wie dieser Umbruch in Italien von Italienerinnen erlebt wurde, und zwar so authentisch und genau, dass man annimmt, Ferrante müsse ein Tagebuch geführt haben. Zwar spielt das Besondere, das sich mit 1968 verbindet, im Roman eine geringere Rolle als die nachfolgende Terrorzeit. Die Autorin kann beides jedenfalls unterscheiden. Wenn aber der Enthüllungsjournalist Gatti mit seiner gut belegten Behauptung Recht hat, die 1953 geborene Übersetzerin Anita Raja stecke hinter dem Pseudonym „Ferrante“, ist die Akzentsetzung gar nicht erstaunlich, denn Raja war 1968 erst Fünfzehn.

Kapitalismus und Geschlechtlichkeit – einfach weil Lenù und Lila sie auf bedrängendste Weise erleben, liegt ihnen der Gedanke ganz fern, das eine für wichtiger als das andere zu halten; der springende Punkt ist gerade, dass der genaue Zusammenhang beider unklar ist, sich das Verhältnis also gerade nicht – im Denken so wenig wie in der Realität - als geordnet in „Haupt- und Nebenwiderspruch“ darstellt, sondern nur als konfus. Ich will, bevor ich dies im Großen weiterverfolge, die Bedeutung des Konfusen für die Frage der Autorposition an einem Einzelkomplex demonstrieren. Auch wenn er die Handlung nur selten unterbricht, ist er nicht unwichtig. Wir können ihn den Komplex „Himmel – Erde“ nennen.

Lila, wenn sie sich dafür ausspricht, „auf der Erde zu stehen“, statt wie die Männer ins Weltall zu streben – die erste Mondlandung war 1969 -, will gewiss zum Ausdruck bringen, dass die Erde ein gordischer Knoten sei, dem man nicht durch Zerschlagung sondern nur durch Entwirrung beikomme. Man denkt aber auch an Hannah Arendts Kritik, die „moderne Naturwissenschaft“ blicke auf „die erdgebundene Natur“, „als ob sie gar nicht mehr auf der Erde, sondern im Universum lokalisiert wäre“. Es ist also klar, das Thema berührt die Frage des „weiblichen Blicks“. Was hat Lilas Ausspruch veranlasst? Bei einer Preisverleihung hatte Lenù gesagt, sie „sei glücklich wie die Astronauten in den weißen Weiten des Mondes“. Diesen Satz musste die Freundin korrigieren. Lenù nimmt die Korrektur an, wird sich aber dennoch in ihrer Liebe zu Nino als fliegend erleben. Den Flug mit ihm in die USA stellt sie selbst als real und symbolisch zugleich dar. Sie ist abgehoben, wie man sagt, verkennt das Geschehen und wird später abstürzen. Andererseits zitiert sie zustimmend die Feministin Carla Lonzi: „Während die Männer fleißig zum Mond fliegen, muss das Leben für die Frauen auf diesem Planeten erst noch beginnen.“

Was hier illustriert wird, ist jener fragende Blick, der eigentlich beiden Geschlechtern offensteht. Er ist aufs real Konfuse gerichtet. Lenù zieht aber besondere Konsequenzen. Sie ist bereit, das an sich selbst Beobachtete durchzuarbeiten, daher in es einzutauchen, ja erst einmal in ihm zu versinken. Denn sie weiß, dass es sie als Frau besonders angeht. Wir haben es, da „die Erde“ in den Mythen für Mütterlichkeit steht, mit keiner bloßen Illustration zu tun. Von Konstantin Ziolkowski, dem ersten großen Raumfahrtpionier, ist der Ausspruch überliefert: „Es stimmt, die Erde ist die Wiege des menschlichen Verstandes, aber der Mensch kann nicht ewig in der Wiege bleiben.“ Aber nicht nur Mütter werden hier verhandelt, sondern Frauen überhaupt, denn bei Lévi-Strauss lesen wir, es sei ein mythologisches Grundgesetz, daß die Erde sich zum Himmel verhalte wie die Frau zum Mann.

Zurück nun zur falschen Vorstellung des „Haupt- und Nebenwiderspruchs“. Man könnte sagen, einen „Hauptwiderspruch“ gibt es zwar nicht, sehr wohl aber, nach Ferrante, diese Hauptkonfusion, die nicht Arbeit und Kapital vermengt, sondern das Kapitalverhältnis Kapital-Arbeit mit dem patriarchalisch gefärbten Mann-Frau-Verhältnis. Im Übrigen kann die Rede vom „Hauptwiderspruch“ ja nicht etwa auf Marx und Engels zurückgeführt werden, die vielmehr beide Verhältnisse als solche der Lebensgewinnung (Produktion der Lebensmittel und des Lebens selber) gleichrangig nebeneinandergestellt, wenn auch nur eines aufwendig untersucht haben. Außerdem hat Engels auf die Konfusion explizit hingewiesen: „Der Mann ist in der Familie der Bourgeois, die Frau repräsentiert das Proletariat.“ Ferrante thematisiert es nur umfassender. Und auch hier, in der Hervorhebung dieses Beobachteten, macht eine weibliche Autorposition sich geltend, die wirklich exklusiv ist. Hauptrepräsentant des kriminellen Kapitalismus ist im Roman die Familie Solara: Marcello, der Lila heiraten wollte, sein Bruder Michele, der sich später in sie verliebt, und die Mutter Manuela, eine Wucherin. In klaren Worten legt Michele die Hauptkonfusion dar. Ich will ausführlich zitieren, was er sagt, auch weil er nebenbei einen großen Teil der Handlung zusammenfasst. Lila ist eine Grenze, an die er stößt:

„Siehst du“ – erklärt er einem anderen, von Manuela abhängigen Kapitalisten -, „sie hat wirklich einen schlechten Charakter. Ich rede hier, und sie pfeift drauf, holt ein Blatt Papier heraus und sagt, dass sie gehen will.“ (Das ist gerade geschehen.) „Doch ich verzeihe ihr, denn ihr schlechter Charakter wird durch jede Menge Vorzüge wettgemacht. Du glaubst, du hast eine Arbeiterin angestellt? Oh nein, diese Dame hier ist viel, viel mehr. Wenn du sie machen lässt, verwandelt sie für dich Scheiße in Gold, sie ist fähig, diese ganze Bruchbude umzugestalten und sie dir auf ein Niveau zu heben, das du dir nicht mal im Traum vorstellen kannst. Und warum? Weil sie einen Kopf hat, wie ihn Frauen normalerweise nicht haben und auch wir Männer nicht.“

Nicht nur also, weil sie der „Arbeiterklasse“ angehört, die bekanntlich den Mehrwert schafft. Auch nicht allein weil da eine Frau arbeitet, eine Arbeiterin. Aber warum dann?

„Ich beobachte sie, seit sie fast noch ein Kind war, und es ist wirklich so. Sie hat mir Schuhe entworfen, die ich noch heute in Neapel und außerhalb verkaufe, und ich mache einen Haufen Geld damit. Und an der Piazza dei Martiri hat sie mir einen Laden mit so viel Phantasie eingerichtet, dass daraus ein Verkaufssalon für die Reichen aus der Via Chiaia, aus Posilippo und vom Vomero wurde. Und sie könnte noch viel, viel mehr schaffen. Aber sie ist übergeschnappt, denkt, sie kann machen, was sie will.“

Und warum denkt sie das?

„Ihr Problem ist: Obwohl sie ziemlich intelligent ist, begreift sie nicht, was sie tun darf und was nicht. Und das, weil sie noch nicht an den richtigen Mann geraten ist. Der richtige Mann stutzt dir eine Frau zurecht. Sie kann nicht kochen? Sie wird es lernen. Die Wohnung ist dreckig? Sie wird putzen. Ein richtiger Mann kann eine Frau zu allem bringen.“ „Wenn du eine Frau erziehen kannst, gut so. Wenn du es nicht kannst, lass sie laufen, sonst schadest du dir bloß.“

Damit sie fortdauert

Aber wenn sie so eine kreative Arbeiterin ist, schadet er sich auch, wenn er sie laufen lässt. Und außerdem: „Du siehst sie an, und du willst sie ficken.“ Ferrante weiß natürlich, dass Kapitalisten solche Probleme im Durchschnitt bewältigen konnten. Kreativsein nützt nichts ohne Startkapital. Sonst kann auch eine Frau nicht „einfach sagen, dass sie gehen will“, sondern muss sich verkaufen und oft genug noch die sexuelle Zudringlichkeit des „Arbeitgebers“ über sich ergehen lassen. Nur musste das nicht so bleiben. Metoo gab es noch nicht, als der Roman geschrieben wurde, dafür aber „1968“, worauf Metoo ja letztlich zurückgeht. Wenn ich sagte, Lila verkörpere den Widerstand, heißt das spezieller, dass sie „1968“ verkörpert. Die Revolte also, die mehr ist als Widerstand. Lenù weist selbst darauf hin: Als man eines Tages begonnen habe, nicht mehr von der Revolution zu sprechen, sondern bloß noch vom Widerstand, sei das der Anfang vom Ende gewesen. Lila verliert ihren rebellischen Geist aber nicht. An ihm wird Michele sich die Zähne ausbeißen, zuletzt wohl auch sein Leben deshalb verlieren, wie allerdings auch Lilas eigene Tochter.

Auch dass sie in Lila eine so selten rebellische Frau zeichnet, muss zu Ferrantes Autorinnenposition gerechnet werden. Lenù, ihre Vertreterin im Roman, steht nicht mehr ausweglos einem Malina gegenüber wie Ingeborg Bachmanns namenloses Roman-Ich, keinem männlichen Gegenpol, den allein sie wahrzunehmen und an ihm sich abzuarbeiten hätte, sondern der „genialen“ Freundin - einer Lina, die zugleich „Lila“ ist, weil sie die neue Frauenbewegung verkörpert. Hier können wir allerdings nicht schon Halt machen, denn darin geht nicht auf, was Lila selbst über sich sagt. Wir haben es gehört: Das Beobachtete soll nicht in seiner bloßen Widerlichkeit dargestellt werden, sondern zusammen mit der „Phantasie“; was phantastisch überhöht wird, ist die Revolte gegen das Widerliche, und die es sagt und selbst das Phantastische ist, ist Lila. Insoweit sie die neue Frauenbewegung verkörpert, ist sie aber ja nicht phantastisch, sondern real. Worin besteht die Überhöhung? In einer Widerstandskraft, so viel hatte ich ausgeführt, die beansprucht und verspricht, sie werde menschheitsgeschichtlich siegen. Dies allerdings gebrochen durch metaphysische Selbstzweifel und den verhängnisvollen Verlust der Tochter, auf der die Zukunftshoffnung gelegen hatte. Nun scheint es doch, wir haben disparate Elemente gesammelt. Wirklich und widersprüchlich, scheiternd sogar, und doch auch unwahrscheinlich, – wirklich und unwirklich zugleich; zu unwirklich für eine „positive Heldin“, zu wirklich für ein bloßes Ideal, – wer oder was ist Lila? Ausgerechnet Michele, ihr Widersacher, der Camorra-Kapitalist, spricht es in einem klaren Moment so deutlich aus, dass es selbst wieder ganz unwahrscheinlich, umso mehr aber geeignet ist, uns auf eine Spur zu führen.

„Er hatte gesagt, er denke Tag und Nacht an Lila, aber nicht mit dem üblichen Verlangen, sein Verlangen sei nicht so, wie er es sonst an sich kenne. Eigentlich begehre er sie nicht.“ (Kursiv im Roman.) Hatte er vorher vom „Ficken“ gesprochen, war das eine hilflose Annäherung gewesen, kaum angemessen der „schrecklichen Schönheit“ gegenüber. Was er sagen will, kommt nur schrittweise heraus. „Er begehre sie nicht, um sie sich zu nehmen und sie dann zu vergessen. Er begehre sie wegen der feinsinnigen Ideen, die sie im Kopf habe. Er begehre sie wegen ihres Erfindungsreichtums. Und er begehre sie, ohne sie beschädigen zu wollen, damit sie fortdauere.“ Dieser letzte Satz lässt aufhorchen, nicht nur weil Michele später im Gegenteil sagen wird, er werde ihr alles nehmen, was sie hat, und wohl auch wirklich hinter dem Verschwinden ihrer Tochter steckt, wie denn umgekehrt sie diejenige zu sein scheint, die ihn und seinen Bruder, übrigens auf offener Straße vor einer Kirche, erschießen wird. Sondern auch deshalb, weil wir Varianten desselben Satzes auch an anderen Stellen finden, und ausgerechnet den wichtigsten im Roman.

Jedenfalls wenn wir nach der Autorposition fragen, sind es die wichtigsten. „Ich will, dass sie da ist, deshalb schreibe ich“, sagt Lenù in der Mitte der Handlung, und am Ende: „Ich liebte Lila. Wollte, dass sie fortdauerte. Aber ich wollte es sein, die sie fortdauern ließ. Ich glaubte, das sei meine Aufgabe. War überzeugt davon, dass sie selbst sie mir übertragen hatte, als wir Kinder gewesen waren.“ In dieser Aussage, dass Lila schon als Kind den Auftrag erteilt haben soll, kulminiert die Unwahrscheinlichkeit ihrer poetischen Existenz. Lenùs Satz aber, „Ich will, dass sie da ist“, der sich, wie wir sahen, auch Michele aufdrängt („er begehre sie, damit sie fortdauere“), heißt auf Lateinisch Volo ut sis. Er wurde von Augustin formuliert und bezeichnet die Liebe Gottes im doppelten Sinn: einerseits, dass Gott die Menschen und ihre Welt erschafft, weil er sie liebt (dem Nihilismus entreißt, wie Paulus die Genesis las: Gott, der „die Nicht-Seienden als Seiende ruft“, Römer 4, Vs. 17), und andererseits, dass es diesen Gott selber nur gibt, weil und wenn wir ihn lieben (er ist anders gesagt eine Hoffnung, die man „proleptisch“, wie die Theologen sagen, zur Basis des eigenen Handelns machen kann). Ich zitierte schon, dass Lila etwas von einem schrecklichen Engel hat. Dies aber nicht nur, weil sie schön ist. Gleich nachdem Michele so sonderbar über sie gesprochen hat, hören wir von Alfonso, einem Schwulen, eine noch ungewöhnlichere Charakterisierung: „Sie hatte etwas Schreckliches an sich, das in mir den Wunsch weckte, auf die Knie zu fallen und ihr meine geheimsten Gedanken zu beichten.“

[Weiter zu Teil III.]

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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