Die Farbe Lila (IV)

L'amica geniale Elena Ferrantes Fazit über das Geschlechterverhältnis ist düster. Nino ist kein Patriarch und doch irgendwie unerträglich

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Realismus? Beim ersten Lesen fällt man auf Ferrante herein. Weil alles so spannend ist
Realismus? Beim ersten Lesen fällt man auf Ferrante herein. Weil alles so spannend ist

Fotos: Andrea Artz/Laif, Mario de Biasi/Mondadori Portfolio/Getty Images (rechts)

[Beginnen mit Teil I - Teil II - Teil III]

Hat Lila etwas „falsch gemacht“? Das will ich zum Schluss noch ausführlich erörtern. Wir haben gesehen, ein inkarnierter geschichtlicher Gott muss sich die Frage gefallen lassen. Schon die antike Kirche kam nicht umhin, ihm neben der göttlichen eine menschliche Natur zuzuschreiben. Da Menschen Fehler machen, kann auch ein Gottmensch davon nicht ausgenommen sein. Mögen sich die Evangelisten der Antike darüber hinweggesetzt haben, eine Schriftstellerin unserer Zeit kann es nicht mehr. Vielleicht aber handelt es sich gar nicht um „Fehler“; vielleicht muss man Möglichkeitsgrenzen zur Kenntnis nehmen, die auch ein Gott nicht übersteigen kann, aus dem einfachen Grund, dass er geschichtlich ist.

Woran Lila scheitert, habe ich schon angedeutet und brauche es jetzt nur auszuführen. Man mag dann sagen, Ferrante habe sich da etwas ausgedacht, das unplausibel oder nicht repräsentativ sei. Doch über mangelnde Klarheit von ihrer Seite wird man sich nicht beklagen dürfen. Es sind genau zwei Dinge, die Lila nicht gelingen und wohl nicht gelingen können. Was ich schon angedeutet habe, ist, dass sie als Kapitalistin nicht kalt genug ist. Sie ist für Liebe empfänglich. Männer sind das auch immer gewesen, doch aus einer gesellschaftlich überlegenen Position heraus und daher, wenn es sein muss, mit hinreichender Berechnung oder eben Kälte. Die Liebe einer freien Frau wie Lila müsste sich aber einem Gleichgestellten gegenüber bewähren, womit wir zum Zweiten kommen. Der Gleichgestellte ist Nino. Nino ist wie gesagt kein Engel. Lila kann begeistert von ihm sein, die Begeisterung kann in Verachtung umschlagen, beides aber nie von oben herab. Und es kann einen unbewachten Moment geben, in dem die Mauer der Verachtung vorübergehend rissig wird.

Gerade wo sie das Verhältnis zu Nino darstellt und damit exemplarisch das Problem des Zusammenseins der Geschlechter, zieht Ferrante den Nutzen daraus, dass Lila und Lenù zwei Personen und doch auch wieder nur eine sind. Lilas Affäre mit Nino ist zwar wichtig für ihren Lebensweg, aber recht kurz. Sie geht auch eher unentschieden aus. Lila hat für Nino das luxuriöse Leben mit Stefano aufgegeben, beide hausen in einer schlimmen kleinen Hinterhauswohnung, was Nino nur ein paar Wochen lang erträgt. Er läuft dann aber nicht einfach weg, sondern will zurückkehren; das verhindert Antonio, indem er ihn vor Lilas Wohnadresse verprügelt. Antonio hat eigentlich mit Lila gar nichts zu tun, er war Lenùs Freund gewesen. Wenn man die Identität der „Freundinnen“ erwägt, kann man seine Prügelattacke auf Eifersucht zurückführen. Die ausführliche Geschichte der Liebe zu Nino wird denn auch an Lenù durchbuchstabiert. Und nebenbei – dass Lenù mit Antonio, einem der anständigen Männer im Roman, überhaupt befreundet war, hatte den einzigen Grund, dass er die Zeit ihres Wartens auf Nino ausfüllen soll. Er merkt das und es geht ihm schlecht dabei. Nicht nur Nino ist kein Engel, Lenù ist es auf ihre Art auch nicht. Sie weiß, was sie tut, und tut es trotzdem: „Ich benutze dich, und dann werfe ich dich weg.“

Schon als Schulkind hofft sie vergeblich, Ninos Aufmerksamkeit zu erlangen, dann verliebt er sich, als sie Teenager sind, zuerst in Lila. Wie Lenù das hinnimmt und ihre Freundin unterstützt, gehört zu den Indizien, dass die beiden eine Person sind. Später jedoch, als es zwischen Lila und Nino längst aus ist, beginnt Lenùs Geschichte mit ihm. Hier erst werden Leser und Leserin durch alle Höhen und Niederungen einer solchen Beziehung geführt. Lilas Rolle besteht jetzt darin, dass sie – merkwürdig genug - alles, was gegen Nino spricht, früher weiß als Lenù, die sich lange nicht überzeugen lässt.

Dass Nino sich zunächst in Lila und dann erst in Lenù verliebt, passt gut in die theologische Dimension des Romanablaufs. Man spricht davon, dass ein Mann eine Frau „anbetet“, wenn er sie liebt. Jedenfalls um 1968 hat man noch so gesprochen. Wenn wir die Formulierung ernst nehmen, bedeutet sie wahrscheinlich, dass der Mann, um sich der menschlichen Natur einer Frau zu erfreuen, den Umweg über ihre göttliche nimmt. Er wird das nicht bei jeder Frau so machen, „fällt“ er aber „in Liebe“, wovon die Beatles noch sangen, wird es sich so verhalten. Auch wenn er Augustin nicht kennt, wird er dann denken – auch ohne es formulieren zu können -, er wolle diese Frau nicht „vernaschen“, sondern wolle vor allem ihre Existenz, volo ut sis. Bezeichnend genug beginnt die definitive Annährung Lenùs und Ninos am Abend des Gesprächs über den Heiligen Geist. Der sexuellen Vereinigung pflegt auch sonst ein „gutes Gespräch“ vorauszugehen, hier aber wird über Theologie gesprochen. Diesen Beginn hat Ferrante in der vorausgegangenen Liebe zwischen Lila und Nino gleichsam für sich allein festgehalten. Aber die Verkörperung des Beginnens in Lila hat auch selbst einen Beginn und auch da ist das Thema wichtig: Es ist ein Gespräch über Beckett. Lenù hat Lila ein Beckett-Buch geborgt, Lila findet sich in ihm wieder und macht Nino damit bekannt. Wir sahen schon, dass sie in der beständigen Angst lebt, Menschen und Dinge könnten ihre Kontur verlieren und ins Nichts versickern. Theologisch gebildet, wie sie offenbar ist, weiß Ferrante eben auch, dass der Begriff von Gottes „Schöpfung“ deren stetige „Erhaltung“ mit einschließt. Lila ist eine von der Mühe des Erhaltens gestresste Göttin. Sie hat Angst, als Göttin überfordert zu sein und es nicht mehr leisten zu können. Übrigens ist das die einzige kaum kenntliche Spur, die der ökologische Notstand im Roman hinterlässt, wenn man davon absieht, dass die Freundinnen auch „Tschernobyl“ erleben. Es ist dann Lila, die die Kinder ins Haus scheucht, damit der Atomregen sie nicht trifft. Bei Ferrante kränkelt also nicht nur die Kirche – man könnte sagen, die Kirche ist zu unernst, als dass sie in einem solchen Roman überhaupt vorkommen darf, außer ganz am Rande (immerhin aber als Anstoß, denn mit ihrem Kampf gegen einen Priester, den Religionslehrer, beginnt Lenùs Aufstieg) -, sondern Gott selbst hat die Borderline zum Nihilismus vor Augen.

Warum begehren sie Nino?

Lenù lebt jahrelang mit Nino in einem „Zustand unglaublichen Glücks“, wie sie selbst sagt. „In diesen Jahren waren wir ständig unterwegs. Wir wollten dabei sein, beobachten, durchleuchten, verstehen, erörtern, Zeugen sein und uns vor allem lieben.“ Später, als die Beziehung scheitert, will sie im Nachhinein alles schlecht machen. Es bleibt aber unklar, ob Lenù Ferrante repräsentiert, wenn sie so urteilt. Lenù und Nino sind in der Revolte engagiert, haben „Essen und Trinken, kultivierte Gespräche und Sex“ - was kann sie denn mehr vom Leben erwarten? Ja, Kinder noch. Tatsächlich bekommt sie eine Tochter von ihm und er kümmert sich um die kleine Imma, obgleich sie das später bestreitet. Zwar sagt er oft, seine Arbeit lasse ihm keine Zeit, aber dasselbe haben die anderen Töchter, aus der Ehe mit Pietro, von Lenù zu hören bekommen. Zu diesem Zeitpunkt weiß sie schon, dass er seine Ehe, anders als sie, nicht beendet hat. Das ist die erste große Krise, doch Mariarosa, Pietros Schwester, hält ihr entgegen: „Was empfindet eine Frau mit deinem Verstand bei der Vorstellung, dass ihr Glück sich auf den Ruin einer anderen“, Ninos Ehefrau nämlich, „gründet?“ Das beeindruckt sie, obwohl sich auch die Frage stellt, ob er die Andere mehr deshalb nicht verlässt, weil er Mitleid hat, oder weil der Schwiegervater das Institut bezahlt, an dem er zu diesem Zeitpunkt wissenschaftlich arbeitet. Lila hat da schon gewühlt: Mal sehen, ob er sich zu eurem Kind bekennt. Aber er tut es ja. Und Lenù selbst hält ihre Beziehung zu Pietro schon wegen der gemeinsamen Töchter aufrecht, die zum Zeitpunkt der Trennung noch klein sind. Woran man auch sieht, ihr Glück ließ sich eh schon nur mit der Belastung anderer erkaufen. Pietro verhält sich übrigens den ganzen Roman hindurch sehr anständig. Er ist wie Enzo ein Mann, der Nino an Wohlverhalten weit übertrifft, was nur eben nichts daran ändert, dass Lenù nicht ihn begehrt, sondern Nino.

Ich finde es übrigens frappierend, wie viel von dieser Geschichte in meinem eigenen Leben vorgekommen ist. Nicht in allen Einzelheiten, aber in der Struktur. Ferrante hat wirklich den authentischen Roman der „68er“ Generation geschrieben. Ich kannte auch mal eine junge Frau, die ihrem Gatten einen Anderen vorzog, der weit weniger anständig war. Die Tochter schob sie im Kinderwagen vor sich her. Und auch den Gatten habe sie lieb, vertraute sie mir an. „Er ist nur leider so langweilig.“

Als Lenù ihren Geliebten später beim Sex mit der Haushaltshilfe ertappt, fallen Lilas Angriffe gegen ihn auf fruchtbaren Boden. Er schläft ständig mit anderen Frauen, berichtet sie nun. Hätte es längst berichten können, hat aber den Moment abgewartet, wo es Lenù ernstlich erzürnen würde. Aber wie nun? Lenù wusste es doch schon in der Zeit, als er noch unerreichbar für sie war. Damals, noch als Pietros treue Gemahlin, hatte sie geurteilt, er bewege „sich sicher und neugierig durch diese Zeiten“ (für die das Jahr „1968“ steht) und genieße sie eben. „Die Mädchen wollten ihn, und er nahm sie sich, es gab keine Übergriffe“ – sie begehrt ihn deshalb „nur umso mehr“! Was war inzwischen anders geworden, abgesehen davon, dass er ihr nun gehörte? Es wird deutlich gesagt: „Nein, Nino überzeugte mich nicht mehr wie früher. Er sprach, ich weiß nicht, provokativ und verschwommen zugleich.“ Ein gutes Gespräch steht wohl nicht nur am Beginn einer intimen Beziehung, sondern um sie zu erhalten, muss es fortgesponnen werden oder muss das Fortspinnen wenigstens immer möglich sein. Zwischen Lenù und Nino indes hat sich politische Entfremdung ausgebreitet, tritt mehr und mehr an die Oberfläche und rührt offenbar daher, dass Nino von der Revolte abrückt.

Und dies rührt seinerseits daher, dass immer klarer wird, dass die Revolte vorbei ist. Nun hat er auch für Imma viel seltener Zeit als bisher. Aber Lenù hat unrecht, wenn sie seine Abkehr als Opportunismus deutet. Dem Leser wurde vielmehr schon auf Seite 58 des ersten Buchs mitgeteilt, dass Nino ein Mensch ist, der „einknickt“. Er ist insofern Lilas idealtypisches Gegenteil; beide zusammen kehren die uralte Gender-Zuschreibung um, derzufolge Männer – mit Lévi-Strauss zu sprechen – „alle ihre Unternehmen bis zum Ende durchführen“ müssen, während Frauen „das Recht, aufzugeben“, besitzen. Auch hat Nino schon vor 1968 ein „Klassengleichgewicht ohne Gewalt“ präferiert, während Lila „Gewalt für unvermeidlich“ hielt. Daran, dass Lila, Lenù und auch Nino typische „68er“ werden, ändert das gar nichts. Gleichviel: Was Lenù jetzt bemerkt, sind nicht nur Ninos viele Freundinnen, sondern dass er sie alle nur für seine Karriere benutzt habe. Auch sie habe diese Rolle für ihn gespielt, ist doch ein Buch von ihm auf ihre Fürsprache hin erschienen. War also der jahrelange „Zustand unglaublichen Glücks“ nur Täuschung? Wäre es besser gewesen, es hätte ihn nicht gegeben? Auf den sehr düsteren letzten Seiten des Romans hat es den Anschein. Und Lila hatte von Anfang an davon abgeraten. Aber letztlich lässt Ferrante den Leser und die Leserin mit der Frage allein. Wenn ich selbst urteile, sage ich vielleicht nur, dass sich Liebe und Revolte nicht trennen lassen.

Erwähnen wir auch, dass Lila selbst den Beginn ihrer kürzeren Liebe zu Nino mit den Worten kommentiert hatte, er habe „die Macht des Retters“ gehabt und sie mehr als einmal „dem Tod entrissen“. Dabei dachte sie, wie Lenù bemerkt, an „den Begriff der Auferstehung“. Gleich darauf hatte Lenù verallgemeinert, er sei für beide Freundinnen der einzige Mensch, „der in der Lage war, sie zu retten“. Ich habe den Nino-Komplex so ausführlich erörtert, weil ich unterstreichen will: Der Mann mit seinen Fehlern ist ärgerlich genug, ganz eindeutig ist aber auch, dass Lila / Lenú gerade ihn wollen, obwohl es Männer mit viel weniger Fehlern gibt, weniger sogar als sie selbst Fehler haben. Das ist ein Punkt, in dem beide „Naturen“, die göttliche und die menschliche, überstimmen. Marx hätte wohl gesagt, er gehöre „zu den Bedingungen des Problems“.

Drei Konfusionen

Dass bisherige Revolten und Revolutionen den Kapitalismus nicht beenden konnten, hat viele Gründe. Die letzte hat immerhin die Selbstbefreiung der Frauen einen großen Schritt vorangebracht. Aber deshalb erscheint auch ihr antikapitalistischer Kampf bei Ferrante in neuem Licht. Ich habe es der Sache nach schon erzählt: Michele Solara, der Camorra-Kapitalist, weit weniger anständig als Nino, der es auch nicht ist, doch ein begehrter Frauenheld wie er, ist in Lila schwer verliebt. Wie wir sahen, ist er es, der ihre „göttliche Natur“ am klarsten erfasst: Er begehre sie, „ohne sie beschädigen zu wollen, damit sie fortdauere“ – volo ut sis. Aber Lila hasst ihn als ihren größten Feind. Überhaupt sind er und seine Familie im Roman das Feindsymbol aller „68er“. Zusammengefasst könnte man sagen, das ist ein Kapitalist mit Nino-Anteil. „Michele“, urteilt Lenù sogar, „auf den genau wie auf Nino alle Frauen flogen“, sei „im Gegensatz zu Nino zu uneingeschränkter Liebe fähig“ gewesen.

Allerdings steht er anders als Nino auch für das Patriarchalische, das der Roman übrigens anschaulich genug beschreibt. Die Täterseite mit aller Gewalt und Ideologie wie auch die Seite der Opfer als Komplizinnen. Schon wenn die Kinder Familie spielen, sagt das Mädchen zum Jungen, „du musst mir eine Ohrfeige geben“. Und Lenù zitiert ihre Mutter: „So ist das ganze Leben: Mal fängst du Schläge und mal Küsse.“ Das Patriarchat erschöpft indessen das Problem nicht, was Lenù mindestens ahnt, denn nach dem Zitat fährt sie fort: „Aber sie führt es auf die Unbekanntheit des Anderen zurück. Auch Nino ist undurchschaubar, dachte ich.“ Anders als Lenùs Vater, von dem die Mutter liebend gesprochen hat, ist Nino kein Patriarch und doch irgendwie unerträglich.

Man muss also hervorheben, der „Nino-Anteil“ unterscheidet sich nicht nur von Micheles kapitalistischer Seite, sondern auch von der patriarchalen. Er kommt zu beiden als Drittes hinzu. Aber der Versuch, sich mit Michele in einen auch nur zeitweiligen „Zustand unglaublichen Glücks“ zu begeben, ist unmöglich und ganz ausgeschlossen. Um ihn zu bessern? Hätte sich Lila das fragen sollen, weil er von sich aus solche Besserung zu begehren scheint? Das könnte theologisch gesehen ja naheliegen. Ferrante spielt darauf an, indem sie Pietro sagen lässt: „Sie und dieser Michele sind wie füreinander geschaffen. Wenn sie nicht schon ein Paar sind, werden sie es bald sein.“ Aber es verbietet sich, weil Lila auf dem Gebiet ihre Erfahrungen hat. Auch Stefano, der andere Camorra-Kapitalist, den sie geheiratet hatte, war ihr als einer erschienen, der einen Neuanfang wagen wollte. In ihm hatte sie sich getäuscht. Dass auch er sie trotz seiner schlechten Züge ehrlich liebte, hat nichts zum Besseren gewendet. Man muss wohl sagen, eine gewisse Spielart „ehrlicher Liebe“ sei geradezu ein charakteristischer Zug des Patriarchalen. Hätte sie etwa mehr Geduld haben müssen? Nein, das wäre verrückt gewesen. Selbst Kapitalistin zu werden, war wirklich das Einzige, was sie tun konnte.

Es geht dann so weiter, dass sie Michele eine Ersatz-Lila zuspielt - Alfonso, den Schwulen. Wie Lenù beobachtet, entsteht zwischen Alfonso und Lila eine „sonderbare Verbindung, sie beruhte offenbar auf einem verborgenen Fließen, das ihn, von ihr ausgehend, formte“, bis er zum „Ebenbild Lilas“ wird. (Wir wissen, dass Gott die Fähigkeit hat, ein Ebenbild von sich zu schaffen.) Dabei hatte Lila ihm früher einmal gesagt, „schlag dir aus dem Kopf, dass du eine Frau sein kannst wie ich, das Einzige, was du erreichen könntest, wäre, eine Frau zu sein, wie ihr Männer sie euch vorstellt“.

Dieses Element der Handlung, das zu denen gehört, die ihren Scheinrealismus sprengen, ist vielleicht das rätselhafteste überhaupt. Soll man es als Symbol und Losung der Geschlechtertrennung auffassen? Dass also Männer mit Männern, Frauen mit Frauen sich abgeben sollen? Lila schläft auch mit Enzo, den sie schätzt, nur lustlos. Sogar als sie mit Nino schlief, ja als sie ihn küsste, tat sie es nur ihm zuliebe. Soll man gar denken, Alfonso als Ersatzfrau sei ihre Art, Micheles auf sie gerichtetem Begehren entgegenzukommen? Wie auch immer, es geht nur eine Zeitlang gut. Michele kehrt zum Heterosex zurück, hasst Lila nun sehr und Alfonso wird ermordet. Und das ist längst noch nicht der Höhepunkt der Eskalation. Nicht nur dass Lila Michele abgewiesen hat, sie versucht nun ihn und seine Familie zur Strecke zu bringen, was ihr aber misslingt. Sie glaubt, er könne durch eine Veröffentlichung der kapitalistischen und Camorra-Schandtaten, für die sie Beweise gesammelt hat und es mit Lenù zusammen aufschreibt, vernichtet werden. Da täuscht sie sich, die Solaras sind zu gut in der Gesellschaft verankert. Vielmehr hat sie selbst sich ihr eigenes Grab geschaufelt.

Und sie weiß es. Sie verliert die Lust, morgens aus dem Bett zu steigen. Michele hat ihr ins Gesicht gesagt, sie werde alles verlieren. Sie wartet darauf. Und verliert ihre Tochter. Lenù vermerkt, dass im Moment, wo es passiert, Marcello Solara und seine Frau auf der anderen Straßenseite vorübergehen. Später werden Marcello und Michele, wie erwähnt, vor der Kirche erschossen. Lila, die es wohl getan hat, auch wenn Lenù darüber nicht nachdenken will, hat zu diesem Zeitpunkt ihre Beliebtheit im Rione schon verloren, erscheint den Leuten als böse Hexe. Denn die Erwartungen, die man in sie gesetzt hat, hat sie nicht erfüllt. Das führt auch zum Niedergang ihres Geschäfts. Sie verkauft es, ist keine Kapitalistin mehr. Wir haben nur einer Vendetta zugeschaut - der Kapitalismus geht weiter.

So gewinnt man den Eindruck, in unserer Lage könne auch ein Gott nur mit dem Kopf gegen die Wand rennen und in ihr verschwinden. Was ist diese Wand? Wüssten wir es genauer, wäre schon viel gewonnen. Ferrante tut das Ihre und das ist eigentlich die Leistung ihres Romans. Sie zeigt drei Konfusionen auf. Die erste ist der „Nino-Anteil“ in Michele Solara: Es ist Lila nicht zuzumuten, sich auf ihn einzulassen – aber selbst wenn es zumutbar wäre und sie es auch täte, wäre vorher schon klar, dass nichts herauskommen würde, da sie ja auch mit Nino allein nicht klarkommen kann.

Die zweite Konfusion ist die, die sich im schrecklichsten Moment zeigt: Nicht nur Michele als Kapitalist und Patriarch, auch Lila selbst als Kapitalistin hat den „Nino-Anteil“, was in ihrem Fall heißt, dass sie nicht aufhört zu begehren und ihr deshalb die hinreichende Kälte fehlt. Und das ist nicht Ninos Schuld. Ich sage es noch einmal: Da es auch anständige Männer gibt, warum tun sich Lila / Lenù nicht mit denen zusammen? Warum begehren sie Nino? Warum wollen sie von ihm ein Kind, in welches sie die Zukunft setzen? Lenù will es ausdrücklich, doch auch Lila müssen wir den Wunsch unterstellen, da es im schrecklichen Moment Ninos Kind ist, das sie in Armen hält. Wenn man von Schuld überhaupt sprechen will, ist das ihre eigene Schuld. Nino, von dem sich beide längst distanziert hatten, war gekommen, weil Lenù ihn aufgefordert hatte, sich um Imma zu kümmern, sein Kind. Aber alle Kinder, alle Mädchen sind von ihm begeistert. Und so fangen sie bald an, sich um ihn zu streiten. Er versucht den Streit zu entschärfen, indem er mit allen auf die Straße geht und ihnen sein Auto zeigt. Dann kommt auch Lila dazu.

Man kann sich natürlich Frauen als Kapitalistinnen, die hinreichend kalt sind, leicht vorstellen, aber damit wäre dann auch nichts gewonnen. Dann ginge der Kapitalismus mit anderem Personal nur weiter. Lila ist nicht nur Kapitalistin, wir haben sie auch als „Tochter Gottes“ gedeutet, was zur dritten Konfusion führt. Indem sie sich als freiere Frau zeigt, die Bedeutung der Digitalisierung früh erkennt und sie in in der einzigen vorerst zukunftsfähig scheinenden Form, als Charaktermaske des Kapitals nämlich, vorantreibt, verkörpert sie eine historische Tendenz. Aber das ist nur ihre „göttliche Natur“. Anders als im Dogma von Chalkedon behauptet, zeigt sich am Schicksal ihres „Nino-Anteils“, dass „Naturen“, die ungetrennt sind, sich dann auch notwendig vermischen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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