Die Fassung von 1968

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Gestern begann die eigentliche Hommage an Boulez. Von gestern an bis zum Montag, dem letzten Tag des Musikfests, stehen jeden Abend Werke von ihm auf dem Programm. Er war auch anwesend. Morgen dirigiert er selbst, am Montag wird sein Freund Barenboim nicht nur dirigieren, sondern auch seine Werke erläutern. Der Komponist sitzt dann sicher immer noch in der achten Reihe. Es war schon gestern ein würdiger Rahmen, denn die Philharmonie war einigermaßen gut besucht, obwohl die Figures - Doubles - Prismes, die gegeben wurden, kein besonders bekanntes Werk sind.

Es gehört zu denen, die in mehreren Fassungen vorliegen und, mehr noch, bei denen man nicht weiß, ob sie schon "fertig" sind. Diese Frage stellt sich bei Boulez' Kompositionsweise nicht fallweise und zufällig. Sie hat systematischen Stellenwert. Ich habe sein Verfahren, eine Komposition "wuchern" zu lassen, im letzten Eintrag vielleicht etwas zu harmlos beschrieben. Es läuft darauf hinaus, eine Frage klar zu stellen, schrieb ich sinngemäß: Man muss dann wissen, welche Antworten möglich sind, und zählt sie deshalb auf oder könnte sie aufzählen. Aber es gibt Fragen, bei denen gar nicht gleich alle denkbaren Antworten absehbar sind. In diesem Fall erfährt man erst dadurch, dass man tatsächlich antwortet, was man eigentlich gefragt hat. Zum Beispiel, mit wem werde ich mich befreunden? Wenn ich dann einen Freundeskreis habe, weiß ich mehr über mich selbst, den Fragenden.

Auch historischen Epochen liegen vielleicht etwas wie Leitfragen mit zugrunde, die erst nach und nach als solche hervortreten; am meisten dann, wenn sie allmählich aufhören, sich überhaupt noch sinnvoll beantworten lassen. So glaube ich ja, dass unsere westliche Kultur seit Jahrhunderten von der Frage getrieben ist, wie sie im Unendlichen anlangen kann, und heute zunehmend den katastrophischen Effekten und Kollateralschäden eines solchen Unterfangens begegnet. Die Art aber, wie das durch eine lange Folge von "Antworten" immer mehr zutage getreten ist, kann allerdings ein "Wuchern" genannt werden.

Was Boulez angeht, ist keineswegs ganz klar, ob das "Wuchern" der Konsequenzen, die er aus einem Reihenmaterial zieht, mehr darauf zielt, eine optimale und dann gültige Antwort zu erreichen, oder ob es mehr ein passiver Spiegel der epochentypischen Faszination des Unendlichen ist. Epochentypisch ist auf jeden Fall, dass Boulez gern im letzteren Sinn gedeutet wird. So lesen wir in einem Beitrag zum Berliner Musikfest (von Paul Griffiths), "gerade das" sei Boulez' "Antwort": "Wenn Tonalität aufgrund der Schlusskadenz die Bewegung zu einem Ziel bedeutet, öffnet die serielle Musik 'ein Universum in ständiger Ausbreitung'." Eine "Aura des Unvollendeten" umgebe deshalb "seine Werke wie ein glitzernder Nebel". In dieser Form kann das nicht stimmen, denn gerade seine anerkanntesten Werke wie Le marteau sans maitre und Pli selon pli (von denen hier noch die Rede sein wird) sind ganz eindeutig abgeschlossen.

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Von Boulez selbst gibt es verschiedene Auskünfte, er nimmt einem die Deutungsmühe nicht ab. Im Gespräch mit Deliège sagt er, ein Werk lasse ihn so lange nicht los, wie er mit ihm unzufrieden sei. Beim Frühwerk Le Soleil des eaux zum Beispiel "befriedigten mich vor allem die drei Solisten nicht, denn die Balance mit dem Orchester war schlecht. Ich habe also zunächst die Gewichtsprobleme zwischen den Stimmen und dem Orchester bereinigt" und so weiter. Die Verallgemeinerung: Weil "etwas, mit dem ich nicht zufrieden bin, in meinem Gedächtnis haften bleibt und ich es nicht abschütteln kann", ist es "immer da und zwingt mich zu einer Überarbeitung". Das geht nicht endlos: "Jetzt bin ich zufrieden, jetzt ist es ein Werk, das hinter mir liegt, ich habe es aus dem Gedächtnis entlassen. Im Hinblick auf eine Überarbeitung belastet es meine Gedanken nicht mehr."

Er bringt das ausdrücklich mit dem Begriff "Wucherung" zusammen, der dem Begriff "Endpunkt" aber nicht widerstreitet: "andere Werke stehen noch im 'Fabrikationsprozess', weil für mich die Wucherung wichtig ist. Die Ideen gehen mir so lange nicht aus dem Sinn, bis ich diese Wucherung voll ausgeschöpft habe. Ich kann mich von ihnen erst freimachen, wenn die Wucherung ihren Endpunkt erreicht hat." (Wille und Zufall, Stuttgart Zürich 1977, S. 51 f.) An und für sich könnten diese Sätze so gedeutet werden, als ginge es darum, ein Reihenmaterial in allen nur denkbaren Möglichkeiten auszureizen. Aber abgesehen davon, dass wir schon aus anderen Passagen desselben Gesprächs wissen, dass Boulez vielmehr die "Entscheidung" sucht - ich habe es in einem früheren Eintrag zitiert -, spricht gerade die jetzt herangezogene Passage recht eindeutig für eine Suche bloß nach dem optimalen Höreindruck. Wenn nämlich die "Gewichtsprobleme bereinigt" sind, hört die Wucherung auf. Im Grunde heißt das, es ist gar keine Wucherung, kein automatisches Komponieren, das mit blinder Biologie vergleichbar wäre, es ist vielmehr ein bewusstes Abwägen.

Dennoch können wir nicht übersehen, dass Boulez sich wenn nicht in seiner Kompositionspraxis, dann doch mindestens verbal von dem beeindruckt zeigt, was Deleuze/Guattari unter der Wucherung verstehen. Deren Buch war fünf Jahre vor dem Boulez-Gespräch erschienen. Wie im Anti-Ödipus mit Worten des Dichters Henri Michaux (den auch Boulez geschätzt und den er vertont hat) von einem "Tisch mit Zusätzen" die Rede ist - "so wie gewisse überladene Zeichnungen Schizophrener gemacht sind", "Tisch, der immer mehr von einem Haufen, immer weniger von einem Tisch an sich hatte" -, so zieht Boulez, um zu begründen, dass die "großen Komponisten" für "eine Geschichte der Zerstörung" stünden, "wobei sie das Objekt, das sie zerstörten, gleichzeitig liebten", den folgenden Vergleich heran:

"Denken Sie an Gegenstände, die man in kalkhaltiges Quellwasser legt. Wenn Sie einen einfachen, gewöhnlichen Gegenstand hineinlegen, einen Stein oder ein Ei, dann bekommt er eine modifizierte Gestalt. Im ersten Versteinerungsgrad verschwinden alle Besonderheiten der Form [...] und nach und nach wird dieser Gegenstand unförmig, von Kalk völlig überladen, es entsteht ein 'barockes' Objekt, ein Objekt, dessen ursprüngliche Funktion mit dieser Wucherung nichts mehr zu tun hat, sie nicht mehr rechtfertigen kann."

So könne auch das Kunstobjekt "derart übersättigt" sein, "dass es seine Daseinsberechtigung eingebüßt hat: man trennt sich von ihm und sucht nach etwas anderem". (S. 22 f.) Freilich, die Seiten, die ich hier zitiere, handeln vom Prozess einer Epoche, nicht vom individuellen Komponieren. Dafür könnte das Bild des "Unförmigwerdens" durchaus passend sein.

Jetzt in einem Interview während des Musikfests (mit Olaf Wilhelmer; Sendung am Samstag, 21 Uhr 30, in DLR Kultur) sagt er: "Ich habe es nicht gerne, wenn die Stücke fertig sind. Ich habe immer die Türe geöffnet für einen neuen Gast." Das sagt er aber, um die Sätze davor zu verallgemeinern, die doch wieder, so scheint mir, sein Streben nach Vollendung belegen. Es geht um ...explosante-fixe..., das Werk, das er morgen dirigieren wird: "Dann habe ich versucht, das Stück elektronisch zu realisieren, aber die Mittel waren damals einfach zu primitiv; ich hatte mich verkalkuliert. Aber ich wusste, dass ich eines Tages darauf zurückkommen würde. Das Material war offen, und ich habe später drei Abschnitte daraus aufgegriffen."

Eine gewisse Zweideutigkeit ist nicht zu leugnen. Als Mann der Epoche kann Boulez nicht frei von ihr sein. Aber er setzt sich mit ihr auseinander, und ich meine, man erkennt die Richtung, die er einschlägt. Es ist ja auch wahr, dass die Tür geöffnet sein sollte. Wir wollen frei sein, nicht im Gefängnis sitzen! Nur folgt daraus nicht der Satz "Wenn die Tür geöffnet ist, muss man sie durchschreiten", oder "Alles, was möglich ist, muss verwirklicht werden", oder "Wenn es ein Höchstes Wesen gibt, dann fallen bei ihm Möglichkeit und Wirklichkeit ineins". Dieses Wesen hatte die abendländische Philosophie Jahrhunderte lang begeistert beschrieben, bis Karl Marx kam und behauptete, es sei das Kapital.

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Nun stellt sich also auch bei Figures - Doubles - Prismes die Frage, ob das Werk schon fertig sei. Boulez sagt dazu im Gespräch mit Deliège: "Das Werk ist nicht unvollendet, aber ich möchte gern noch weitere Sätze komponieren. Es ist in dem Sinn vollendet, als die zwei Sätze das sind, was sie sind." (S. 113) Das Gespräch wurde 1976 geführt. Da hatte es bereits die Entstehungsdaten 1957/58 - 1963/64 - 1968. An der Fassung von 1968 wurde bis heute nichts verändert, doch kann man nicht widersprechen, wenn es im Programmheft zur gestrigen Aufführung heißt, es sei "nicht ausgemacht, dass dies auch mehr als vierzig Jahre danach der endgültig letzte Stand bleibt" (Habakuk Traber).

Mag es weit hergeholt sein, ich kann nicht umhin, die Frage im Zusammenhang mit der anderen Frage zu sehen, ob man dem Werk einen "Inhalt" zuschreiben kann, von dem es vielleicht abhängt, ob es fortgesetzt wird oder unter Umständen, die nicht eingetreten sind, fortgesetzt worden wäre. Ein Werk von 1968 - sollte es ganz ohne Zeitbezug sein? Wir haben gesehen, dass die wohl wichtigste Komposition Luciano Berios, die Sinfonia aus dem gleichen Jahr, diesen Bezug ganz eindeutig hatte. Es ist übrigens merkwürdig, wie Berio diesen vorklassischen Titel wählt, nachdem Boulez von Doubles gesprochen und damit ebenfalls eine verflossene Bezeichnung, in seinem Fall für Variationen, wieder aufgegriffen hat. Sollte in beiden Fällen das Vergangene die paradoxe Metapher des Bevorstehenden sein?

Eine Paradoxie solcher Art finden wir jedenfalls im Innern des Boulezschen Werkes. Der Komponist bezieht sich ausdrücklich - mit einer Art musikalischem Zitat und mit seinem verbalen Kommentar - auf das Violinkonzert von Alban Berg, das seinerseits den Bach-Choral "Es ist genug!" zitiert, aus der Kantate "O Ewigkeit, du Donnerwort". Während das Violinkonzert eine Trauermusik ist und tatsächlich so todtraurig wie resignativ klingt, sind die Figures ein nahezu beschwingtes, jedenfalls helles und dabei auch kraftvolles Stück. Manche Stellen hören sich an, als habe Boulez auf das Scherzo von Beethovens Neunter anspielen wollen, eine Revolutionsmusik. Hatte Boulez in einem anderen Sinn als Berg "genug", nämlich von den Mächten, gegen die 1968 revoltiert wurde - denen etwa, die in Vietnam Napalmbomben abwarfen? Oder der Pariser Polizei? Wenn das so wäre, würde es mich nicht wundern, dass er das Stück gern fortgesetzt hätte, und ebenso wenig, dass er es nicht tat.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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