Die Gegenrechnung

Atomkraft Die Parteien haben den Ausstieg nicht ­ge­schafft, obwohl die Mehrheit der Deutschen die Atomtechnologie ablehnt. Jetzt kommt es auf ­Bewegungen wie das Sozialforum an

Das dritte deutsche Sozialforum wird wieder viele Themen erörtern, Friedenspolitik, Sozialpolitik, „solidarische Ökonomie“ stehen auf dem Programm. Doch aus zwei Gründen kommt der Frage des Atomausstiegs besondere Bedeutung zu. Zum einen tagt das Forum diesmal im Wendland, wo die Protestbewegung gegen Gorleben ihren Ort hat. Zum anderen sehen wir in diesen Tagen den Ausstieg aus dem Atomausstieg mit an: Die neue schwarz-gelbe Bundesregierung will die Laufzeiten verlängern, obwohl eine Mehrheit der Bevölkerung die Atomtechnologie weiterhin ablehnt.

Man könnte zunächst fragen, ob ein Forum solcher Art überhaupt zu den „politikfähigen“ Einrichtungen gehört. Die vielen Zirkel und Initiativen, die sich hier austauschen, sind das typische Gerüst dessen, was eine soziale Bewegung ausmacht. Was können „Bewegungen“ dem Erfolg der Atomlobby schon entgegensetzen? Heute wird man indes die Gegenrechnung aufmachen: Parteien haben den Einsatz der Bewegungen nicht überflüssig gemacht. Der rot-grüne Atomausstieg ist keiner gewesen, wie sich übrigens von Anfang an abgezeichnet hat. Denn die Niederlage haben wir längst hinter uns: Wenn nicht schon die Schröder-Regierung Restlaufzeiten von erheblicher Länge zugelassen hätte, könnte man diese nicht zehn Jahre später verlängern. Vom Freitag im Bundestagswahlkampf 2005 darauf angesprochen, dass ein solcher „Ausstieg“ jederzeit rückgängig gemacht werden kann, hat die grüne Parteivorsitzende Claudia Roth entrüstet geantwortet: Das sei die Demokratie! Die Bürger müssten eben richtig abstimmen, sich selbst dadurch ständig engagieren! Doch wenn in der Demokratie eine Partei oder Parteienkoalition darauf hofft, ständig an der Regierung zu sein, macht sie sich unglaubwürdig. Die Parteien haben den Ausstieg nicht geschafft. Jetzt sind wieder die Bewegungen an der Reihe.

Wo ist heute noch etwas im Fluss?

Was kann eine Bewegung tun? Sie kann die Stimme der Bevölkerungsmehrheit auf andere Weise, als es die Parteien tun oder tun sollten, sichtbar repräsentieren. In der Frühzeit der Anti-Atombewegung wurden vorgesehene Plätze für Atommeiler besetzt, das brachte viel Aufsehen, wie es heute allenfalls die Blockade der Schienen, die nach Gorleben führen, erreichen kann. Der Protest einer Bewegung muss sich an einem realen Ort entzünden können, wo entweder die Dinge noch im Fluss sind oder ein Symbol angetroffen wird, das die Skandalbedeutung des Sachverhalts ins Auge springen lässt. Dafür ist Gorleben ein ständiges Beispiel. Die Frage der Laufzeiten lässt sich jedoch nicht an den Werktoren der Meiler veranschaulichen. Wo ist heute noch etwas im Fluss? Wer die Frage so stellt, findet sich an die Wählerbasis von FDP und Unionsparteien verwiesen. Das mag manchem Linken, der ein Sozialforum besucht, nicht gefallen, aber es ist doch wahr: Wenn es eine Bevölkerungsmehrheit gegen die Atomtechnologie gibt, dann müssen auch viele Wähler des rechten Parteilagers zu ihr gehören, und es käme also darauf an, zwischen Wählerbasis und Parteirepräsentanz einen Streit zu entfachen. Eine mögliche Methode bestünde darin, Parteitage und Parteitreffen aller Art zu besuchen.

Wahrscheinlich ist inzwischen auch wieder Aufklärung vonnöten, wie sie durch Plakataktionen in Einkaufsstraßen geleistet werden kann, weil den Regierenden immer neue Ausflüchte einfallen. So sagen sie heute, die Atommeiler seien ja auch in ihren Augen nur eine „Brückentechnologie“. Das soll sich anhören, als dächten sie fast genauso wie die Atomgegner, tatsächlich sagen sie aber nichts, was sich nicht von selbst versteht. Denn dass es auch mit den Uranfunden ein Ende haben wird, ist klar; darauf hatten wir nicht warten wollen.

Eine Bewegung kann auf die Straße gehen, doch mindestens ebenso wichtig ist ihre Vordenkerfunktion. Die Gruppen engagierter Menschen, die beim Sozialforum zusammensitzen werden, können neue Programme und Utopien entwerfen, das haben sie auch vor, und vielleicht springt der Funke einmal auf die Bevölkerung über. In welcher Weise kann der Atomprotest programmatisch verallgemeinert werden? Ist er nicht auch ein exemplarischer Kampf für mehr Demokratie? Warum zählt die Stimme der Bevölkerung nichts, wenn es um die Entscheidung über Grundlinien der Produktion geht? Dafür ist die Produktion von Energie ein Beispiel, nicht das einzige. Kann man nicht Demokratieformen ermitteln, vorschlagen, propagieren, in denen der ökonomische Mehrheitswille zur Geltung käme?

Parteien sind selten von sich aus ideenreich, meist greifen sie nur Vorstellungen auf, die andere ins Spiel bringen, Lobbyisten, aber auch Bewegungen. Die grüne Partei ging einmal aus Bewegungen hervor. Dieser Impuls ist lange verbraucht. Jetzt müssen wir vielleicht wieder von vorn anfangen.


Sozialforum im Wendland

2001 fand im brasilianischen Porto Alegre das erste Weltsozialforum statt als Gegenveranstaltung zum jährlichen Treffen der Eliten beim Weltwirtschaftsforum in Davos (Schweiz). Auch in Deutschland entstand bald eine Initiative für ein Sozialforum in Deutschland.

Das erste nationale Treffen fand 2005 im thüringischen Erfurt statt. Zwei Jahre später machte das Sozialforum im brandenburgischen Cottbus Station. Wenige Wochen nach der Bundestagswahl laden die Veranstalter erstmals in den Westen ein ins Wendland. Zu den Initiatoren zählen Gewerkschaften, die Globalisierungskritiker von Attac und lokale Gruppen.

Die Atompolitik von Schwarz-Gelb und der Austragungsort nahe Gorleben könnten dem Forum unerwarteten Zulauf verschaffen. Schwerpunkt des diesjährigen Treffens ist unter anderem das Thema Klimagerechtigkeit, die Teilnehmer wollen zu Aktionen beim UN-Gipfel im Dezember in Kopenhagen mobilisieren.

Auf dem Programm steht ein im wahrsten Sinne buntes Angebot: von der Pferdegetützten Psychotherapie über Diskussionen zur Antikrisenpolitik aus Frauensicht bis zur Konferenz über die Perspektiven der Protestbewegungen nach der Bundestagswahl.

sozialforum2009.de

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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