Ist das "noch" normal?

Gesellschaft Normen und Normalverteilung sind nicht dasselbe, werden aber systematisch verwechselt. Was passiert, wenn die Normalität einer Gesellschaft zerbricht?
Ausgabe 23/2013

Ob ein Individuum normal ist oder nicht, ist nicht primär eine psychologische Angelegenheit. Denn zuerst stellt sich die Frage, ob die Gesellschaft normal funktioniert, in der das Individuum lebt. Wenn die Normalität der Gesellschaft zerbricht, werden manche Individuen kompensatorisch einspringen, indem sie noch normaler werden als bis dahin üblich war. Das ist paradox formuliert die These des Bochumer Literaturwissenschaftlers und Soziologen Jürgen Link zur Situation Europas in Zeiten der Wirtschafts- krise, die er in seinem aktuellen Buch Normale Krisen? Normalismus und die Krise der Gegenwart vorstellt.

Das Paradox liegt darin, dass man meint, zum Ausdruck „normal“ sollte es eigentlich keinen Komparativ und Superlativ geben können. Doch man verwechsle nicht Normalität mit Normen. Eine Norm ist in der Regel einsichtig – denen wenigstens, die sie aufstellen –, und man befolgt sie entweder oder tut es nicht. Normalität dagegen ist die Eigenschaft einer Menge von Ereignissen, die sich nach dem Muster einer Gauß’schen Glockenkurve verteilen – das ist ein nach oben gewölbter Bauch aus einer Linie, die sich an den Enden der Bauchwölbung der Koordinate anschmiegt und sich ihr unendlich annähert. Die meisten dieser Ereignisse sind ganz sicher normal, bei anderen fragt man sich, ob sie „noch normal“ sind und bejaht es vielleicht, während man sich bei wieder anderen entschließt, die Normalität zu bestreiten. Es bedarf da immer eines Entschlusses, da die Linie der Normalitätskurve eben nicht irgendwo von selbst aufhört, sondern unendlich weiterläuft.

Das Maastricht-Kriterium ist ein typisches Beispiel, nicht nur weil es willkürlich (wenn auch so begründet wie möglich) festgelegt werden musste, sondern auch weil es in der Krise aufgeweicht wird und das selbst wieder als normal gilt, solange bestimmte Grenzen – aber welche eigentlich genau? – nicht überschritten werden. Ein noch brisanteres Beispiel ist die Frage, bis zu welcher Kreditvergabemenge an südeuropäische Staaten es sinnvoll erscheint, die Eurozone aufrechterhalten zu wollen. Je deutlicher in solchen Fällen die Unsicherheit beim Ziehen der Grenzen und der krisenbedingte Zwang, sie immer noch ein Stück zu verschieben, öffentlich bewusst werden, desto sicherer kommen manche zu dem Schluss, nichts führe an neu befestigten Grenzen vorbei und man müsse sie möglichst eng ziehen. Link führt das am Beispiel der öffentlichen Resonanz eines Thilo Sarrazin aus.

Normalität kann sinnlos sein

Normalität, so scheint es, ist eine von der größeren Freiheit der Individuen erzwungene Reaktion. Sie sind ja viele, und je freier sie geworden sind, desto komplizierter wurde es, sie zu koordinieren. Normalität ist ein Koordinationsmechanismus, gegen den man an und für sich nichts haben kann. Zu bedenken ist aber auch, dass es nicht nur Normalität, sondern auch noch die Normen gibt. Sollte es nicht so sein, dass freie Individuen sich auf sinnvolle Normen einigen und deren Befolgung oder Nichtbefolgung dann nachträglich als ihre quantifizierte „Normalität“ erscheint?

Tatsächlich sehen wir, wie sich Staaten untereinander auf Normen einigen und die Einigung den griechischen oder zypriotischen Individuen aufzwingen. Und die Staaten wiederum glauben sich nach „dem Markt“ richten zu sollen, zuletzt also werden nicht Normen zur Normalität quantifiziert, sondern umgekehrt wird eine sinnlose Normalität, die über allem schwebt, nachträglich rationalisiert und so erst in Normen gegossen.

Eine Gesellschaft besteht aus vielen „Subsystemen“, wie die Systemtheoretiker sagen: Ökonomie, Politik, Kultur, Moral und so weiter. Normalität bindet nicht nur die Individuen im einzelnen Subsystem aneinander, sondern sorgt auch für die Koordination der Subsysteme untereinander. Denn während jedes zwar eigenen Regeln folgt, die es von allen anderen unterscheidet, stimmen sie alle im Gebot der Normalität überein.

Das hat aber auch zur Folge, dass wenn ein so handfestes Subsystem wie die Ökonomie unnormal zu werden beginnt, die andern Subsysteme wie Dominosteine hinterherfallen können. Der Prozess ist heute in Griechenland zu beobachten: Ökonomie, Soziales, Politik und Massenpsyche stecken sich wechselseitig an; die Neuzulassung von Autos sinkt um 65 Prozent, und ebenso dramatisch steigt die Selbstmordrate. In Ländern aber, die den Bauch der Glockenkurve bilden, wird man nervös und wappnet vorsorglich die Psychologie: Wir sollen genauer hingucken, rät man uns, wo wir „normal“ sind und wo nicht.

Unter dem Titel "Die Gesetzmäßigkeiten der Wirtschaftskrise" erschien dieser Artikel in Ausgabe 23/13 vom 07.06.2013

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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