Die getarnte Minderheit

Mehr als nur »System Schröder« Der Kanzler stützt sich auf wechselnde Verbündete

Eine Frage, die sonst gestellt wird, stellt sich diesmal nicht: Bringt der Kanzler seine Regierungskoalition durch den kommenden Wahlkampf? Alle gehen davon aus, dass er es schafft. Ein »System Schröder« hat´s wohl möglich gemacht. Aber worin dieses besteht, ist eigentlich ein Rätsel.

Die parlamentarische Mehrheit hat er, nur hält man es nicht für möglich, dass sie funktionieren kann. Dieser Tage trat es wieder hervor: Der grüne Parteichef Fritz Kuhn kritisierte Otto Schilys Einwanderungsgesetzentwurf. Seine Partei sei nicht bereit, beim Nachzug der Kinder zwischen erster und zweiter Klasse zu differenzieren. Eine solche Differenzierung steht tatsächlich im Entwurf, weil Schily den Unionsparteien entgegenkommen will. Kinder ausländischer Arbeitskräfte sollen bis zum Alter von 18, Kinder von Asylsuchenden nur bis zum Alter von zwölf Jahren ihren Eltern nach Deutschland folgen können. Warum wird ein Gesetzentwurf der Regierung mit der Oppositions- statt mit der Regierungspartei abgestimmt? Warum lassen sich beide darauf ein, obwohl die CDU dennoch nicht mitregieren kann und die Grünen davon, dass sie mitregieren, kaum einen Gewinn zu haben scheinen?

Und was hat denn Schröders Partei davon? Nehmen wir den anderen aktuellen Fall, den Mazedonien-Einsatz: Dass die Bundeswehr sparen muss, galt lange eisern. Der Kanzler wollte sich auf das Junktim der CDU - Zustimmung zum Einsatz nur, wenn die Armee mehr Mittel bekommt, sprich: aufgerüstet wird - nicht einlassen. Das war nicht SPD-Politik. Und nun macht er es doch. Der FDP hat er´s versprochen, der CDU geht´s nicht weit genug. Aber sie wird nun wieder mitgestimmt oder sich wenigstens der Stimme enthalten oder, sollte sie bei ihrer Weigerung geblieben sein - es stand bei Redaktionsschluss nicht fest -, sich nur selbst geschadet haben. Wer erinnert sich noch, dass sie beschloss, auf ein paar Restfeldern der Politik stur Opposition zu treiben, wo sie es in den zentralen Fragen - Steuerpolitik, Rentenpolitik - schon nicht mehr konnte? Mal für Mal blättert der Widerstand ab, immer mehr schwindet die Chance der CDU, für den Wahlkampf eine überzeugende Alternative aufzubauen - Mal für Mal zeigt sich aber, was ebenso merkwürdig ist, die SPD bereit, ihr weit reichende politische Zugeständnisse zu machen.

Man kann nicht alles damit erklären, dass es Gerhard Schröders Karriere dient und der Mann ein Opportunist ist. Das »System Schröder« muss tiefere Wurzeln haben. Könnte es sein, dass wir es mit einer getarnten Minderheitsregierung zu tun haben? Das wäre von einigem Interesse, besonders wenn der Fall nicht nur übergangsweise bestünde, sondern ein neues Regierungssystem der Berliner Republik einleitete. Spielen wir die These einmal durch! Schröder hat eine »Minderheitsregierung« gebildet und regiert deshalb mit wechselnden Mehrheiten. Daraus erklärt sich, was ungereimt aussieht. Wenn ein bleibendes System daraus wird, bietet es den kritischen Kräften - den Grünen, der PDS - langfristig auch Vorteile.

Wir fangen mit dem an, was oft geschrieben wurde und sicher nicht falsch ist: Die SPD hat der Union die Politik weggenommen, ist dadurch in die Mitte gerückt und scheint die Union in eine strukturelle, langfristige Oppositionsrolle gedrängt zu haben. Dies ist eine internationale Strategie, die man ebenso in Großbritannien (mit Blair) und den USA (mit Clinton) beobachtet hat. Nur wird in diesen Ländern nicht nach dem Verhältniswahlrecht gewählt. In Deutschland konnte man doch nicht erwarten, dass Sozialdemokraten mit einer solchen Strategie die Mehrheit erlangen und behalten würden. Es ist aber geschehen. Man konnte auch nicht erwarten, dass sie die Strategie überhaupt beschließen würden. Und warum gaben sich ausgerechnet die Grünen dazu her, das neue Spiel zu ermöglichen? Schröders Koalition mit der kleinen ökologischen Partei ist das Rätsel in nuce, zudem das Rätsel, das täglich erneuert wird. Die Politik der Regierungspartner passt überhaupt nicht zusammen - warum können sie damit leben, und wie? Eben so: in Wahrheit regiert Schröders Partei allein und die Grünen billigen es. Diese grüne Billigung hat aber noch niemand plausibel erklären können.

Denn auch hier wäre es ja albern, alles auf den Karrieretraum Joschka Fischers zurückzuführen. Nehmen wir einmal an, es ginge darum, ein Regierungssystem wechselnder Mehrheiten einzuführen. Eigentlich regiert die SPD allein. Aber erst die Grünen machen es möglich. Würde die SPD offen allein regieren, käme sie damit nicht durch. Es würde dasselbe passieren wie im »Magdeburger Modell«: die Union würde nicht mitspielen. Die FDP ebenso wenig. Und es käme schlimmer. Im Bundestag kann die SPD vorerst nicht mit der PDS zusammenarbeiten. Sie hätte also niemals eine Mehrheit. Aber da nun die Grünen sie stützen, kann sie regieren. So verfügt sie nämlich über ein ständiges Erpressungspotenzial, das in zwei Richtungen wirkt. Wenn CDU und FDP nicht mitspielen, wirft man ihnen vor, sie verzichteten darauf, ihre eigene Politik durchzusetzen, und zieht sich einfach auf die Regierungsmehrheit zurück. Wenn aber die Grünen nicht mitspielen, heißt es: der Kanzler kann auch eine andere Koalition bilden!

Besonders sie und die FDP können sich dem Spiel nicht entziehen. Die Grünen nicht, weil sie wissen, sie könnten mit einer anderen Partei auch nicht mehr durchsetzen als jetzt. Die FDP nicht, weil sie weiß - Westerwelle sagt es -, dass Schröder keinen Grund hat, die pflegeleichten Grünen gegen einen echten Partner auszutauschen. Die Leichtigkeit des Seins der Grünen ist der springende Punkt. Kann man es rational finden, dass sie sich für eine solche Rolle hergeben? Nun, immerhin wird ihre Politik auch berücksichtigt. Sie spielen weder eine größere noch eine geringere Rolle als CDU, CSU und FDP. Manchmal bildet der Kanzler doch Mehrheiten mit ihnen. Es schlägt einem zwar auf den Magen, dass sie die anderen Fälle, in denen sie faktisch überstimmt werden - wie jetzt beim Einwanderungsgesetz und bald in der Frage der Stammzellenforschung -, ebenfalls als »ihren Erfolg« meinen darstellen zu müssen. Aber andererseits können sie ihre Regierungsfähigkeit beweisen. Das funktioniert so gut, dass zwei grüne Regierungsmitglieder zu den drei beliebtesten Politikern der Republik zählen. Und noch etwas: sie sorgen dafür, dass die SPD regiert und nicht die CDU. Tun sie da das Falsche?

Eben diese Frage sollte man nun auch in den längerfristigen Konsequenzen durchdenken. Ich meine, das neue Modell läuft auf demokratischen Fortschritt hinaus, wenn man sich seine Regeln im Einzelnen anschaut. Denn es gibt weniger irrationale Blockade, dafür mehr rationale Debatte, weniger Verlogenheit und mehr unverhüllt erkennbare Interessen als in den Zeiten der »zwei Lager«. Wir beobachten folgende Regeln: Erstens, die stärkste Partei bildet die Minderheitsregierung. Zweitens, sie redet vor jeder wichtigen Entscheidung mit allen Bundestagsparteien (wobei sie auch ihren Einfluss im Bundesrat spielen lässt). Sie versucht allen »so weit wie möglich« entgegen zu kommen. Drittens, sie äußert zunächst nur vorläufige Ideen. Sie legt sich fest, sobald sie den Überblick über die Standpunkte der anderen gewonnen hat. Sie ist auf der Basis dieser Festlegung »so weit wie möglich« zu Kompromissen bereit. Viertens, zuletzt entscheidet immer die Mehrheit, und es gibt unterlegene Minderheiten. Diese sind aber »einverstanden«, weil sie angehört worden sind und meistens Spuren im Mehrheitsbeschluss hinterlassen haben. Manchmal tun sie so, als gehörten sie der Mehrheit selber an.

Die fünfte Regel ist besonders interessant. Es könnte nämlich vorkommen, dass die regierende Partei mit den vier Regeln eine Mehrheit organisiert, der sie selbst gar nicht angehört. Und auch das wäre nicht schlecht. Sie selbst ist nun diejenige Kraft, die im Mehrheitsbeschluss nur Spuren hinterlässt. Es werden doch immerhin besonders kräftige Spuren sein, da eine Regierung besonders viel Macht hat. Die regierende Partei handelt also im eigenen Interesse. Sie handelt aber auch demokratisch, verhält sich als »Exekutive« im striktesten Wortsinn, wenn sie das Gesetzgeben dem Parlament und seinen Mehrheiten überlässt. So war »Parlamentarismus« einmal gemeint! Gerhard Schröder ist wahrscheinlich der letzte, den das interessiert, aber grundsätzlich kann seine Politik so verstanden werden. Wir kommen so nämlich auf den Ausgangspunkt zurück. Alle sagen, die SPD habe der CDU »die Politik weggenommen«. Das heißt eben: in den grundsätzlichen Fragen hat Schröder Mehrheiten gegen die eigene Partei organisiert, die sich viel eher in Lafontaines Politik wiedererkannt hatte.

Es ist doch klar, dass sie das nur als Minderheitsregierung tun kann. Parteien, die linker sind als sie, werden ihr doch darin nicht folgen. So entsteht niemals eine »neue linke Mehrheit«! Das wusste die SPD. Sie musste sich entscheiden: Sollte sie, um der neoliberalen Bedrohung der Gesellschaft standzuhalten, ihren jahrzehntelangen inhaltlichen Basiskonsens mit der CDU aufkündigen? Unter den Bedingungen, die nach dem Zusammenbruch des Ostblocks eingetreten sind, wäre sie dadurch zu einer antikapitalistischen Partei geworden. Oder sollte sie weitermachen wie bisher? Die CDU-Politik mit »Ja, aber«-Sätzen aufhalten und letztlich bestätigen? Das konnte unter den neuen Bedingungen nur die Minderheitsposition bedeuten. Im besten Fall aber eben die Rolle der regierenden Minderheit. Für die weitere gesellschaftliche Entwicklung ist dieser Fall nicht der schlechteste. Die kritischen Kräfte müssen nur wissen, was sie tun, wenn sie mitspielen. Die Form, in der jetzt regiert wird, verdient ihre Unterstützung. Um aber auch den Inhalt des Regierens zu verändern, müssen sie selbst versuchen, in jene »Mitte« zu gelangen, die jetzt Gerhard Schröder besetzt hält. Manche, die viel weniger NATO- und kapitalfromm sind als er, Gregor Gysi zum Beispiel, vielleicht auch Renate Künast und andere, haben das längst begriffen.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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