Die Herren der Welt

Musikfest 2014 Brahms und Mahler, Widmann und Rihm

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In drei weiteren Konzerten nach dem Montagabend, über den ich schon berichtet habe, standen sich wieder ältere und neue Musik gegenüber. Gemischt aus beidem der gestrige Abend: Unter Leitung von Peter Eötvös spielten die Berliner Philharmoniker ein Werk von diesem selbst - das Konzert war auch Feier seines 70. Geburtstags -, eins von Wolfgang Rihm und schließlich das Klavierquartett Nr. 1 g-moll von Johannes Brahms in Arnold Schönberg Orchesterfassung. Es war sehr gut besucht, was auch abermals zeigt, wie weit Rihm es in der Publikumsgunst gebracht hat. Am Abend davor, der als "Portrait Jörg Widmann", des Schülers von Hans Werner Henze, angekündigt war, kamen nicht sehr viele Leute. Nahezu ausverkauft war natürlich das Konzert vom Dienstag, als das Gewandhausorchester Leipzig unter Alan Gilbert die anderthalbstündige Symphonie Nr. 3 d-moll von Gustav Mahler aufführte.

Vom großen Saal der Philharmonie ist die Rede; ich fand, dass er sich für das Stück von Rihm nicht eignete. Für In-Schrift 2, das vor elf Monaten am nämlichen Ort uraufgeführt worden war, "werden zusätzlich zu dem sich auf dem Podium befindlichen Ensemble sechs Klarinettisten sowie drei Schlagzeuger verlangt, die im Rücken des Dirigenten um das Auditorium herum platziert werden". Es ist so gedacht, dass schon das Ensemble "klangräumliche Wirkung generieren" soll, ergänzt aber durch die tatsächlichen Fernklänge der Klarinettisten und Schlagzeuger. Nun ist der Saal der Philharmonie zerklüftet wie ein Gebirge. Wenn man in einer seiner Schluchten saß, wie ich an der Hinterwand des Blocks B, einem eigentlich richtig guten Platz, sah und hörte man nur einen Schlagzeuger und drei Klarinettisten. In diesem Saal ist es gar nicht möglich, Leute "um das Auditorium herum" zu platzieren, man kann sie nur mittendrin und an verschiedensten Orten aufstellen, wo es dann nicht einmal so aussieht, als gehörten sie zusammen. Mangelnde Eignung war dem Saal schon einmal aus ähnlichen Gründen attestiert worden, als vor wenigen Jahren Luigi Nonos Prometeo aufgeführt wurde; Eleonore Büning, die Kollegin von der FAZ, hatte das Werk auch anderswo gehört und konnte vergleichen.

Rihms Stück beeindruckte trotzdem. Ungewöhnlich war die "abgedunkelte" Besetzung, so der Komponist - großer Bläseranteil, Verzicht auf hohe Streicher -, die sich im Hören bedrückend mitteilte. Einem großen dunklen, ich möchte fast sagen bösen Choral glaubte man beizuwohnen. Rihms Musik ist immer sehr affektiv, hier hat er wieder einmal ein Gefühl erzeugt, das völlig überzeugt und in Beschlag nimmt und doch fremd bleibt, nicht nachvollzogen werden kann. Gefühle erfahren, die man selbst nicht hat - die Musik macht's möglich. Interessant ist die Vorgeschichte des Stücks. Rihm hatte 1995 den Auftrag zu einer Komposition erhalten, die im Markusdom zu Venedig uraufgeführt werden sollte. Das war in der Renaissance der erste Ort der Mehrchörigkeit gewesen. Während Rihm hier gerade keine Fernwirkungen mitkomponierte, obwohl es nahegelegen hätte, musikalische Räumlichkeit vielmehr nur am Ort des Ensembles imaginär zu erzeugen suchte - weshalb er das Stück In-Schrift nannte -, hat er jetzt, fast 20 Jahre später, in In-Schrift 2 imaginäre mit realer Fernwirkung kombinieren wollen.

Den Eindruck des Chorals bekommt man wohl auch dann, wenn man von der Vorgeschichte nichts weiß. Eine Freundin jedenfalls, die im Saal war, sagte, sie habe sich die Ohren zugehalten, um diese "christliche Vorhölle" nicht anhören zu müssen. Es scheint Rihm immer noch um den Markusdom, einen Dom jedenfalls gegangen zu sein. Da erinnert man sich auch, dass es dazwischen die Neunte von Henze gegeben hat. Uraufgeführt 1997, enthält diese Symphonie, in der Henze Beethovens Neunte "zurücknehmen" will, eine lange Szene, die "Nachts im Dom" überschrieben ist. Dort sucht ein KZ-Flüchtling Schutz - die Symphonie reflektiert Anna Seghers' Roman Das siebte Kreuz - und erfährt keinen Trost. Er hört die Toten im Selbstgespräch, er selbst sagt zu sich selbst (mit Worten Hans-Ulrich Treichels): "Ich verfluche die Toten, sie liegen hinter Granit / begraben, in eisigen Sarkophagen, sie liegen / mit Kronen geschmückt und gewickelt in Purpur, / die Herren der Welt, ihr Reich ist aus Staub."

Zwischen Rihm und Brahms konnte die Violinistin Patricia Kopatchinskaja bewundert werden, die Eötvös' zweites Violinkonzert mit so viel Virtuosität und auch körperlicher Ausdruckskraft spielte, manchmal wie eine heftig Schimpfende, dass das Publikum hingerissen war. Das Werk trägt den Titel DoReMi, italienische Bezeichnung für Tonfolgen wie C-D-E, und will die Verschiedenheit der europäischen und chinesischen Musik ausloten. Diese entbehrt in anderer Weise des Grundtons, als es die europäische Musik inzwischen tut, indem sie im E statt im C endet. Das war interessant, mehr aber haben mich Rihm und Brahms an diesem Abend beschäftigt, deren Stücke unerwartet vergleichbar wurden. Brahms' Klavierquartett war, wie gesagt, in der Orchesterfassung von Schönberg zu hören. Warum hatte Schönberg eine solche erstellt? Weil er fand, das Originalwerk aus dem Jahr 1862 - ein Jugendwerk noch - klinge dunkler, als es gemeint sein könne. Das sei nur der Gattung geschuldet, denn drei Solostreicher mit ihrem hellen Klang könnten sich gegen das Dunkle des Klavierklangs nun einmal nicht durchsetzen. "Abdunkeln" wie Rihm wollte Schönberg also gerade nicht.

Als seine Fassung 1938 in Los Angeles uraufgeführt wurde, soll Otto Klemperer, der Dirigent, gesagt haben: "Man mag das Originalquartett gar nicht mehr hören, so schön klingt die Bearbeitung." Ich kann das überhaupt nicht finden. Die Orchestergruppen sind so hart gegeneinander gesetzt, dass man den Eindruck sich reibender Eisschollen gewinnt. Nach Brahms klingt das nicht und auch sonst nicht schlüssig. Ich glaube, es liegt daran, dass Brahms ziemlich klar zwei Pole vorgibt, hier das Piano, da die Musik des kleinen Streicherensembles; Schönberg löst das in Multipolarität auf, aber so ist es nicht komponiert. Spröde zwar reiben sich Linien und Klänge schon bei Brahms. Wenn Beethoven und Schumann vor ihm dergleichen komponieren, wissen sie das zu vermeiden, und auch Brahms hätte süß sein können wie im ersten Streichsextett. Hier indessen wollte er fahl sein, so dass noch dem letzten Satz, Rondo alla zingarese, bei aller hemmungslosen Extase, oder vielleicht gerade ihretwegen, etwas Unwirkliches eignet. All das erschließt sich aber bei Schönberg nicht mehr. Eine Stelle im langsamen Satz interpretiert er als Militärmusik und besetzt sie entsprechend, da kann ich nur staunen. Warum wendet sich ausgerechnet Schönberg gegen Abdunklung? Er hat wohl das Fahle wahrgenommen und auf die Gattung "Klavierquartett" geschoben, hätte aber besser sagen sollen, es liege in der Komposition. Wenn es dort liegt, lässt es sich durch Orchestrierung nicht aufhellen.

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Jörg Widmanns Lied für Orchester (2003/09), das erste Stück des Konzerts am Donnerstag, ließ unerwartet noch einmal an Mahler denken. Angekündigt war eine Komposition, die sich auf Franz Schubert beziehe, und das tat sie auch, doch die Schubert-Klänge entwickelten sich sehr schnell zu Mahler-Klängen. Mit Ausnahme weniger Stellen konnte man sich das Stück als passende Fortsetzung des Fragments vorstellen, das Mahler als ersten Satz seiner zehnten Symphonie hinterlassen hat. Widmann ging sehr weit in der Anverwandlung an diese älteren Klänge. War das noch verfremdete Erinnerung oder war es wiedergekehrte unmittelbare Faszination? Am Ende konnte man hören, wie die Musik sich sozusagen kurzerhand erschoss, als wäre sie selbst unwillig über so viel Nähe - aber kann man das schon Verfremdung nennen? Die Kompositionen des Abends entstammten alle der Zusammenarbeit Widmanns mit dem Cleveland Orchestra, das ihn denn auch bestritt. Da muss auch Joshua Smith hervorgehoben werden, der brillante Solist beim zweiten Stück, Flute en suite für Flöte und Orchestergruppen (2011), einer Bach-Anverwandlung. Über Hörgewohnheiten des Publikums in Cleveland weiß ich nichts.

Die Aufführung der Dritten von Mahler am Dienstag hat mir viel gebracht. Besonders interessant war Gilberts Interpretation des ersten Satzes. Es ist wohl wirklich so, dass im Fall der Dritten der Komponist einem metaphysischen, also literarischen Programm folgte, im ersten Schwung auch aussprach, was ihm vorschwebte, dann aber lieber schwieg, um die Phantasie der Hörer nicht einzuengen. Selbst wenn vorhanden, muss so ein Programm aber gar nicht den Einfluss haben, die Komposition ganz oder auch nur überwiegend zu prägen. Er wolle "eine Welt aufbauen", hatte Mahler gesagt, und den ersten überschrieb er: "Der Sommer marschiert ein." Er nahm das später zurück. Aber es ist doch interessant, den musikalischen Satz, wie wir ihn hören, mit dem literarischen zu vergleichen. Ich würde sagen, er enthält einen Grundsachverhalt, der mit dem einmarschierenden Sommer noch gar nichts zu tun hat, das ist die Evozierung des Chaotischen vor der "Schöpfung": womit sich Mahler in eine Linie stellt, die vor ihm von Haydns gleichnamigem Oratorium über Fidelios Kerkerverlassenheit bei Beethoven bis zum Beginn der Fünften von Bruckner geführt hatte. Näher noch ist dann aber der Bezug zum ersten Satz der Neunten von Beethoven, der nicht dabei stehen bleibt, den Augenblick der Schöpfung (oder Befreiung in Beethovens Oper) zu feiern, sondern die ersten rohen Schritte n a c h der Schöpfung verständnisvoll aufzeichnet.

Im Vergleich mit Haydn und Mahler stellt es sich so dar, als geschehe in der Neunten von Beethoven "Schöpfung" erst in dem Augenblick, wo gesungen wird: "Und der Cherub steht vor Gott". Was kommt danach - erst mal eine Pause. Die ist sehr kurz. Dann der Marsch zum Sieg eilender "Brüder".

Mahlers Satz beginnt mit einem choralartigen Weckruf, der an das gottesfürchtige Trostlied in Humperdincks Hänsel und Gretel denken lässt ("Wenn die Not am höchsten steigt, / Gott der Herr die Hand uns reicht"). Danach versucht sich gleichsam die Materie in Bewegung zu setzen, es gelingt ihr aber nicht. Sie sackt immer wieder in sich zusammen! Bis endlich "der Sommer einmarschiert", wobei das Marschlied den Weckruf aufnimmt und abwandelt. Das geschieht im ersten Durchlauf mit viel Fröhlichkeit, im zweiten jedoch, der Durchführung nach dem Schema des Sonatenhauptsatzes, ist eine ganz unmetaphysische Militärmarschmusik des ausgehenden 19. Jahrhunderts daraus geworden - wie gut, dass Gilbert die ganze Unverschämtheit der Gewalt hörbar macht, die sich da ankündigt, fesch und frivol, als sei sie eine ganz besonders lustige Erfahrung. Der Übergang von da zur Reprise ist nichts als Trommelwirbel, unmittelbarer Einbruch der außermusikalischen Realität. Er entfernt sich, wird leiser und verschwindet, ihm folgt der Rettung heischende Choral. Wenn dann der Marsch zum dritten Mal erklingt, soll das wohl den Glauben beschwören, dass "zuletzt" das Gute triumphiere. When the saints go marchin' in - zunächst freilich wird der Schlieffen-Plan ausgeführt werden.

Es ist eine Verdichtung unmittelbaren Erlebens - fin de siècle, wir schreiben das Jahr 1896 - mit dem Blick aus der Ewigkeit herab, sub specie aeternitatis: einerseits rohes Gestein, als wenn die Evolution noch längst nicht die ersten Lebenskeime hervorgebracht hätte, andererseits schon die preußische Militärparade, die nun aber selbst, bei aller billigen Beweglichkeit, als Versteinerung und grober vorsintflutlicher Schwachsinn erscheint.

Berichte über die Berliner Festivals "MaerzMusik" und "Musikfest" ab 2010 finden Sie hier.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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