Die Hexenprobe

Militärschlag Nehmen wir einmal an, der Chemiewaffenangriff am 21. August sei vom Assad-Regime ausgegangen

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"Es ist sehr wahrscheinlich", heißt es immer, dass Assads Regime hinter dem Chemiewaffenangriff vom 21. August stehe. Bei der Begründung spielt die Aussage, die Rebellen seien zu so einer Aktion gar nicht fähig gewesen, eine Hauptrolle. Doch kämpfen ja auch Auswärtige mit. In Libyen gibt es Chemiewaffen und das entsprechende know how. In Syrien selber dürften Teile von Assads Armee die Seiten gewechselt haben. Wissen wir, welche Gerätschaften sie mitgehen ließen? Ich will aber nicht bestreiten, dass der Angriff vom Regime ausgegangen sein könnte. Alle, die es behaupten, fügen das richtige Hauptargument bei: Dem Regime jedenfalls war der Angriff zweifellos möglich. Man kann das noch zuspitzen. Warum legt sich ein Regime solche Waffen zu, wenn nicht weil es bereit ist, sie im Notfall auch einzusetzen? Warum haben sich die USA und andere Staaten Atomwaffen zugelegt?

Doch mit letzter Sicherheit kann nicht angegeben werden, von welcher Seite der Chemiewaffeneinsatz ausgegangen ist. Dann muss wenigstens die Wahrscheinlichkeits-Argumentation zuende geführt und also die Frage Cui bono?, Wem nützt der Angriff, beantwortet werden. Das war bisher die Schwachstelle derer, die das Assad-Regime verantwortlich machen. Weil man doch unterstellen darf, dass das Regime den Bürgerkrieg gewinnen will, dass es weiß, es gewinnt ihn nicht, wenn die USA militärisch intervenieren, und dass es ferner weiß, die USA haben die Intervention im Fall eines Chemiewaffeneinsatzes angekündigt. Gerade diejenigen, die behaupten, nur das Assad-Regime habe die Fähigkeit zu diesem Angriff gehabt, der schließlich komplex und koordiniert gewesen sei, müssten dann zu dem Schluss kommen, es habe sich nur um einen Befehl von ganz oben handeln können, um eine ganz bewusst gewollte Aktion aus dem Zentrum des Regimes heraus. Ja, aber was wäre das Kalkül gewesen? Die Lust, sich selbst zu vernichten?

Es gibt eine Antwort, die weniger absurd ist. Seit gestern präsentiert Tagesschau.de ein Interview mit dem Friedensforscher Tilmann Brück, der darlegt, dass das Regime sich zum Chemieangriff entschlossen haben könnte, um zu warnen. In Brücks Deutung wird der bisherige westliche Diskurs - "Sobald Assad die rote Linie überschreitet, greifen wir militärisch ein" - auf den Kopf oder auch auf die Füße gestellt: Sobald, sagt sich Assad, der Westen militärisch eingreift - einzugreifen droht, eine Eskalation der Eingriffe in Gang setzt -, überschreiten wir die roten Linie. Will sagen, der Angriff vom 21. August könnte der Hinweis sein, der Westen möge sich gut überlegen, wozu ein von der Vernichtung bedrohtes Regime noch imstande ist. Wenn das die Logik ist, wird das Regime weitere Chemieangriffe starten, sobald erste westliche Militärschläge erfolgen.

Das wäre allerdings ein mögliches Motiv. Gerade wer in Assad weiter nichts als einen Verbrecher sieht, mag sich an Adolf Hitler erinnern, der in letzter Stunde den Befehl gab - er wurde nicht ausgeführt -, ganz Deutschland auszuradieren.

Wir haben ein mögliches Motiv der Rebellenseite: Den Westen in den Bürgerkrieg hereinziehen, und ein mögliches Motiv der Regimeseite: Ihn eben davor warnen. Wenn er nun militärisch interveniert, läuft das, so scheint es, auf eine Art Hexenprobe heraus (sie bestand darin, dass für "schuldig" gehaltene Frauen mit einem Stein beschwert im Fluss versenkt wurden: Gingen sie nicht unter, waren sie unschuldig): Entweder es war die Regimeseite. Dann erfolgen weitere Chemieangriffe und ihre Urheberschaft ist damit bewiesen. Oder es war die Rebellenseite. Dann wird sie durch die Intervention des Westens gestärkt und kann weiter vorrücken, ohne weitere Chemieangriffe nötig zu haben. Das Regime muss sich dann überlegen, ob es weiterhin, um seine Unschuld zu unterstreichen, solche Angriffe nicht fährt oder ob es sie nun gerade fährt. Denn wie gesagt, es hat ja einen Grund, dass sie das Zeug gehortet hat, und dieser Grund ist der Wille zur Abschreckung und Selbstverteidigung. Auch die USA hätten ihre Atomwaffen eingesetzt, wenn ihre Existenz bedroht worden wäre.

Wir haben bisher nur von möglichen Motiven der syrischen Bürgerkriegsparteien gesprochen. Doch was sind eigentlich die Motive des Westens? Auch da hat es zuletzt einen neuen Hinweis gegeben. Ich lese in der FAZ von gestern, 4. September: "Es gibt jedoch Anzeichen, dass die Regierung gerade vermeiden möchte, dass Assads Regime gestürzt wird. Das 'Wall Street Journal' berichtet, das Weiße Haus halte einen Sieg der Assad-Gegner für gefährlicher als das derzeitige Patt. Deshalb soll die Opposition nur so weit gestärkt werden, dass sie den Assad-Truppen standhalten könne - besiegen soll sie das Regime nicht, damit nicht am Ende doch radikale Islamisten das Machtvakuum füllen. Nach dem Bericht werben auch die Israelis in vertraulichen Gesprächen dafür, den innersyrischen Kampf zwischen den Dschihadisten und Assads Verbündeten aus Iran und der libanesischen Hizbullah weiterlodern zu lassen."

Das würde bedeuten, es wird weitergestorben in Syrien, ob mit oder ohne Chemiewaffen. Assad mag ein Verbrecher sein. Aber er wäre nicht der einzige.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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