Die Hoffnungsträgerin

Christsein Progressiv, geschieden, weiblich: Margot Käßmann ist nun die höchste Protestantin in Deutschland. Aber wird sie die Evangelische Kirche verändern können?

Die Friedens- und Frauenbewegung hat sie geprägt, damals, in den achtziger Jahren. Bis heute ist dieser Einfluss bei ihr spürbar. Nun soll Margot Käßmann, die neue Ratsvorsitzende der EKD, die Evangelische Kirche prägen. Was Frauen nach ihrem Urteil besser können als Männer, sagt sie laut: Männer führen hierarchisch, Frauen gesprächsorientiert; Frauen verlieren als Führende den Realitätskontakt nicht, lassen sich zum Beispiel nicht von anderen den Haushalt machen. Wenn man von Käßmanns Realitätsnähe spricht, muss man auch ihrer Scheidung vor zwei Jahren gedenken. Da zeigte sie Mut und Entschiedenheit: Als ihr Mann sich eine Freundin zulegte, zog die Landesbischöfin, die bereits als Favoritin für die Huber-Nachfolge gehandelt wurde, einen Schlussstrich und trennte sich von ihm; es grenzt an ein Wunder, dass die Ehrlichkeit, mit der sie darüber Rechenschaft ablegte, sogar die Evangelikalen überzeugte. Sie und ihr früherer Mann, sagte Käßmann, seien weiter von der Unauflöslichkeit der Ehe überzeugt, doch sei ihre Ehe nun einmal gescheitert.

In den Positionen, die sie vertritt, liegt sonst keine so große Konsequenz. Sie beklagt sich über die Ungerechtigkeit des Welthandels und überhaupt der Globalisierung, auch über die ökonomische „Gier“ und die Unfähigkeit, Grenzen zu akzeptieren. Nach den Grenzen der ökonomischen Ordnung selbst fragt sie weniger, hat vielmehr die Unternehmer-Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) mit unterzeichnet, wo es heißt, „Gewinne“ seien nicht „unmoralisch“, sondern „die Voraussetzung für Wachstum, Investitionen und Beschäftigung“. Da zeigt sich kein Privatproblem von ihr, aber eines der Kirche, deren Repräsentantin sie nun ist: Den Akzent einseitig aufs Moralische setzend, die Unternehmer zur Besserung aufrufend, kommt die Denkschrift schließlich auch auf die Wirtschaftsordnung zu sprechen, aber nur um kritiklos die Phrasen der Wachstumsgläubigen nachzudreschen. Wenigstens was innerkirchliche Fragen angeht, ist Käßmanns Profil schärfer. Für die Ökumene hat sie sich früh eingesetzt, verließ jedoch den Zentralausschuss des Ökumenischen Rates, als der auf Druck der Orthodoxen das Projekt der ökumenischen Gottesdienste aufgab. Man könnte sagen, es sei ihre Haltung, mit äußerster Härte gesprächsbereit zu sein und dies auch anderen abzuverlangen.

Als Ratsvorsitzende der EKD steht sie nun für deren „Reform“ ein, die unter dem Amtsvorgänger Vorgänger Huber begonnen wurde. Aber ist die EKD durch einzelne Personen veränderbar? Reformiert werden soll wegen des Mitgliederschwunds; schließlich verlassen mehr als hunderttausend Personen, die vorher Kirchensteuer gezahlt haben die Gliedkirchen Jahr für Jahr. Darauf wird mit einer Strategie geantwortet, wie man sie analog auch etwa bei einer notleidenden Zeitung antreffen könnte: das Angebot stärken, sprich die Gottesdienste, die Veranstalter qualifizieren, sprich die Pfarrer, aber auch die Kirchenführung; die eigene Botschaft mehr ins Zentrum stellen.

Sanfte Mahnungen,vage Positionen

Man kann es weniger marktmäßig ausdrücken: Diese Institution erinnert sich, dass sie nicht nur ihrer sozialen Dienste wegen existiert, sondern weil sie etwas zu verkünden hat. Auch wenn sie gar keine Beitragszahler anlocken müsste, wäre das wahr. In der Verkündigung aber liegt das große Problem dieser Kirche (und auch der anderen Kirchen), die nicht nur zur Wirtschaftsordnung naive Positionen vertritt. Sie tut sich überhaupt schwer, die modernen Ordnungen zu begreifen, in die sie verstrickt ist. Vor allem sieht sie nicht, dass und wie sie Staatskirche ist und was das für die Verkündigung bedeutet.

Kirche und Staat sind überall in der Europäischen Union getrennt, doch ist die Trennung nur relativ, selbst in Frankreich zahlt der Staat für die Kirchengebäude. In Deutschland geht die Staatszugehörigkeit ziemlich weit: Der Staat treibt die Kirchensteuer ein, die Kirche stopft unter dem Traditionstitel „Diakonie“ sozialstaatliche Lücken. Sie kann praktisch als Bestandteil des Sozialstaats verstanden werden. Das Problem ist, dass solche Staatsnähe die Möglichkeit radikaler kirchlicher Staatskritik auszuschließen scheint. Das ist schon allein ein Problem der handelnden Personen, es teilt sich ja jedem Fernsehzuschauer mit, dass Huber und Käßmann derselben politischen Klasse angehören wie Merkel und von der Leyen; mit ersterer wurde Käßmann schon verglichen – „zwei Frauen auf der Höhe der Macht“. Und dass sie mit letzterer auf gutem Fuß steht, ist auch bekannt. Immerhin, sie hat als telegene Frau eine Sprecherposition wie sonst nur der Papst. Aber kann sie mit diesem Pfund auch wuchern?

Das Problem reicht indessen viel tiefer. Vom Anspruch her müsste Kirche das sorgend begleitende, jedoch scharf kritische Gegenüber des Staates sein, so wie einst Bischof Ambrosius den römischen Kaiser exkommunizierte, weil der ein Massaker veranstaltet hatte. Erst als der Kaiser sich öffentlich entschuldigte und demütigte, wurde er wieder in die Kirche aufgenommen. Wahrscheinlich glauben die heutigen Bischöfe, sie würden sich auch so ähnlich wie Ambrosius verhalten, wenn sie etwa die Rückkehr zur sozialen Marktwirtschaft sanft anmahnen. Doch was ist das Gegenüber von Kirche und Staat unter Bedingungen der Parteienherrschaft? Von einer kirchlichen Staatskritik, die anders wäre als die Kritik einer im Staat etablierten Partei an anderen Parteien, hat man noch nichts gehört; das heißt, es gibt sie nicht, die Kirche ist voll in den Staat integriert. Wann hätte sich ein Bischof hingestellt und dem Parteienstaat, das heißt: der Regierung, der Opposition, den Wählern und Wählerinnen wegen der 26.000 Menschen, die täglich verhungern, einmal die Leviten gelesen? Dabei wäre das ihre Hauptaufgabe: „Tu deinen Mund auf für die Stummen.“ (Sprüche 31, 8) Wenn sie ihren Mund irgendwie auftut, aber nicht so, wen wundert’s, dass immer mehr Menschen die Kirche langweilig finden? Man hat oft gehört, dass versucht wurde, den Gottesdienst mit Events aufzumöbeln. Aber das können andere besser.

Außerdem wird die Kirche nicht nur deshalb von den Menschen verlassen, weil sie langweilig finden, was ihnen geboten wird, sondern auch, weil sie durchaus etwas erwarten, das nur die Kirche ihnen bieten könnte, aber nicht bietet. Es gäbe keine Kirche, wenn die Menschen keine Probleme mit dem Sterben hätten, wenn sie nicht, wie der große Atheist Jean Améry, den Satz „Ich werde tot sein“ für logisch und existenziell unausdenkbar hielten, wobei sie zugleich wissen, dass er wahr ist.

Ewigkeit brauchtkein Jenseits

Hätte die Kirche dazu etwas zu sagen, warum sollten sich ihre Räume nicht füllen, zumal in einer Gesellschaft, die vor allem auf ihre „Sicherheit“ fixiert scheint, aber kein Zukunftsprojekt mehr verfolgt? Denn Todesangst ist nie nur privat, sondern breitet sich besonders in der allgemeinen Perspektivlosigkeit aus. Aber wie wir gesehen haben, glaubt die Kirche selbst nicht an Zukunftsprojekte; statt nach solchen zu suchen, propagiert sie die Rückkehr zu Konrad Adenauer.

Selbst wenn sie vom Tod nur privat sprechen will, bräuchte sie doch nicht in der Sprache des Mittelalters verpuppt zu bleiben. Sollten die Kirchenaustritte nicht auch mit der Weigerung aufgeklärter Zeitgenossen zusammenhängen, noch weiter an ein Leben nach dem Tod zu glauben? Diese Zeitgenossen wären vielleicht geblieben, hätte man mit ihnen gesprochen, wie gerade die größten Theologen des 20. Jahrhunderts sprachen. Etwa der Protestant Karl Barth, der über Jesus Christus schrieb: „Seine wie die aller anderen Menschen einmal geschehene Geschichte bedurfte keiner, auch keiner jenseitigen Ergänzungen und Fortsetzungen.“ Oder der Katholik Karl Rahner: „Wer einmal eine sittlich gute Entscheidung auf Leben und Tod getroffen hat, radikal und unversüßt, so dass daraus absolut nichts für ihn herausspringt als die angenommene Güte dieser Entscheidung selbst, der hat darin schon jene Ewigkeit erfahren, die wir hier meinen“ und die nicht „als ein zeitliches Weiterdauern ‚hinter‘ unserem Leben sich hinzieht“.

Davon ist die Kirche weit entfernt, und so ist nicht abzusehen, wo die neuen zahlenden Mitglieder herkommen sollen. Auch von Käßmann ist da nichts zu erwarten. Realitätsnähe ja, aber nicht in diesem Punkt; es ist, als ob die Antwort, die zu geben die Kirche da ist, nämlich auf die Frage „Tod, wo ist dein Stachel?“, nicht mehr formuliert werden kann. Käßmann hat gesagt, nach dem Tod bleibe „die Spur der Liebe“. Das ist zu wortkarg für die ureigenste Kirchensache. Sie verwahrt sich „gegen die theologische Schärfe des Nachkriegsprotestantismus und gegen die harte Unterscheidung von den Katholiken“. Man wird letzteres sympathisch finden, aber was soll für ersteres sprechen? Warum nicht die Ökumene auf der Basis theologischer Schärfe anstreben? Die Kirche hat keine Zukunft, auch nicht wenn Käßmann führt, mit vagen Formeln, sei’s über das wirtschaftliche Wachstum oder über den Tod.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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