Eine Umfrage ist zum Politikum geworden. Nachdem Allensbach starke Zugewinne für die Positionen Der Linken und sogar für die Idee des Sozialismus ermittelt hatte, gab Die Zeit eine weitere Umfrage bei Emnid in Auftrag, deren Ergebnisse noch brisanter sind. Die Brisanz liegt darin, dass es Mehrheiten für all das, was die Kanzlerin oder die große Koalition im Ganzen beharrlich ablehnen - den Mindestlohn, ein Ende der Privatisierungspolitik, die Rücknahme der Rente mit 67, den Abzug deutscher Truppen aus Afghanistan (s. Übersicht) - unter den Anhängern sämtlicher Bundestagsparteien gibt. Es ist gesagt worden, die Große Koalition regiere gegen die Bevölkerung und stelle damit die Demokratie in Frage. Die Umfrage hat diese These plausibler gemacht, als sie es je war.
Die Hamburger Wochenzeitung sieht das allerdings ganz anders, und darüber muss zuerst gesprochen werden. Denn zwar ist es eine eigene Debatte wert, ob wirklich schon die Demokratie kränkelt. Aber dass Meinungsführer wie Die Zeit antidemokratisch agieren, lässt sich in diesem Fall präzise belegen. Wie will man es denn sonst nennen, wenn der Zeit-Kommentar zur Umfrage darauf hinausläuft, dass die Befragten leider die eiserne Notwendigkeit der von ihnen verneinten Regierungsmaßnahmen nicht einsähen? Wenn alles, was sie Emnid zu Protokoll geben, als bloßes "Gefühl" abqualifiziert werden kann?
Nachdem man uns den Begriff der gefühlten Temperatur eingetrichtert hat, sollen wir jetzt wohl lernen, dass dem gefühlten Sozialabbau kein wirklicher Verlust entspreche. Aber Demokratie heißt nun einmal, dass die Regierung die Ratio der Wählermehrheit anerkennt und sich an sie bindet. Wer meint, nur die Regierung wisse das Notwendige, während die Auffassung der Mehrheit laienhaft sei und nicht zähle, der nimmt schon den Standpunkt einer Diktatur ein. Das war nämlich schon immer die Selbstrechtfertigung von Diktaturen.
Wir leben in keiner Diktatur. Erschreckend genug ist aber die Unterstützung der diktatorischen Mentalität vonseiten einer der angesehensten Redaktionen unseres Landes. Wohin sind wir gekommen, wenn schamlos suggeriert werden darf, der Widerstand der Kanzlerin gegen den Mindestlohn - den es in so vielen Nachbarländern gibt - sei schlicht unvermeidlich? Wenn sogar ein Truppeneinsatz am Hindukusch hingestellt werden kann, als sei er zwangsläufig wie zwei mal zwei gleich vier? Argumente sind offenbar unnötig, abgesehen vom gebetsmühlenartigen Hinweis auf "die Globalisierung".
Kein Hang zur Gleichmacherei
Man findet in der Zeit noch eine andere Kommentarstrategie, die diskutabler ist; sie macht nachdenklich oder sollte es wenigstens tun, und sie kann nicht ohne Erkenntnisgewinn zurückgewiesen werden. Das ist die Wertung, in Deutschland finde eine gigantische Verschiebung "nach links" statt. Viele Anhänger der neuen linken Partei werden es gern lesen und froh übernehmen - aber bald kommen Zweifel auf. Da ist zum einen der Umstand, dass die Befragten trotz allem die Bundeskanzlerin schätzen. Zum andern ergibt sich aus dem "Linksruck" keine drastische Verstärkung der linken Partei. Man sollte nicht beim Erstaunen über diesen Widerspruch stehen bleiben. Ihn zu leugnen, so als ob es eben noch ein paar Monate oder Jahre bräuchte, bis Die Linke die Wählermehrheit hinter sich gesammelt hätte, wäre ebenso zwecklos. Räumen wir es lieber ein: Diese Mehrheit besteht nicht aus Menschen, die sich gleichsam im Wald verlaufen haben und vor lauter Bäumen nicht sehen, was auf der Lichtung schon auf sie wartet.
Übrigens macht Die Zeit selber unfreiwillig auf die Schiefheit solcher Perspektiven aufmerksam. Was ist denn, fragt sie, das "Linke"? Antwort: eine politische Haltung, die vor allem Gleichheit will. Das ist gut aus den Lehrbüchern der Politikwissenschaft abgeschrieben. Aber nun müsste ja gezeigt werden, inwiefern der Wunsch, die Rente mit 67 rückgängig zu machen, aus dem Gleichmachenwollen entspringt. Das haben die Redakteure vergessen. Es ließe sich auch gar nicht zeigen, außer man könnte dem von Konrad Adenauer durchgesetzten Rentensystem einen Hang zur Gleichmacherei nachweisen. In Wahrheit ist nichts erstaunlich daran, dass die Mehrheit der CDU-Anhänger für Adenauers Rentensystem votiert.
Nein, das sind keine "linken" Positionen. "Links" und "rechts" sind Begriffe, mit denen man einen Unterschied im Parteiensystem bezeichnet. Was Mindestlohn, Rente mit 67 und den Einsatz am Hindukusch angeht, denken aber die Anhänger aller Parteien mehrheitlich dasselbe. Und die Folge ist eben nicht, dass alle schon dabei sind, sich Der Linken zuzuwenden. Wer Derartiges gehofft hat, verkennt den Charakter einer Partei. Parteien sind zwar nicht mehr wie früher "Milieuparteien". Geblieben ist aber die Verschiedenheit von Lebensstilen. Diese Verschiedenheit reicht hin, den Parteien ihre Anhängerschaft zu erhalten. Zwar hat die Bereitschaft zum Parteiwechsel immerhin zugenommen. Aber ein FDP-Anhänger, der den Mindestlohn befürwortet, wird deshalb nicht schon gleich seiner Partei abschwören. Was wird er stattdessen tun? Ihm ist daran gelegen, dass seine Partei sich regeneriert. Sie soll die anderen Parteien möglichst ausstechen - als selber veränderte Partei.
Ein System, das degeneriert
Der Umfrage zufolge müssten sich fast alle Parteien verändern. Aber wenn sie das tun, verändert sich auch ihr Beziehungsgeflecht, ihr System. Das heißt, durch die Umfrage wird die Notwendigkeit eines anderen Parteiensystems nahe gelegt. Die Struktur des noch herrschenden Parteiensystem besteht darin, dass alle Parteien sich um einen Gegensatz von SPD und Union gruppieren, der so nebensächlich geworden ist, dass diese traditionellen Koalitionsanführer nun selber gegen die Anderen koalieren. Die Anderen bedauern das und wollen die SPD in eine linke, die Union in eine rechte Koalition zurückholen.
In diesem Beziehungsgeflecht kann die Bevölkerungsmehrheit ihren Willen nicht mehr kenntlich machen. Es ist ein System, das degeneriert. Deshalb deutet sich in der Umfrage ein neues System an. In ihm bestünde der Hauptunterschied nicht mehr zwischen SPD-Anhängerparteien und Unions-Anhängerparteien, sondern zwischen neuen Parteien und Altparteien.
Union, SPD und FDP sind die Altparteien. Das wussten wir eigentlich schon in den achtziger Jahren. Inzwischen sind die Grünen nicht mehr die einzige neue Partei: Die Linke ist hinzugekommen. Nun darf man nicht dem Fehlschluss erliegen, das Neue sei immer gut und das Alte immer schlecht. Aber wenn Linke und Grüne sich gegenseitig schlecht machen, ändert das doch nichts an ihrer Gemeinsamkeit: Sie haben mit Parteineugründungen auf neue Herausforderungen reagiert. Beiden ist auch gemeinsam, dass sie sich immer noch an den Altparteien orientieren.
Aber reagieren nicht auch diese auf neue Herausforderungen? Wohl; und wie es scheint, sogar recht "radikal". Aber gerade wenn man sich ihre "Radikalität" - den Neoliberalismus, in dem sie einig geworden sind - näher anschaut, muss man die Überzeugung gewinnen, dass es Altparteien sind. Denn ihre Reaktion hat in der puren Umkehrung ihrer vormaligen Positionen bestanden. Wenn eine Position einfach nur umgekehrt wird, ist die Struktur unverändert geblieben. Sie erlebt ihre schwarze Nacht, nachdem sie ihren hellen Tag gehabt hat. Sie dreht sich im Kreis, das ist alles, was sie noch kann. Frühere Galionsfiguren wie Geißler und Blüm, Schreiner und Dreßler bezeugen den Sachverhalt. Der Neoliberalismus verhält sich zur katholischen Soziallehre, an der sich die Union einst orientierte, wie Feuer zu Wasser. Das sozialdemokratische Programm wurde auf den Kopf gestellt, als Schröders Wirtschaftsminister Clement verkündete, gerecht sei, was den Unternehmern nütze.
Die neuen Pole
Grüne und Linke sind heute die einzigen Parteien, die kreativ und rational verändernd auf neue Herausforderungen reagieren können. Deshalb müsste sich ein neues Parteiensystem um diese Pole gruppieren. Mindestens aber müssten die Anhänger anderer Parteien ihre jeweilige Führung dazu zwingen, sich ebenso rational zu verhalten, wie Grüne und Linke es ihnen vormachen. Rational heißt: nicht ins Gegenteil flüchten, sondern die eigene Position weiterentwickeln. Natürlich behaupten alle, das täten sie, aber es stimmt eben nicht, und die Wähler geben zu Protokoll, dass sie es gemerkt haben. Bei den Grünen stimmt es. Bevor sie sich in der Koalition mit Schröder verloren, wurde in ihren Reihen ein interessantes Modell entwickelt, wie soziale Sicherheit, vom Staat garantiert, sich mit flexiblen Arbeiterbiografien vereinbaren ließe. Überhaupt war das grüne Programm immer viel besser als die grüne Machttaktik. Aber den Grund dafür haben wir ja schon genannt: Sie wagen es bis heute nicht, sich an sich selbst statt an den Altparteien zu orientieren. Oder um es deutlicher zu sagen: nicht an den Altparteien, sondern nur an sich selbst und allenfalls noch, in kreativer Opposition, an Der Linken. Diesen Sprung müssen sie wagen. Wenn sie der Schröder-Regierung hintertrauern, sind sie reaktionär.
Denn das werden sie doch anerkennen, wenn sie nicht verlogen sind: dass all diese Themen, die jetzt für Wirbel in den Umfragen sorgen, von Der Linken auf die Tagesordnung gesetzt worden sind. Es ist offenbar ein kreativer Wirbel. Der Mindestlohn zum Beispiel, zu dem die Grünen eine eigene, aber zustimmende Haltung einnehmen, ist jetzt sogar zur Herausforderung für die FDP-Führung geworden. Statt ihn faul und abstrakt zurückzuweisen, müsste ihn Westerwelle irgendwie mit der FDP-Programmatik vereinbaren und diese dadurch ein wenig verändern. So viel Kreativität müsste er aufbringen oder sonst eben Wählerverluste hinnehmen. Oder vielleicht muss sich auch die FDP spalten, indem sie ihre eigene WASG erhält, und die Union ebenfalls.
Es gibt auch Anlass, die Linke vor Verlogenheit zu warnen. Die Grünen werden für ihre Politik unter Schröder oft regelrecht gehasst; aber scheitert die Politik der Linken nicht ebenso, wenn sie sich, wie im Berliner Senat, unter die Fittiche einer Altpartei begibt? Man kann heute nur wünschen, dass Grüne und Linke sich gemeinsam - wenn auch in Opposition zueinander - aus solcher Abhängigkeit befreien. Übrigens wäre das keine Befreiung aus "antidemokratischen Zuständen". Die gibt es zwar, wie wir gesehen haben, im Kopf mancher Redakteure dieser Republik. Die Republik selber ist aber nicht antidemokratisch, sondern lebt nur im Zwischenraum von altem und neuem Parteiensystem. Die dadurch entstehende Diskrepanz zwischen Parteianhängerschaften und -apparaten zu überwinden, braucht natürlich Zeit. Wichtig ist nur, dass es gewollt wird, und zwar - nach Lage der Dinge - von den Parteiführungen der Grünen und der Linken.
Wir urteilen hier nicht über unmittelbar bevorstehende Koalitionen. Natürlich wünscht man sich eine "linke Koalition" aus SPD, Linken und Grünen. Wer weiß, ob sie nicht doch bald zustande kommt? Aber dazu müsste die SPD zum Beispiel ihre neue Rentenpolitik zurücknehmen. Und nun geht es nicht darum, einfach zu warten, ob sie es tut oder nicht. Die neue Frage, die sich in der Wartezeit stellt, ist doch viel interessanter: Schaffen es die Anhänger der Altparteien, ihre Führungsapparate zu bewegen? Oder nähren diese Parteien den Eindruck, dass sie überholte Auslaufmodelle sind?
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.