Einem Mann ist das Spielcasino wichtiger als seine Geliebte, die daher ins Wasser geht. Das ist kurz gefasst der Inhalt von Pique Dame (1890), einer Oper von Pjotr Iljitsch Tschaikowski nach der gleichnamigen Novelle (1833) von Alexander Puschkin. Kürzlich kam eine hervorragende russische Einspielung (The Queen of Spades, Melodija, Januar 2019) heraus: Grund genug, die Bedeutung dieses Werks zu unterstreichen und in den Kontext der Operngeschichte zu stellen. „Die europäische Oper des 19. Jahrhunderts war ein Weltereignis und ist es geblieben“, schreibt der Historiker Jürgen Osterhammel. Auf fünfzehnhundert Seiten hat er die damals stattgehabte Verwandlung der Welt, so der Buchtitel (München 2009), analysiert und es für angebracht gehalten, schon gleich zu Beginn auf mehreren Seiten die Oper zu erörtern. Er denkt an „Rossini, Bellini, Donizetti, Bizet, vor allem Verdi, Wagner und Puccini“ und ihren schon damals globalen Siegeszug. Tschaikowski erwähnt er nicht.
Die Handlung von Pique Dame wirkt auf den ersten Blick kaum realistisch. Sie spielt in Sankt Petersburg. Hermann, ein junger Offizier, ist in eine junge Adlige verliebt, muss sich aber sagen, dass sie ihm, der weder adlig ist noch Geld hat, unerreichbar ist. In seiner Verzweiflung sitzt er Tag für Tag im Spielcasino und schaut den Geldeinsätzen zu. Die Verzweiflung steigert sich, als er erfährt, dass das geliebte Mädchen sich eben verlobt hat. Dieses Ereignis veranlasst auch einen seiner Freunde, eine Geschichte zu erzählen: Die 86-jährige Großtante des geliebten Mädchens lebte in ihrer Jugend als „Venus von Moskau“ in Paris. Sie war eine Spielerin, die sich zur Liebe erst bewegen ließ, als sie alles Geld im Casino verloren hatte. Da fand sie sich zu einer Liaison bereit, weil der Liebhaber sie mit der Angabe dreier Spielkarten lockte, mit denen man, in richtiger Reihenfolge ausgespielt, immer gewinnt. Tatsächlich gewann sie alles Verlorene zurück. Später gab sie das Geheimnis der три карты (tri karti) an zwei Männer weiter. Es schloss jedoch ein, dass der dritte, der es erfuhr, sie töten würde.
Von dem Moment an, wo Hermann die Geschichte hört, ist er von dem Wunsch besessen, das Geheimnis zu erfahren. Auch als er die Liebe der bereits Verlobten erlangt, bleibt er dabei, viel Geld haben zu wollen, was zunächst ganz natürlich erscheint. Dass er deshalb die 86-Jährige mit einer Pistole bedroht, um sie zum Sprechen zu bringen, ist freilich befremdend. Sie stirbt vor Schreck, erscheint ihm aber dann als Vision, die das Geheimnis preisgibt.
Immer geht’s um ein Dreieck
Am Ende stößt er die Geliebte von sich, die gerade erklärt hat, dass sie ihm trotz seiner Tat bis ans Ende der Welt folgen will. Sie hat aber nicht erwartet, dass sie ihm nun ausgerechnet ins Casino folgen soll. Hermann ruft aus, er kenne sie nicht, und sie tötet sich. Im Casino stechen die ersten zwei Karten, bei der dritten unterläuft ihm ein Versehen, sodass er alles wieder verliert. Nun nimmt auch er sich das Leben.
Es ist ein Zug darin, der nicht weiter auffällt, weil er in den allermeisten anderen Opern des 19. Jahrhunderts auch vorkommt: die ungute Dreieckskonstellation. Das von Hermann geliebte Mädchen muss sich erst einmal dazu durchringen, dass es ihren Verlobten verlässt. Bei Puschkin kommt der Verlobte gar nicht vor, wie auch Hermann und das Mädchen nicht sterben: Das hat der Librettist, Tschaikowskis Bruder Modest, hinzugefügt, um den Stoff dem Operngenre anzupassen. Eine Frau zwischen zwei Männern oder ein Mann zwischen zwei Frauen, darum geht es nämlich fast immer in diesen Opern.
Schon am Ende des 18. Jahrhunderts hatte Mozart, noch in Form der komischen Oper, durch seine Vertonung eines Dramas von Beaumarchais den Markstein gesetzt. In Figaros Hochzeit (1786) will der Graf Almaviva an der Zofe Susanna, der Verlobten seines Dieners Figaro, das „Recht der ersten Nacht“ ausüben, der aber macht ihm im Bündnis mit Almavivas Gemahlin Rosina einen Strich durch die Rechnung. Später erzählt Rossini im Barbier von Sevilla, das ist derselbe Figaro, die Vorgeschichte (1816): Almaviva und Figaro, die noch Freunde und viel jünger sind, entreißen Rosina durch komische List ihrem Vormund, der sie auch heiraten will. Zusammengenommen war das ein Stoff, der zur Französischen Revolution passte und so auch empfunden wurde. Dass dem Grafen ein Herrschaftsrecht verwehrt wurde, war die Hauptsache. Die Liebe war komisch und kein Problemgegenstand.
Ich weiß nicht, ob man in Sevilla, Rom oder Florenz noch heute auf Liebende mit beifälligem Lachen reagiert, in meiner Jugend habe ich es selbst noch erlebt. Auf der Opernbühne des 19. Jahrhunderts wurde die Liebe aber zur hochtragischen Angelegenheit und hörte auch auf, revolutionär zu sein. Ausnahmen bestätigen die Regel: Eine Aufführung der Stummen von Portici von Auber erregte 1830 das Publikum so stark, dass vom Opernsaal der Aufstand ausging, der zu Belgiens Unabhängigkeit führte. Auch in Verdis Opern geht es oft in maskierter Form um Italiens Staatswerdung. Der Aufstand, der zum neuen Staat führen soll, ist freilich nicht dasselbe wie die Revolution, die innerhalb einer Gesellschaft eine neue Ordnung derselben anstrebt. Er wird auch ganz anders artikuliert, mit staatlichem Ernst eben – das Schlachtfeld als „Altar des Vaterlands“ lässt grüßen –, daher tragisch und pathetisch.
Aber das Problem liegt tiefer. Verdis Opern handeln doch letztlich alle nur von der Eifersucht im Dreiecksverhältnis. Mag Otello eine Armada führen wie in der gleichnamigen Oper (1887), mag ein Bruder auftreten, der gegen den Willen der Schwester für deren „Ehre“ meint kämpfen zu dürfen wie in der Macht des Schicksals (1869), gleichviel. Dem Publikum stellt es sich als Nebensache dar. Die Brisanz der Eifersucht wird dadurch, dass der Eifersüchtige irgendwelche Machthebel, über die er verfügt, auch einsetzt, nur gesteigert. Das ist noch in Puccinis Tosca (1902) der Fall, wo ein Polizeichef seinen Rivalen foltern lässt, um dessen Geliebte zu erpressen. Manchmal wird auch dargestellt, dass der Mächtige, der das Nachsehen hat, seine Machtmittel gerade nicht einsetzt – so der König Marke in Wagners Tristan und Isolde (1865) –, und auch das ändert nichts. Wagners Oper ist der Höhepunkt einer totalen Privatisierung, in der die Liebe nur noch um sich selbst kreist. Darin aber zeigt sich das Ideologische der hier skizzierten Opernmythologie.
Zunächst in dem Sinn, dass sie etwas verbirgt und verklärt, was der bürgerlichen Gesellschaft auf der Höhe ihres Selbstbewusstseins höchst unangenehm ist. Sie sonnt sich nämlich noch in der Losung „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“, weiß aber genau, dass in Wahrheit das Proletariat, die gesellschaftliche Mehrheit, von ihr ausgegrenzt wird. Daraus wird in den Dreiecksgeschichten eine traurige Evidenz: Einer oder eine ist eben immer zu viel. Im 20. Jahrhundert kann Kafka sarkastisch auf den Schmarrn reagieren („Wir sind fünf Freunde, wir sind einmal hintereinander aus einem Haus gekommen ... es wäre ein friedliches Leben, wenn sich nicht immerfort ein sechster einmischen würde“), im 19. bedauert man noch die eigene Sünde, das Privateigentum nicht teilen zu wollen.
Verdi & Co. waren big in Japan
Denn darum geht es: Wer von zwei Männern kann eine Frau zum Eigentum machen, oder wer von zwei Frauen darf es werden? Vor diesem Hintergrund erscheint übrigens Carmen von Bizet (1875) als Revolutionsoper, die sehr verschlüsselt an den Aufstand der Pariser Commune 1871 erinnert. Carmen verkörpert die anarchistische Losung, Eigentum sei Diebstahl. Die Urfassung ihrer berühmten Habañera beginnt mit den Worten „Die Liebe ist ein Rebell“.
Das Zweite, was sich zeigt, ist noch wichtiger. Eine Liebe, die nur privat um sich selbst kreist, wozu es aber gerade passt, dass Heerführer oder Könige am Rand noch irgendwie mitspielen – woran erinnert das denn? An die Struktur des kapitalistischen Geldes, das im 19. Jahrhundert die globale Herrschaft antritt. Von diesem Geld hat Marx gesagt, es sei zum „wahren Gemeinwesen“ geworden. Das Gemeinwesen als Anhängsel, eben das spiegelt sich in einer Privatliebe wider, der die politischen Hebel so gleichgültig sind, dass sie in ihr verheizt werden können. Kein Wunder, dass die Oper, die solche Liebe feiert, um 1830 an der Spitze der künstlerischen Hierarchie steht, wie Osterhammel berichtet. Und auch nicht, dass sie im Zuge der Kolonialisierung, des Imperialismus Weltgeltung erlangt. Sogar im Osmanischen Reich und in Japan schwärmt man von europäischen Opern. Man kann sagen, die Oper war das Hollywood des 19. Jahrhunderts. Es wurde ja auch gesagt – von Adorno –, Wagners Opern seien eigentlich schon die Frühform des Kinos gewesen.
Für Tschaikowski hatte Adorno nichts übrig. Er hielt dessen Kunst für „Kulturindustrie“. In Wahrheit ist Pique Dame aber die einzige Oper, die das Verhängnis der bürgerlichen Gesellschaft offen ausspricht. Auch Wagners Ring des Nibelungen spricht sie aus, aber nicht offen. Man kann nachvollziehen, dass Tschaikowski den Ring als „so unendliche und so langweilige Faselei“ empfand, „wie es noch nie eine gegeben hat“. In Pique Dame hingegen liegt klar zutage, worum es geht. Es ist hier ganz nebensächlich geworden, dass eine Frau zwischen zwei Männern steht. Viel wichtiger ist, dass der Mann, den sie liebt, seinerseits zwischen ihr und dem Geld steht. Und dass das Geld gewinnt. Puschkins Novelle hat sicher von Balzac profitiert, der immerzu darstellt, wie die französische Gesellschaft vor 1830 vom Geld auf den Kopf gestellt wird. Am Ende des Jahrhunderts, als sich auch in Russland eine Großbourgeoisie bildet, nimmt sich ein Komponist des Themas an. Man gewinnt den Eindruck, dass nicht nur die französische Kultur, sondern auch die russische moderner war als die deutsche.
Tschaikowskis Musik ist dem Stoff kongenial. Die Melodie, die Hermanns Trennung von der liebenden Frau begleitet, ist nicht nur furchtbar traurig, sondern trägt auch die Farben und das Gepräge einer Nationalhymne. Sie ähnelt der Hymne in Verdis Aida (1871), die der Pharao anstimmt, um zum militärischen Widerstand gegen das angreifende Nachbarland anzufeuern. Wir hören das Geld in der Perspektive derer, die es vernichtet. Der späteren „atonalen“ Musik ist keine bessere Artikulation eingefallen.
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