Der erste Linke, der Michail Gorbatschows Machtübernahme begrüßte, war Rudolf Bahro im März 1985. Schon Anfang 1986 bezeichnete er ihn in einem Artikel der taz – anspielend auf Niccolò Machiavellis Buch Il principe (um 1513) – als den neuen Fürsten, der von der Spitze des sowjetischen Machtsystems aus alles zum Besseren wenden werde. Ein halbes Jahrhundert zuvor hatte Antonio Gramsci dasselbe Buch auf die kommunistische Partei bezogen. Die Anwendung auf eine einzelne Person, hinter der, wie sich herausstellen sollte, nicht einmal eine Parteiströmung stand, war kaum realistisch gedacht.
Für die westdeutsche und Westberliner Linke war Gorbatschows auf demokratische Erneuerung gerichtete Politik zweifellos eine Hilfe. Der Antikommunismus, der
fe. Der Antikommunismus, der seit 1972 zu einer Welle von Berufsverboten im öffentlichen Dienst gegen „Radikale“ – und damit waren Linke gemeint – geführt hatte, war durch Gorbatschows „Perestroika“ und „Glasnost“ eine wesentliche Grundlage entzogen worden. Denn damals hatte Leonid Breschnew in Moskau regiert, der Mann, unter dessen oberster Führung der Prager Frühling 1968 erstickt worden war.Jetzt regierte Gorbatschow, der sich von diesem Ereignis distanzierte und jedem Staat im Ostblock ein Recht auf den selbstgewählten Weg zusprach. Da Helmut Kohl, Bundeskanzler während Gorbatschows Amtszeit, in dessen neuer Doktrin die Chance zur Beendigung der Eigenstaatlichkeit der DDR sah, bereitete er ihm nach anfänglich bösen Worten im Juni 1989 einen freundlichen Empfang in Bonn und nahm hin, dass die Bürger und Bürgerinnen ihm geradezu begeistert zujubelten.Das waren keineswegs nur oder vorwiegend Linke. Umgekehrt waren aber durchaus nicht alle Linken auf Gorbatschow gut zu sprechen. Von einem geschwächten Antikommunismus in Gestalt eines geschwächten Antisowjetismus hätten ja zuerst die moskauorientierten Parteien profitieren können, also die westdeutsche DKP und die Westberliner SEW. Die führenden Genossen dieser Parteien waren aber überhaupt nicht bereit, sich von Gorbatschow helfen zu lassen. Ihre auch finanzielle Abhängigkeit von der Staatspartei in der DDR ließ das auch gar nicht zu. In der DKP entstand zwar eine an Gorbatschow orientierte Opposition, der aber – da sie gegen die Machtstrukturen in der Partei nichts ausrichten konnte – nichts als der Parteiaustritt blieb. Immerhin blieb dann diese Zersetzung nicht folgenlos, wie man etwa an Franz Sommerfeld sehen konnte, der das DKP-nahe Wochenblatt Volkszeitung geleitet hatte, dann aber, 1990, zu den Mitbegründern des Freitag gehörte. Der Parteivorstand der SEW hatte sich immerhin im Juni 1989 gegen die Niederschlagung der chinesischen Reformbewegung auf dem Tian’anmen-Platz gewandt, nahm das aber schon im Juli wieder zurück, nachdem die SED Druck auf ihn ausgeübt hatte.Dritter Weg?Die DKP und die SEW spielten aber zu diesem Zeitpunkt in der Westlinken insgesamt längst keine Rolle mehr. Es gab seit Anfang der 1980er „Die Grünen“, die auf Anhieb zur Bundestagspartei geworden waren, obwohl in ihrer Führung Marxisten dominierten. Diese Partei und ihr von Anfang an beträchtlicher öffentlicher Einfluss war gegen den Antikommunismus so immun, wie es vorher die 68er-Bewegung gewesen war. Sie ist freilich auch nie moskauorientiert gewesen. Es war klar, dass sie Gorbatschow begrüßte. Dessen Sturz Ende 1991 und der Umstand, dass er die Sowjetunion mit in den Abgrund riss, dürften dazu beigetragen haben, dass der Marxismus bei den Grünen seitdem keine Rolle mehr spielte, auch nicht auf dem linken Flügel.Zwischen den moskauorientierten Parteien und allen anderen Linken, die sich in der Bundesrepublik zur Gorbatschow-Zeit praktisch größtenteils bei den Grünen befanden oder sie wählten, hatten während der Gründungszeit noch die Eurokommunisten gestanden. Sie hatten sich schon ein paar Jahre vor Gorbatschows Zeit zu fragen begonnen, wie ein demokratischer Kommunismus aussehen könnte. Das waren kleine Gruppen ohne politische Bedeutung, aber ihre Existenz und ihr Verhalten illustrieren das unlösbare Problem, vor dem Gorbatschow stand.Er hatte wirklich keine andere Wahl als die, entweder beim Autoritarismus der KPdSU-Herrschaft zu bleiben – auch der Herrschaft der Sowjetunion über die Warschauer-Pakt-Staaten – oder einen Umbau in Richtung demokratische Wahlen und nationale Selbstbestimmung zu versuchen. Denn einen „Dritten Weg“ schlug niemand vor, es gab ihn in Europa nicht. Und da die Sowjetunion westliche Wirtschaftshilfe brauchte, musste sich Gorbatschow gegen den Autoritarismus entscheiden. Ein „Dritter Weg“ hätte nur im Versuch, die sowjetische Militärkraft zu aktivieren, bestehen können. Der linke Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger nannte Gorbatschow einen „Helden des Rückzugs“, weil der für überfällige Reformen den Preis des Machtverlusts, seiner selbst und seines Landes, zahlte. Unter einem Rückzug stellt man sich einen geordneten Rückzug vor; der gelang aber nicht. Ein Held war Gorbatschow insofern, als er den Weltfrieden wahrte.