Die Macht der Phantasie

Kein Ende der Debatte Von einer Zukunft, die längst auf der Agenda steht, verschiedenen Lesarten des Kapitals und der Begeisterung des Herrn Uljanow für ein Fortbewegungsmittel, das heute längst nicht mehr "modern" ist - Schlussbemerkungen zur Serie "Welche Zukunft hat der Kapitalismus?"

Eine Debatte ist gut gelaufen, wenn sie die Standpunkte vereinigt, sie ist noch besser gelaufen, wenn sie Probleme sichtbarer werden lässt. Unsere Serie stellt sich im Nachhinein als implizite Debatte dar. Die Ausgangsfrage sei noch einmal zitiert: "Unter dem Eindruck der Bankenkrise fragen selbst konservative Medien, ob die vorhandene Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung noch tragbar ist. Aber was wäre die Alternative? Brauchen wir einen Neuanfang diesseits oder jenseits des Kapitalismus?" Lässt man die neun Antworten Revue passieren, werden tatsächlich Probleme sichtbarer. Zwei davon sollen hier hervorgehoben werden. Das erste zeigt sich an jener Schwelle "diesseits oder jenseits", über die man heute kaum noch hinauszublicken wagt, anders als noch vor ein paar Jahrzehnten. Das zweite wird zwar nur von einer Autorin der Serie benannt, ist aber ebenso bedeutsam: "Auch das beste soziale Programm", schreibt Sabine Kebir, "erreicht nur die wenigsten Herzen und Hirne, wenn die anderen Lebensbereiche unberücksichtigt bleiben." Wirkungsmächtig können Programme nämlich nur sein, wenn es auch eine Kultur gibt, die sie trägt.

Wir beginnen bei den "Programmen" unserer Autoren. Sie sind durchweg in ausführlicher Krisenanalyse verankert und schon deshalb nicht zu großen Sprüngen aufgelegt. Realismus geht vor. Die meisten Alternativvorschläge antizipieren ein Szenario im weiterlaufenden Kapitalismus selber: Es geht weiter darum, seine derzeitige Sonderordnung zu bekämpfen, den Neoliberalismus, dessen Herrschaft ja noch ganz ungebrochen ist. Dass die Finanzmärkte nicht so unreguliert bleiben, wie sie es jetzt noch sind, nehmen alle an. Aber die Deregulation anderer Märkte bleibt bestehen und an den sonstigen Merkmalen von Neoliberalismus, die Mohssen Massarrat benannt hat, "Flexibilisierung", "Privatisierung", rüttelt die Politik überhaupt nicht.

Deshalb ist es nur realistisch, wenn die Autoren der Serie oft an eine Zukunft erinnern, die längst auf der Agenda steht (oder stehen sollte): Die Kulturetats der Länder und Kommunen müssen ausgeweitet statt "eingedampft" werden, schreibt Kebir, damit die "Selbstorganisation des Lokalen" unter Einbeziehung der Migranten gelingt; Massarrat will "zu einer fairen Teilung der Arbeit durch Arbeitszeitverkürzung, zu einem Existenz sichernden Einkommen ohne entwürdigende Kontrollen und zu ­einem gesetzlichen Mindestlohn" gelangen; Michael Krätke sieht den "Sektor der alternativen, solidarischen, selbstverwalteten Öko­nomie wachsen"; Rainer Land propagiert Ernst-Ulrich von Weizsäckers "Faktor vier: doppelter Wohlstand, halbierter Naturverbrauch".

Bis an die Grenze des Kapitalismus wagen sich Hans Thie, Georg Fülberth und Raoul Zelik vor. Thie macht zwar keine konkreten Vorschläge, aber er spricht lange von Marx´ Hauptwerk Das Kapital, das wieder viel gelesen wird (in der Tat lag es sogar als mögliches Weihnachtsgeschenk im Kulturkaufhaus Dussmann aus); der Vorschlag, sich an dieser Lektüre zu beteiligen, ist sicher einer der besten. Wie schon der Name sagt, ist "Neoliberalismus" der Rückgriff und die Umakzentuierung einer Lehre des 18. Jahrhunderts: Warum sollte es nicht fruchtbar sein, auch die konkurrierende Lehre des 19. Jahrhunderts, eben den Marxismus, noch einmal zu prüfen?

Aber das wäre nicht nur eine Anfrage an solche, die sich mit Marx bisher nicht befassen wollten. Es muss schon auch eine Selbstprüfung derer, die Marx kennen, damit verbunden sein. Denn er wird bisher ganz unterschiedlich verstanden. Und da verschiedenes Verstehen zu verschiedener Politik führt, ist das keine bloß akademische Frage. Nehmen wir die Beiträge von Fülberth und Zelik. Fülberth meint, es müssten erst einmal die "materiellen Existenzbedingungen" der neuen Gesellschaft sichtbar werden, bevor man um sie streiten könne. Er polemisiert gegen die Absicht, den Kapitalismus zu einer dienenden Produktionsweise herabzustufen, worunter er sich dessen "Einordnung in ihm scheinbar übergeordnete politische Ziele" vorstellt: Dergleichen sei ja schon in den Weltkriegen praktiziert worden. Zelik jedoch kann heute schon für eine neue Ökonomie der "Effizienzermittlung und Innovation" plädieren, in der die Allokation der Güter nicht zentral vorausgedacht wird wie im Realsozialismus, sondern "sowohl durch Vorausplanung als auch durch ex post ermittelte Kosten-Nutzen-Rechnungen" zustande kommt.

Dem entsprechen nun die Kapitaldefinitionen. Für Fülberth ist Kapital G-W-G´, also die Strategie, Geld für Ware auszugeben mit dem Ziel, beim Wiederverkauf der Ware zusätzliches Geld zu erlangen. Für Zelik ist Kapital der Zwang zum "Akkumulieren", also dazu, jedes derart zusätzlich erlangte Geld selbst wieder genauso zu verwenden, also von G-W-G´ automatisch zu G´-W-G´´, G´´-W-G´´´ und so ins Unendliche weiterzuschreiten. Man kann sicher nicht sagen, dass dies ein Gegensatz sei oder dass die Autoren verschiedene Ansichten äußerten, denn auch Fülberth weiß, dass in der Formel G-W-G´ die unendliche Wiederholung mitgedacht sein muss, um als Formel des Kapitals gelten zu können; Marx sagt es deutlich genug.

Aber eine andere Akzentsetzung ist mit seiner Formulierung schon verbunden. G-W-G´ wirft die Frage auf, was denn die Herkunft des Geldzuwachses sein kann. Auch hier ist Marx´ Antwort bekannt: Dieser "Mehrwert" wandert in die Tasche des Warenverkäufers, obwohl ihn nur die Produzenten der Ware erwirtschaftet haben. Das legt nun aber die Vorstellung nahe, "Kapitalismus" bedeute so viel wie "Ausbeutung der warenproduzierenden Arbeiter". Was ja auch stimmt - wenn hinzugefügt wird, dass es seit der Entstehung des Staates überhaupt noch nie eine Produktionsweise gab, in der die unmittelbaren Produzenten den Mehrwert beziehungsweise das Mehrprodukt behalten hätten. Dies vorausgesetzt, kommt man jedenfalls zu der Einsicht, die man bei Fülberth lesen kann: dass sich am Kapitalismus nichts Wesentliches ändert, wenn er einer Politik untergeordnet wird und ihr dienen muss.

Wird Kapitalismus hingegen als eine Welt von Kapitalen mit dem Zwang zur unendlichen Akkumulation gefasst, dann ist er gebrochen, sobald dieser Zwang gebrochen ist. Dann aber ist die Möglichkeit der postkapitalistischen Gesellschaft schon heute so offenkundig vorhanden, dass fast schon jedes Kind davon weiß: Denn wer hätte noch nichts davon gehört, dass die Grenzenlosigkeit des Wachstums unseren Planeten gefährdet? Wer sieht nicht mit an, dass man deshalb schon hier und da diese und jene kleine Grenze zu errichten versucht? Es gelingt noch nicht wegen der politischen Macht des Kapitals; aber ökonomisch wären Akkumulationsgrenzen möglich, und man könnte sie sofort zum politischen Programm mit Massenunterstützung machen.

Nehmen wir eine Gesellschaft an, in der dieses Programm durchgesetzt wäre. Hier gäbe es immer noch Unternehmen, die der Logik von G-W-G´ folgten. Aber Kapital im Marxschen Sinn wären sie nicht mehr, denn mit G-W-G´ wäre kein Akkumulationszwang mehr verbunden. Es wäre lediglich ein Zeichen dafür, dass man nur mit "schwarzen Zahlen", nicht mit "roten", den Wertverlust eines Unternehmens aufhält. Mit dem zusätzlichen Geld hat man einen Reservefonds für Notfälle. Ansonsten dehnt man die Produktion genau dann aus, wenn die Gesellschaft es aus hoffentlich guten Gründen so will. Und damit hätten wir ein der Politik dienendes freies Unternehmertum. Wir hätten Geld, Waren, auch Mehrwert - womit noch nicht gesagt ist, wer über dessen Verwendung entscheidet und ob dies rechtsstaatlich geschieht oder nicht -, aber keine herrschende kapitalistische Produktionsweise mehr.

Die Rechtsstaatlichkeit darf nicht vergessen werden. Hans-Peter Waldrich gibt einen Hinweis: Es hat doch schon in der Weimarer Verfassung ein "Reichswirtschaftsrat" gestanden, und das Grundgesetz sieht die Sozialpflichtigkeit des Eigentums vor.

Könnte es sein, dass viele Versuche von Linken, sich eine postkapitalistische Gesellschaft vorzustellen, an der Kapitaldefinition gestrandet sind? Es gibt bislang nur wenige, die Marx mit der Akzentsetzung von Zelik lesen. Dass anderen, die nach einer Gesellschaft ohne Geld und Waren fragen, keine Phantasie auf die Sprünge hilft, ist eigentlich kein Wunder. Umgekehrt denken fast alle, die an der Notwendigkeit von Märkten nicht zweifeln, dass sie sich damit für den Kapitalismus entschieden haben, und machen nur noch Vorschläge in seinem Horizont.

Doch nun die andere Frage: Wie erreichen wie die Herzen und Hirne? Mit welcher Kultur? Zur Kultur gehört auch die Konsumkultur. Das ist nur eine Seite der Sache, aber hier zeigt sich ein weiteres Problem. Es geht nämlich nicht nur darum, eine Kultur zu erfinden oder wieder zu erwecken, die unser Programm tragen könnte, sondern man muss mit der Kultur anfangen, die immer schon da ist und mit der wir glücklich oder unglücklich sind. Thomas Rothschild, der sich gegen "Konsumkonventionen" wendet, ist nicht glücklich: "Und die Werbung bestätigt den Anspruch. Wer die richtigen Klamotten kauft, ist im Recht." Die Frage ist, wie man auf das Unglück reagieren soll. Konventionen, was immer man von ihnen hält, sind der Auseinandersetzung zugänglich. Sie sind eine Sprache. Wenn sogar "das Rohe und das Gekochte" eine Sprache ist, wie Claude Lévi-Strauss nachgewiesen hat, wie sollten es nicht auch die Klamotten sein? Wenn wir uns an die Konvention des Kochens halten, weil sie gut ist, dann kann auch eine Klamotten-Konvention nur dann falsch sein, wenn wir Gründe gegen sie haben.

Hier wird es aber erst interessant, denn wenn es um Klamotten geht, argumentiert man nicht mit verbalen Gründen, sondern mit "Geschmack": indem man bessere Klamotten auswählt oder welche vorschlägt, die es noch gar nicht gibt, oder sie anfertigt. Es kann auch einen Streit darüber geben, welche Konsumdinge es wert sind, als Sprache wichtig genommen zu werden, so dass man gerade sie benutzt, um eine Innovation vorzuschlagen oder um der Gestalt zuzustimmen, die sie schon haben. So oder so, auf diese Weise werden hier "die Herzen und Hirne erreicht" - dadurch, dass man die Phantasie an die Macht bringt. Man denke nur an die Innovationen der Popmusik um 1968 herum, die mit einem "Konsumismus" brachen, um einen neuen zu beginnen. Sie begründeten eine Konvention und schmeckten nach Revolte. Das ist doch wie im Streit um Ökonomie und Politik: Auch dort stoßen wir auf Konventionen und lassen uns auf sie ein, verbal in diesem Fall, weisen Fehler nach und schlagen bessere Konventionen vor.

Konsumwelt und politische Kommunikation sind aber nicht nur vergleichbar, sie sind an einem entscheidenden Punkt direkt dasselbe. Es gibt konsumistische Grundentscheidungen, die nicht bloß private Bedeutung haben und sich oft auch nicht aus Privatbedürfnissen entwickelt haben. Man nehme das Auto mit seiner ökologischen Schadensbilanz: Als es erfunden wurde, stieß es nicht sofort auf Massenbegeisterung, denn die Massen lebten in einer Pferdekultur; zu begeistern war andererseits nicht schwer, man konnte zum Beispiel die traditionellen Pferderennen durch eine Rennwagen-Rallye ergänzen. So geschah es am Anfang des 20. Jahrhunderts in der Nähe von Paris und war faszinierend genug, um auch einen Herrn Uljanow anzulocken, später Lenin genannt, der damals dort im Exil lebte. Er wollte "modern" sein, und das Auto war "modern". Heute begeistert es nicht mehr so sehr; man spricht von den Schäden, die es verursacht. Aber man tut es ökonomisch und politisch, auch chemisch (Schadstoffbilanz) - nicht kulturell.

Und so erreicht man tatsächlich "nur die wenigsten Herzen und Hirne". Das Elek-troauto wird gefordert: Man begreift warum, aber es ist eine trockene Debatte. Eine andere Mobilitätskultur wird so nicht erreicht. Es müsste wieder laufen wie damals bei Paris, als plötzlich die Pferderennen Konkurrenz bekamen und von einem anderen sinnlichen Event in den Schatten gestellt wurden.

Der digitale Freitag

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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